Mittwoch, 08. Mai 2024

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Bosnien vor der Wahl:

Du hast die Wahl, fass dein Glück, es steht neben dir - das Wahllied ist derzeit in Bosnien-Herzegowina populär, die Wahlen morgen, am 11. November, sind es weniger. Die Bosnier sind wahlmüde, denn seit dem Friedensvertrag von Dayton, vor genau fünf Jahren geschlossen, wurde jedes Jahr gewählt. Das lag an den komplizierten Scheidungen von Dayton: Es gibt eine integrale Republik Bosnien-Herzegowina, aufgeteilt in zwei Entitäten, nämlich die Republika Srpska im Norden und Osten und die Bosnisch-kroatische Föderation im Zentrum und im Süden. Letztere zerfällt in zehn Kantone, zu denen noch international kontrollierte Sonderregionen kommen. Entsprechend bunt sehen jetzt die Wahlzettel aus.

Wolf Oschlies | 10.11.2000
    Zur Wahl stehen - nach strengem Verhältniswahlrecht - das Parlament Bosnien-Herzegowinas, die Parlamente der Föderation und der Republika Srpska, die Parlamente der Kantone und das Parlament von Srebrenica. Dazu noch Präsident und Vize-Präsident der Republika Srpska, wofür ein Präferenzial-System gilt: Die Wähler wählen nicht einfach - sie markieren auf der Kandidatenliste, wer als erster, zweiter etc. einlaufen sollte: Präferenz heißt eben Bevorzugung.

    Proportionalität und Präferenzialsystem sollen eine ethnisch ausgewogene Repräsentanz in den Parlamenten schaffen, hofft die OSZE unter Botschafter Robert Barry, die diese Gesetze federführend gestaltete. Die Zeit scheint günstig: Kroaten und Serben haben im Januar und September für radikale Systemwechsel gestimmt, nachdem dort zuvor die kriegslüsternen Präsidenten Tudjman und Milosevic regierten, die vorhatten, Bosnien unter sich aufzuteilen. Und in Bosnien trat Präsident Alija Izetbegovic am 14. Oktober zurück - rechtzeitig vor den Wahlen, bei denen auch seine Politik der kleinen Erfolge und großen Versäumnisse auf dem Prüfstein steht. Niemand wusste das besser als er selbst:

    Alija Izetbegovic: Fünf Jahre sind seit Dayton vergangen, und heute können wir sagen, dass wir in seiner Implementierung auf gutem Weg gehen, jedoch zu langsam. Wegen dieser Langsamkeit können viele nicht in ihre Heimat zurückkehren, kämpfen viele Rentner, Invaliden und Arbeitslose um ihre Existenz und suchen viele Jugendliche ihre Zukunft im entwickelten Ausland. Vor uns liegen die dritten Nachkriegswahlen, die Umsetzung des Urteils des Verfassungsgerichts zur Konstitutivität der drei Völker in ganz Bosnien-Herzegowina, die beschleunigte Privatisierung und der Zugang zu euroatlantischen Integrationen.

    Izetbegovic war nie mit Tudjman und Milosevic zu vergleichen, aber für Bosniens Zukunft taugte der 75jährige nicht mehr, wie er in seiner Abschiedsrede andeutete: Im Sommer hatte das Verfassungsgericht der schleichenden ethnischen Fragmentierung Bosniens einen Riegel vorgeschoben, als es die verfassungsrechtliche Gleichwertigkeit der drei Völker - Serben, Kroaten, Bosnier - in allen Landesteilen bestätigte. Das bedingte Verfassungs- und Wahlrechtsänderungen in allen Landesteilen, womit der überzeugte Muslim Izetbegovic überfordert war.

    Zurück bleibt ein Bosnien, das diplomatisch anerkannt ist und seinen UN-Sitz hat, dem aber ansonsten die Attribute eines Staates fehlen: Es hat kein homogenes Staatsvolk, keine funktionierenden gemeinsamen Staatsorgane, ein geteiltes Staatsgebiet, keine gemeinsame Hymne. Es hat auch keinen Staatsfeiertag - und diskutiert derzeit, ob es den 25. November, also den Tag der Unterzeichnung von Dayton, dazu machen soll.

    Erst kürzlich hat der Hohe UN-Repräsentant für Bosnien wenigstens den einheitlichen Pass für alle Bewohner durchgesetzt, aber viele andere Lebensbereiche sind noch geteilt. In Bosnien gibt es z.B. drei Armeen, drei Sozialversicherungs- und Bildungssysteme etc. Die 432 Grenzübergänge Bosniens werden erst seit diesem Sommer von einer eigenen und multi-ethnischen Grenzpolizei geschützt. Vor allem aber steht Bosnien nach den Umwälzungen in Kroatien und Serbien ohne Ausreden da, was ihm weder gefällt noch bekommt - sagt Branislav Lolic von der Serbischen Volksunion.

    Branislav Lolic: Weder Jugoslawien noch Kroatien sind heute noch unsere Feinde. Der einzige Feind, den die Völker Bosnien-Herzegowinas auf der Welt noch haben, sind sie selber untereinander.

    Bosnien muss sich (und anderen) eingestehen, dass das Gros seiner Entwicklungshemmnisse hausgemacht ist und auch nur aus eigener Kraft beseitigt werden kann. Dieses Eingeständnis ist bitter, und selbstkritische Bitternis charakterisiert dann auch die Wahlvorbereitung. Von einem Wahl kampf hatte sie kaum etwas an sich. Was gab es noch zu kämpfen, wenn das Elend allgemein, dessen Ursachen und Auswege jedem bekannt sind?

    Branko Dokic: Für einen Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit, in der Bosnien eindeutig steckt, brauchen wir neue Leute in der Politik, die unbelastet von der Vergangenheit und von Korruption sind, nicht verblendet von der Macht und der eigenen Rolle - Leute, die europäische Normen im Bereich des Rechts, der Wirtschaft und der politischen Demokratie durchsetzen wollen. Ausgangspunkt dessen sind die Grundprinzipien des Dayton-Abkommens, und wer die verlässt, vergrößert die Hoffnungslosigkeit in Bosnien.

    So Branko Dokic von der serbischen Partei des demokratischen Fortschritts. Im Grunde hat ihm nie jemand widersprochen, weil jeder weiß, was international von Bosnien erwartet wird und wie wenig Bosnien dem entspricht. Deswegen musste es seine Hoffnung auf eine schnelle Aufnahme in den Europarat begraben. Erste und drängendste Forderung der internationalen Gemeinschaft ist, dass das Land endlich seine zentralen Institutionen wie Staatsregierung und Nationalbank stärkt. Wie es aber in der Realität aussieht, sagte Rasim Kadic von der liberaldemokratischen Partei:

    Rasim Kadic: Wir haben 14 Parlamente, 14 Regierungen, 180 Minister, und unter allen Regierungen ist die Staatsregierung Bosnien-Herzegowinas die schwächste.

    Noch im Juni sah es nach Besserung aus, als mit dem Serben Spasoje Tusevljak ein neuer Regierungschef für die Republik Bosnien-Herzegowina antrat, der international bekannte Fachleute um sich scharte und die abträgliche Lokalisierung der Macht umkehren wollte. Aber was nach wenigen Monaten davon übrig blieb, weiß Kresimir Zubak, Parteichef der neuen kroatischen Initiative:

    Kresimir Zubak: Die Rhetorik hat sich geändert, in der Sache nichts. 90 Prozent der Beschlüsse der Regierung oder des Parlaments erfolgten allein unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft. Weil die Machthaber diametral verschiedene Vorstellungen von Bosnien haben und sich nie einigen werden. Man muss alle hinauswerfen, die sich in den Zentralinstitutionen nur als Repräsentanten ihrer Entitäten und Völker fühlen.

    Erst wenn die Wahlen das große Stühlerücken bringen, kann man erstmals von einer wirklichen Umsetzung des Dayton-Vertrags sprechen. In Dayton haben westliche Experten unter anderem eine gute demokratische Verfassung für Bosnien erarbeitet, während bosnische Politiker dort um Grenzen stritten und um Gebiete feilschten. Entsprechend sah der spätere Umgang mit dem Vertragswerk aus: Die Verfassung blieb auf dem Papier, die nationalistische Obstruktion ging in den Entitäten und Kantonen weiter. Damit konnte auch der zweiten internationalen Forderung an Bosnien nicht genügt werden, die Wirtschaft auf die Beine zu bringen. Wie man in Bosnien heute leben muss, sagte Kresimir Zubak in der ihm eigenen Deutlichkeit:

    Kresimir Zubak: Bosnien-Herzegowina ist in einem katastrophalen Zustand in jeder ökonomischen und sozialen Hinsicht. Heute gibt es 520.000 Arbeitslose, eine Durchschnittsrente sind 150 Mark, das Durchschnittseinkommen eines Beschäftigten 350 Mark. Für ein bescheidenes Leben benötigt eine vierköpfige Familie 600 Mark. Das Land braucht mindestens 15 Jahre, um wieder sein Niveau von 1990 zu erreichen.

    Oder länger, oder kürzer - je nachdem, wie rasch man die Wirtschaft als Kampffeld nationalistischer Obstruktion und bürokratischer Lähmung säubert und zudem die beiden Übel in den Griff bekommt, die die Wirtschaftsmisere so erdrückend machen. Das eine nannte der Demokrat Dokic:

    Branko Dokic: Die Ursache für die Wirtschaftsmisere und die ökonomische Hoffnungslosigkeit ist die verbreitete Korruption in beiden Entitäten, in die auch die Herrschaftsstrukturen in Sarajevo einbezogen sind.

    Das andere Übel ist die Lethargie der Politiker, die beispielsweise ausländische Investoren dadurch verschrecken, dass sie keine Katasterakten über Grundbesitz mehr führen, wie sie die Habsburger vor 120 Jahren in Bosnien eingeführt hatten. Wer wird schon investieren, wenn er keinen Quadratmeter Boden regulär kaufen kann? Das ist nur ein Beleg einer Wirtschaftspolitik ohne Reformbereitschaft und Innovationsgeist, unter der vor allem junge und qualifizierte Menschen leiden - wie Miodrag Deretic von der Serbischen Radikalen Partei rügte:

    Miodrag Deretic: In den fünf Jahren seit Dayton hat die herrschende Garnitur wenig oder nichts getan, in Bosnien eine Umgebung zu schaffen, in der junge Schulabgänger eine Anstellung finden. In der Republika Srpska haben wir heute 154.000 Arbeitslose, in der Föderation noch weit mehr. Um das zugunsten junger Menschen zu ändern, muss man vor allem die Wirtschaft fördern, und dafür sind wiederum Rechtsnormen zu schaffen, besonders für die Privatisierung, die entscheidend ist für die Zukunft.

    In Bosnien treten sich heute rund 40.000 Mitarbeiter von 460 humanitären Organisationen, SFOR-Stäben und andern auf die Füße, die allein in Sarajevo jährlich 720 Millionen D-Mark ausgeben. Davon lebt ein ganzes Land, dem dabei aber jede Eigeninitiative verloren geht. Dass mit den Wahlen ein Wandel samt Neubeginn mit dem Ausland initiiert werden kann, hofft Ibrahim Spahic und seine bosnische Bürgerpartei.

    Ibrahim Spahic: Der 11. November wird einen Neubeginn der europäischen Integration Bosniens bedeuten, aber auch seiner inneren Reintegration und damit eine neue Hoffnung für 500.000 Arbeitslose, was exakt der Zahl der Beschäftigten in Bosnien-Herzegowina entspricht.

    Die dritte Forderung der internationalen Gemeinschaft an Bosnien gilt der Rückkehr der Flüchtlinge. Vor dem Krieg hatte Bosnien 4,5 Millionen Einwohner, von denen nur eine Million nicht vertrieben wurden. Wie viele zurückgekehrt sind, weiß niemand genau, so dass in der Vorwahlzeit wilde Zahlen die Runde machten, beispielsweise von Ibrahim Spahic vorgerechnet:

    Ibrahim Spahic: Bis heute leben in Europa, Amerika, Afrika, Australien und Asien noch 707.905 bosnische Flüchtlinge, die von daheim vertrieben wurden; von denen haben 405.550 Asyl bekommen und noch über 300.000 warten auf Entscheidungen. In diesem Jahr hat es keine Massenrückkehr gegeben, wie immer behauptet wird.

    Andere bestritten diese Zahlen, nicht aber das Problem selber, das Haris Silajdzic - früher international angesehener Außenminister des Landes, heute Chef der Partei für Bosnien-Herzegowina - so auf den Punkt brachte:

    Haris Silajdzic: Die Rückkehr findet in Wirklichkeit nicht statt. Man sagt, sie habe Priorität, ebne unseren Weg nach Europa und so weiter, aber es passiert nichts, und da liegt das Grundproblem: Wollen wir da vorankommen oder nicht?

    Die Frage stellen heißt wohl, sie zu verneinen. Will jemand die Rückkehr aller Flüchtlinge? Vor einer Woche hat die Republika Srpska einen neuen Straftatbestand in ihre Gesetze aufgenommen: die absichtliche Zerstörung von Wohnraum, den der ursprüngliche Besitzer zurückfordert, wenn er nach Jahren der Vertreibung zurückkehrt. Diese alltägliche Gemeinheit spiegelt nur das wider, was politische Norm ist - sagt der serbische Radikale Deretic:

    Miodrag Deretic: Es ist doch, milde gesagt, äußerst heuchlerisch, wenn über den Annex 7 am meisten die Leute reden, die mit ihrer Politik nach 1990 dafür sorgten, dass es zu all dem Elend gekommen ist, zum klassischen Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina.

    Annex 7 ist der Dayton-Passus, der allen Flüchtlingen die sichere, ungehinderte Rückkehr an den Ort ihrer Wahl zusagt. Die Realität hat kürzlich das UN-Flüchtlingswerk (UNHCR) dokumentiert: Ende 1999 lebten in der Republika Srpska 2,17 Prozent Bosnier, in der Föderation 2,36 Prozent Serben. Die Abweisung von Rückkehrern trägt also auch zur ethnischen Abriegelung der Entitäten bei. Neue Leute sollen nach den Wahlen alte Prinzipien zur Geltung bringen: Dayton hatte auch bestimmt, dass da, wo eine Rückkehr nicht möglich ist, Entschädigung gezahlt oder Wohnungstausch vorgenommen werden sollen. Bislang wurden diese Möglichkeiten wegen Mangels an Geld oder Gesetzen ignoriert.

    Die nahezu allgemein geteilte Lehre aus der Wahlvorbereitung ist, dass man die Politiker auswechseln muss, nicht das politische System, dessen Basis Dayton ist. Dayton wurde nicht implementiert, weil zu viele kein integrales Bosnien wollten, weil zu viele Nationalparteien sich wie früher im Einparteien-System als allmächtige Inhaberin der führenden Rolle aufführten, weil zu viele Politiker vom Anschluss ihrer Region oder Entität an ein Nachbarland träumten - weil einfach die Norm war, dass man das eine dachte, das andere sagte und das dritte tat.

    Diesen Ungeist findet man noch überall. Die Frage z.B., ob das von der internationalen Truppe SFOR geschützte Bosnien eine gemeinsame Armee braucht, wird unterschiedlich beantwortet. Alojz Knezevic, Vertreter der Demokratischen Rentnerpartei, sagt Nein mit Blick auf die leeren Pensionsfonds. Und der Verteidigungsminister der Republika Srpska, Manojlo Milanovic, erklärte, seine Armee werde sich nicht mit der der bosnischen Förderation zusammenschließen und verweist darauf, dass bisher noch nicht einmal die Förderation eine einheitliche Armee habe - wie solle die sich denn mit der serbischen vereinen?

    So sieht zwar der Vertrag von Dayton eine einheitliche Armee für ganz Bosnien vor. In der Realität hält sich das Land aber drei, je eine bei Serben, Bosniern und Kroaten. Warum dieser martialische Unsinn? Die Antwort gab Sefik Dzaferovic von der muslimischen Partei der demokratischen Aktion (SDA):

    Sefik Dzaferovic: Bosnien kann nicht nur eine einheitliche Armee haben, es muss sie auch haben, wenn es sich in die euroatlantische Allianz integrieren will. Warum haben wir drei Armeen? Weil jeder Versuch, die zu vereinheitlichen, dazu führen würde, dass sie aufeinander losgehen. Wir müssen langsam vorgehen, Schritt für Schritt: zuerst die Kriegsverbrecher verhaften, dann die Völker versöhnen, ein gemeinsames Oberkommando und eine Armee in Bosnien-Herzegowina bilden: eine kleine, gut ausgebildete Berufsarmee, die das Budget nicht überlastet.

    Das alles sind nur Momentaufnahmen aus einem unglücklichen Land, in dem es mehr todbringende Minen als lebendige Einwohner gibt, das mehr medizinische Hochschulen als die Niederlande hat, aber keinen effizienten Gesundheitsdienst, das über ein Dutzend Hochschulen verfügt, aber eine Analphabetenrate von mindestens 30 Prozent aufweist, und in dem die Verzweiflung um sich greift: Bosnien verzeichnet derzeit die höchsten Selbstmordtaten der letzten 50 Jahre.

    Hat das Land eine Chance? Ja, sagen die, die nach der Wahl auf den großen Kehraus von unfähigen Politikern und untauglichen Konzepten hoffen. Das kann und muss gelingen, sagt Zivko Radisic von der Sozialistischen Partei der Republika Srpska, der derzeit das dreiköpfige Präsidium Bosniens anführt:

    Zivko Radisic: Fünf Jahre trennen uns von Dayton, Zeit genug, uns klar zu werden, was wir getan und was wir versäumt haben. Jahre des Misstrauens und der Obstruktion der Dayton-Bestimmungen liegen hinter uns, und mit Optimismus gehen wir in diese Wahlen.