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Botho Strauß' Flüchtlingskulturstreit
"Etwas problematisch zu finden, wird als rassistisch gebrandmarkt"

Botho Strauß habe in seiner Glosse im "Spiegel" nicht die Abwehr von Migranten thematisiert, sondern die Bedrohung der Nationalliteratur durch die Deutschen selbst, sagte der Schriftsteller Martin Mosebach im DLF. Die Stimmung in Deutschland sei so sehr auf Harmonie eingestellt, dass man das Gefühl einer eingeführten "Reichsbeschwichtigung" habe, sagte Mosebach.

Martin Mosebach im Gespräch mit Christopher Heinemann | 09.10.2015
    Der Schriftsteller Martin Mosebach am 13.03.2014 auf der Leipziger Buchmesse
    Autor Martin Mosebach verteidigt Botho Strauß' Glosse "Der letzte Deutsche" zu deutscher Kultur und Flüchtlingen im "Spiegel" (dpa / picture alliance / Arno Burgi)
    Strauß hatte im "Spiegel" gewarnt, dass die "Flutung des Landes mit Fremden eine Mehrzahl solcher bringt, die ihr Fremdsein auf Dauer bewahren und beschützen". Sein Debatten-Beitrag wurde heftig kritisiert. Zu Unrecht, sagt Martin Mosebach. Strauß gehe es um die deutsche Literatur der Romantik, die es so in anderen Ländern nicht gebe. Die Deutschen hätten laut Strauß die Verbindung zu ihrer eigenen Nationalliteratur verloren. Mosebach interpretiert Strauß so: "Die Deutschen haben selber keine Verbindung zu ihrer Vergangenheit. Das ist für Deutschland gefährlich." Ein Land ohne Eigenschaften könne auch nicht integrieren. Wohinein? "Strauß hält eher einen Syrer für fähig, Arnim zu lesen, als einen Deutschen, sich an den Kirchenvater Ephräm, der Syrer zu erinnern."
    Die Feuilletons hätten sich auf Strauß eingeschossen und es herrsche der Befehl der Totalaffirmation der Gegenwart. Im übrigen sei sein Text nicht leicht. "Erstaunlich, dass der Spiegel glaubt, seine Leser können das lesen. Die deutschen Feuilletonredakteure können ihn überwiegend nicht lesen." Die Deutschen hätten sich gegenwärtig eine Einheitsmeinung verordnet, kritisierte Mosebach. "Fragen zu stellen, wird schon als menschenfeindlich und rassistisch gebrandmarkt."

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Die Ankunft der vielen Menschen hat auch die Intellektuellen erreicht. Botho Strauß hat in die Tasten gegriffen. Seinen Artikel im "Spiegel" hat der Schriftsteller und Dramatiker als "Glosse" gekennzeichnet, vielleicht vorsichtshalber, denn eine Glosse darf alles. Sie darf übertreiben, sie darf vorgebliche Korrektheiten infrage stellen, im Spiegelbild die Fratze bloßstellen. Botho Strauß ist besorgt oder sogar entsetzt, weniger mit Blick auf die vielen Menschen, die kommen, als diejenigen betrachtend, die diese Menschen empfangen. Er schreibt:
    Botho Strauß: "Das Gutheißen und Willkommen geschieht derart forciert, dass selbst dem Einfältigsten darin eine Umbenennung, Euphemisierung von Furcht, etwas magisch Unheil abwendendes auffallen muss."
    Heinemann: Und später heißt es dann:
    Botho Strauß: "Dank der Einwanderung der Entwurzelten wird endlich Schluss sein mit der Nation und einschließlich einer Nationalliteratur."
    Heinemann: Botho Strauß sieht sich als Mensch, der in der Überlieferung mit der deutschen Literatur lebt, in enger Verbindung mit den großen Schriftstellern des Landes, und so gesehen als letzter Deutscher. Wie gesagt: Eine Glosse darf auch übertreiben.
    Die Feuilletons fühlen sich an Straußens kulturpessimistischen Artikel über den anschwellenden Bocksgesang von 1993 erinnert. Richard Kemmerlings schrieb in der "Welt" von einem obszönen Text, einer täglichen Tagesverachtung ohne Datumsanzeige. Adam Soboczynski in der "Zeit": "Fast scheint es, als gäbe es zurzeit nur die Wahl zwischen den Geborgenheitsfantasien von Strauß und der rückhaltlosen Begrüßung des Fremden. In der Mitte zwischen diesen Extremen lag einst der Liberalismus und die bürgerliche Gesellschaft."
    Vor dieser Sendung haben wir den Schriftsteller Martin Mosebach erreicht. Er ist mit Botho Strauß befreundet. Ich habe ihn gefragt, was Strauß mit seiner Glosse bezweckt.
    Martin Mosebach: Er stellt sein eigenes Befinden dar, seinen Schmerz, er umreißt den geistigen Raum, in dem er sich bewegt und von dem er glaubt, dass er zu den sehr wenigen gehört, die sich noch darin bewegen, zu dem, was er "spezifisch deutsche Literatur" nennt, die es tatsächlich auch in anderen Ländern in dieser Form nicht gibt, das was er als "eigentümlich deutsch" bezeichnet, nämlich im Grunde alles, was um die deutsche Romantik herum sich ereignet hat. Die deutschen Philosophen: Hamann ist ihm ganz besonders wichtig, Ernst Jünger, Jakob Böhme, der mystische Schuster, Nietzsche, Klopstock, Jean Paul ist für ihn von höchster Bedeutung. Diesen eigentümlichen Raum, der natürlich immer eine Lektüre der wenigen war, das ist sein Heimatland und er versucht, sich gegen das Gefühl zu wehren, dass er einer der letzten sein könnte, der in diesem Land lebt.
    Heinemann: Und er bettet das ja ein in die Diskussion über die gegenwärtige Flüchtlingspolitik. Sehen auch Sie Nation und die Nationalliteratur durch die Ankunft der Menschen bedroht?
    Mosebach: Er sieht es eigentlich ein bisschen anders, wenn man es genau sieht. Er sieht die Nationalliteratur durch die gegenwärtigen Deutschen bedroht, und zwar schon länger. Er sieht unter seinen deutschen Zeitgenossen eben nur noch wenige, für die diese deutsche Nationalliteratur diese umschriebene, diese sehr hermetische, diese glanzvolle, aber immer nur wenig geöffnete Literatur, die sieht er im gegenwärtigen Deutschland versunken.
    Heinemann: Aber er schreibt doch, "dank der Einwanderung der Entwurzelten" - damit sind die Flüchtlinge gemeint - "ist endlich Schluss ..."
    Mosebach: Aber die Entwurzelten sind die Deutschen vor allen Dingen.
    Heinemann: Aber die wandern doch nicht ein?
    Mosebach: Nein, aber die sind bereits entwurzelt und zu ihnen kommen die Entwurzelten. Das heißt, die Deutschen haben selber keine Verbindung zu ihrer Vergangenheit. Das ist die eigentliche Brisanz der Situation.
    Strauß übt Kritik an den Deutschen selbst
    Heinemann: Aber dafür können die Flüchtlinge nichts?
    Mosebach: Die Flüchtlinge können nichts dafür, aber das ist das, was für Deutschland gefährlich ist, dass das eigenschaftslos gewordene Volk natürlich auch nicht assimilieren kann. Wenn integriert und assimiliert werden soll, dann muss man ja auch irgendwo feststellen, wo hinein, und da macht er ein großes Fragezeichen. Er sagt, die Nation hat das, was ihr eigen war, selber schon abgeschüttelt und kann infolgedessen auch gar nicht mehr integrieren.
    Heinemann: Erleben Sie das auch so?
    Mosebach: Ich finde das eine sehr bedenkenswerte Einsicht.
    Heinemann: Könnte ein glaubwürdiger Anstoß von außen kommen, die Rückbesinnung auf diese eigene Kultur, vielleicht gerade von Menschen, die nicht von ihr geprägt sind? Ist so gesehen vielleicht Einwanderung eine Chance?
    Mosebach: Das ist ja gerade der besondere Verdienst von Botho Strauß, das ja sogar betont zu haben. Er schreibt ja sogar, dass er eher einen Syrer für fähig hält, eine Erzählung von Achim von Arnim zu lesen, als einen Deutschen, sich an den Kirchenvater Ephräm den Syrer zu erinnern. Er sieht da ja absolut in dieser Hinsicht bei den Einwanderern - er hat jetzt speziell die Syrer im Auge - ein unter Umständen sogar höheres kulturelles Potenzial.
    Heinemann: Also ex oriente lux, aus dem Osten kommt das Licht?
    Mosebach: Ja nicht ganz so ungebremst. Ich meine, es ist ein pessimistischer Text und er rechnet vermutlich - das kommt in dem Text nicht vor -, dass Integration, Assimilation natürlich auch mit einer weiteren Niveau-Senkung in den Schulen verbunden sein muss, kann gar nicht anders sein, und dass damit die Verbindung zur deutschen literarischen Tradition natürlich dann noch gründlicher abreißen muss. Das ist wahrscheinlich.
    Feuilletons haben sich auf Strauß eingeschossen
    Heinemann: Haben die Feuilletons diesen Text missverstanden?
    !Mosebach:!! Die Feuilletons haben sich auf Botho Strauß eingeschossen. In den deutschen Feuilletons herrscht der Befehl der Totalaffirmation der Gegenwart und jeder, der nur die bescheidensten Bedenken anzuwenden hat, der spielt nicht mit und ist infolgedessen verdächtig, gefährlich, obszön. Allen Ernstes: Dieser Anwurf ist gekommen. Ich glaube manchmal, Botho Strauß bräuchte eigentlich überhaupt nichts zu schreiben, sondern nur seinen Namen hinzusetzen, um das pflichtgemäße Aufheulen zu erzeugen.
    Ich meine, der Text ist gar nicht so leicht, den er da für den "Spiegel" geschrieben hat. Es ist erstaunlich, dass der "Spiegel" glaubt, dass seine Leser so was lesen können. Die deutschen Feuilleton-Redakteure können ihn überwiegend nicht lesen.
    Heinemann: Was haben sie genau missverstanden?
    Mosebach: Ja Gott, sie haben diese ganze Ambivalenz, sie haben die Ambivalenz dieses Textes, dass das eine Klage über den kulturellen Zustand Deutschlands ist und nicht eine Abwehr der Migranten, das haben sie nicht mitbekommen, steht nicht da drin.
    Heinemann: Botho Strauß schreibt: "Uns wird geraubt die Souveränität, dagegen zu sein."
    Mosebach: Ja.
    Heinemann: Fühlen Sie sich auch beraubt?
    Mosebach: Ja. Ich sagte ja, wir haben eine Stimmung, eine intellektuelle Stimmung, politische Stimmung, die auf Beschwichtigung, auf Harmonisierung, auf Therapie irgendwie eingestellt ist. Man glaubt geradezu, es wäre eine Reichsbeschwichtigungsbehörde eingeführt worden, wenn man die Bekundungen der Politiker und der ihnen dann entsprechend akklamierenden Presse liest. Es finden keine Diskussionen statt beziehungsweise die bloße Vorstellung, etwas problematisch zu finden, Fragen zu stellen, wird schon als menschenfeindlich und rassistisch gebrandmarkt. Ich meine, das kann man schon sagen, dass die Deutschen sich gegenwärtig eine Einheitsmeinung verordnet haben.
    Engländer fühlen sich von deutschem Moralismus angewidert
    Heinemann: Gehen Sie so weit wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, der gesagt hat, von Deutschland gehe ein moralischer Imperialismus aus?
    Mosebach: Das tut ja nicht nur der ungarische Ministerpräsident. Das haben die Franzosen vielfältig ja auch schon gesagt. Die Engländer in ganz besonderem Maße, die sich geradezu zu Teilen der veröffentlichten Meinung von dem deutschen Moralismus angewidert fühlen, wie man lesen konnte.
    Heinemann: Es wird immer wieder geäußert die Furcht vor einer Islamisierung, die Notwendigkeit einer Bewahrung des christlichen Abendlandes. Das sagen vor allen Dingen diejenigen, die mit der gegenwärtigen Flüchtlingspolitik nicht einverstanden sind. Wenn man das mal ernst nimmt, radikales Christentum, beinhaltet das nicht geradezu die Verpflichtung zur Hilfe für Not leidende Menschen?
    Mosebach: Ja, das ist richtig. Dazu verpflichtet das Christentum. Aber wen verpflichtet es? Es verpflichtet den einzelnen Menschen dazu. Ein Staat kann keine Nächstenliebe üben. Das geht nicht, denn er hat keinen Nächsten.
    Heinemann: Aber ein Staat besteht aus vielen Einzelnen.
    Mosebach: Ja, aber eine moralische Entscheidung wie die, in höchstem Maße sich äußernde Nächstenliebe zu üben, kann nicht befohlen werden. Das ist etwas, eine Entscheidung, die frei jeder für sich fällen muss und zu der Jesus die Menschen auffordert. Nicht den Staat! Der Staat hat nicht über die Nächstenliebe seiner Bürger zu befinden.
    Heinemann: Ist Angela Merkel nicht in gewisser Weise die Jeanne d'Arc urchristlicher Werte?
    Mosebach: Das geht doch eben gerade nicht. Urchristliche Werte sind immer höchst persönlich. Der Staat ist nicht zur Nächstenliebe angehalten, weil er gar keinen Nächsten hat. Er ist keine Person. Ich meine, das konnte Ludwig XIV. von sich sagen, der Staat bin ich, aber Angela Merkel ist nicht der Staat.
    Friedensnobelpreis ist ein vergiftetes Geschenk
    Heinemann: Auch nicht, wenn sie heute den Friedensnobelpreis bekommen sollte.
    Mosebach: Na dann erst recht nicht. Der Friedensnobelpreis ist ein vergiftetes Geschenk für Politiker. Es hat noch keinen Politiker gegeben, der mit dem Friedensnobelpreis zufrieden hätte sein können. Der Friedensnobelpreis hat die Karriere Obamas ruiniert und der Friedensnobelpreis für Kissinger war damals ein Witz, für Arafat ganz genauso. Friedensnobelpreis, das ist ein problematischer Lorbeer.
    Heinemann: Herr Mosebach, fehlt Botho Strauß vielleicht einfach nur die Fähigkeit zum Mitleid?
    Mosebach: Das glaube ich überhaupt nicht. Es geht ihm gar nicht darum. Es geht in dem Text gar nicht darum, dass er sich das Leid der Migranten und der Flüchtlinge nicht zu eigen machen wollte. Es geht um seinen Ort in der deutschen Literatur, um seine eigene Tradition, in die er sich stellt, seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Traditionsstrom, in dem er sich sieht und den er filtert und den er insgesamt in Gefahr befindet, und da kann ich ihm nur recht geben.
    Heinemann: Wer sind Sie, wenn Botho Strauß der letzte Deutsche ist?
    Mosebach: Ich habe ein anderes Verhältnis zu Deutschland. Mein Verhältnis zu Deutschland ist problematischer. Ich erlebe sehr stark die Teilung des Landes. Die konfessionelle Teilung hat eine kulturelle Teilung bewirkt und ich spüre diese Zerrissenheit sehr, sehr stark und kann mich sozusagen auch leiden, durchaus unzufrieden, und es fällt mir schwer, mich mit dem Ganzen zu identifizieren.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.