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Bosnien im Mittelpunkt

Seit der Schriftsteller und Professor für Dramaturgie Dževad Karahasan 1993 widerstrebend aus dem belagerten Sarajewo floh, reist er mit jedem seiner Bücher dorthin zurück. Die bosnische Heimatstadt und ihre Kultur der spannungsreichen ethnischen Vielfalt lebt in seiner Prosa weiter. Die Erzählungen seines neuen Buches "Berichte aus der dunklen Welt" verbinden das Nachkriegsbosnien mit der europäischen Gewalt der letzten zwei Jahrhunderte.

Von Jörg Plath | 28.03.2007
    Im vierten und letzten Bericht streiten sich drei Freunde in einer Kneipe in Sarajewo, gestört von UN-Angestellten, die sich wie üblich unangenehm laut gebärden, über das Ausmaß des Hasses zwischen Menschen und Religionsgemeinschaften im Land. Sie erzählen sich Geschichten, die aus der Gegenwart in das 9. Jahrhundert und dann in das 19. Jahrhundert führen: Damals verliebte sich ein grausamer Wesir in einen Elefanten. Enes, einer der Freunde, lief als Kind immer am Grab des Wesirs in seiner Heimatstadt vorbei, und er erzählt, wie er in Istanbul alles über dessen verzehrende Liebe zu dem Elefanten Findžan in Erfahrung bringt, bis ihm der osmanische Okkupant und Henker der bosnischen Intelligenz beinahe sympathisch ist:

    "Er vernachlässigte die Staatsgeschäfte völlig, als wären Bosnien, das Reich und er selbst ein hoffnungsloser Fall. ( ... ) Dafür redete er stundenlang mit Findžan. Sie hörten ihn, das ist belegt, wie er Mevlana Rumis Fabel vom Elefanten und dem Blinden rezitierte und dem Tier anschließend erklärte: Der Elefant - also auch er, Findžan - sei die Welt und eine Ganzheit und deswegen müsse er sich Mühe geben, noch ein bisschen hierzubleiben. / Die Distanz zwischen ihm und dem Elefanten schmolz sichtlich dahin."

    Die anderen "Berichte aus der dunklen Welt" konzentrieren sich auf das 20. Jahrhundert: Der dritte erzählt von dem Serben, der 1914 aus Hass auf den Vielvölkerstaat den österreichischen Thronfolger in Sarajewo ermordete und den ersten Weltkrieg auslöste. Davor ist im zweiten Bericht die Rede von dem Wunsch eines jungen Mannes, im belagerten Sarajewo durch den Tod erlöst zu werden, und im ersten von der Depression eines Kriegsflüchtlings in Italien. Wie ein ins Wasser geworfener Stein ziehen die Erzählungen immer weitere Kreise und verwandeln immer größere Bezirke der Vergangenheit in Vorgeschichte: aus den Neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, aus der Nachkriegszeit, fällt der Blick zurück und streift in den Lebensgeschichten den Aufbau des jugoslawischen Sozialismus, den Spanischen Bürgerkrieg, die KZs der Nationalsozialisten, den Ersten Weltkrieg, die österreichische und die osmanische Herrschaft. Im Mittelpunkt all dieser mit leichter Hand erzählten Ereignisse aber, dort, wo der Stein aufs Wasser trifft, liegt Bosnien. Das ganz und gar unwichtige Land ist winzig - und enthält die Welt.

    Das ist natürlich eine dunkel-mystische Vorstellung, und Karahasan, der inzwischen in Graz wohnt und einige Wochen im Jahr an der Universität Sarajewos unterrichtet, trägt sie mit leuchtender Überzeugungskraft und ziemlicher Gerissenheit vor. Im "Nachwort", einem Essay, der die vier Berichte kommentiert, schreibt er, "dunkle Welt" sei eine häufige metaphorische Bezeichnung für Bosnien und zugleich für den geheimnisvollen Ort der eleusinischen Mysterien oder den von Parzifal gesuchten Gral. Diesen Zwischenwelten gliche Bosnien:

    "Woher dieser Überschuss an Sinn und diesen betonten Mangel an Wirklichkeit? Wie soll man das erklären, wenn nicht mit der Prämisse, dass die dunkle Welt eben doch kein halbmythischer Begriff der alten Kulturen ist, sondern etwas real Gegebenes, eine innere Welt, die Bosnien als ihre materielle Widerspiegelung zum Vorschein bringt?"

    Bosnien sei das "sichtbare Abbild des unsichtbaren Herzens der Welt". Alle äußere und alle innere Welt laufe hier zusammen. Ob das stimme, könne natürlich niemand entscheiden, schränkt Karahasan ein. Seine "Berichte", die ausschließlich von wahren Ereignissen und den Schicksalen realer Menschen erzählten, seien nur Versuche, "schemenhafte Hinweise" für eine Antwort zu geben.

    Selten hat sich Karahasan klarer über seine Poetik geäußert. Das zerstörte Bosnien ist in ihr zum dunklen, undurchdringlichen Hintergrund geworden, aus dem der Künstler seine Gestalten und Geschichten formt. Dem melancholischen Metaphysiker wird ein ganzes Land zur leitenden Idee. Kein Wunder, dass Karahasans Prosa, dieses Kind des ethnischen Hasses und seiner Folgen, obsessiv um jedwede Art von Beziehung zwischen Menschen kreist (und dabei - bis auf zwei, drei Ausnahmen - glücklich Sentiment und Pathos vermeidet). Erstaunlich aber, dass die von ihm erzählten Geschichten ebensolche Beziehungen zueinander zu unterhalten scheinen. Enes' Erzählung von dem grausamen Wesir wirkt im Konzert der anderen zwei Geschichten im vierten Bericht wie eine Antwort, eine Frage oder eine Bemerkung. Worauf, wofür, wozu? Das lässt sich nur mit Blick auf die anderen Geschichten entscheiden - und mit einem jener Blicke in die dunkle Welt, wie sie dieses leicht wirkende und ungemein suggestive Buch von Dževad Karahasan erlauben will.