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Botschaften aus Kirgisien

Tschingis Aitmatow, der russisch schreibende kirgisische Schriftsteller war der wohl prominenteste und populärste Autor der Sowjetzeit. Aber während er und sein Werk im neuen Russland fast ganz aus dem literarischen Leben verschwunden sind, hat Aitmatow in Deutschland bis heute eine zuverlässige und treue Lesergemeinde.

Von Karla Hielscher | 10.06.2008
    Das Prosawerk mit seiner farbigen bilderreichen Sprache, angesiedelt im exotischen Raum der schneebedeckten kirgisischen Bergwelt oder der unendlichen Weiten der kasachischen Steppen, erfüllt das Bedürfnis vieler Leser: eine Welt, in der Gut und Böse noch klar geschieden sind, literarische Figuren, die den Reiz des Fremden tragen und mit deren Suche nach Wahrheit man sich trotzdem identifizieren kann, starke poetische Sinnbilder, deren Bedeutung sich mühelos jedem erschließt und die moralische Stärkung und Orientierung bieten. Es sind vor allem die symbolträchtig beseelten Tiergestalten - der Passgänger Gülsary, der Kamelhengst Karanar, die Wölfin Akbara, der vom Aussterben bedrohte Schneeleopard - die die Leser begeistern.

    Tschingis Torekulowitsch Aitmatow wurde 1928 im kirgisischen Dorf Scheker als Sohn eines der führenden kirgisischen Kommunisten geboren. Als Kind erlebte er noch das ursprüngliche Nomadenleben, eine wichtige Grundlage für sein späteres literarisches Schaffen:

    "Im Sommer war ich immer mit meiner Großmutter in den Bergen. Sie hat mir die Mythen meines Volkes erzählt. Ich war noch so jung, dass ich nicht einmal lesen konnte. In gewisser Weise ist mein literarisches Schicksal damals bereits angelegt gewesen, denn auch die Mythen funktionieren wie Literatur. Sie haben eine Erzählung, Entwicklung, Höhepunkt und die Lösung eines Konflikts. In meiner Kindheit gab es ja weder Radio noch Fernsehen, das heute die Kinder von früh bis spät konsumieren. Für mich war meine Großmutter mein Fernseher."

    Aitmatow machte zunächst eine Ausbildung auf einer landwirtschaftlichen Fachhochschule und arbeitete als sogenannter Zootechniker. Obwohl sein Vater 1937 Opfer des stalinistischen Terrors wurde, konnte der begabte junge Autor, der in lokalen Zeitschriften früh zu veröffentlichen begann, am Literaturinstitut in Moskau studieren. Die ganz eigentümliche Verbindung von kirgisischer nationaler Tradition mit den Verfahren des sozialistischen Realismus, etwa in der 1958 erschienenen Liebesgeschichte "Dschamilja", machte ihn schnell berühmt.

    Ab Ende der 60er Jahre entwickelte Aitmatow ein der herrschenden Fortschrittsideologie entgegen gesetztes, tief tragisches Weltbild. Aitmatow war als Deputierter des Obersten Sowjet und Vorstandsmitglied des Schriftstellerverbandes einer der höchsten offiziellen Literaturfunktionäre seines Landes: dennoch überschritt er mit seinen Büchern immer wieder ideologische Grenzen.

    In Romanen wie "Abschied von Gülsary", "Der weiße Dampfer" und "Ein Tag länger als ein Leben" behandelte er Gegenwartsprobleme der Sowjetgesellschaft in mythopoetischen Bildern, etwa wenn er die brutale Flugzeugjagd auf die heilig gehaltenen Sajga-Antilopen zur Erfüllung der Fleischproduktionsnorm schildert. In Aitmatows besten Erzähltexten verbindet sich auf überzeugende Weise die aktuelle politisch ideologische Auseinandersetzung mit den ewigen Grundfragen nach Leben und Tod, nach dem Verhältnis von Mensch und Natur, von Tradition und Fortschritt.

    Der Mythos etwa von der gehörnten weißen Hirschmutter als Symbol des richtigen Lebens des Menschen im Einklang mit der Natur oder das Bild vom Mankurt als unvergessliche Metapher für den tödlichen Verlust des Gedächtnisses sind in den Literaturfundus des 20. Jahrhunderts eingegangen.

    Den Höhepunkt seiner gesellschaftlichen Wirkung erreichte Aitmatow in der Zeit der Perestrojka mit dem Roman "Der Richtplatz" von 1986. Darin geht es um christlichen Märtyrertod und ökologische Weltzerstörung - ein weiterer Tabubruch. Das Buch wurde - trotz seiner offensichtlichen künstlerischen Mängel - in der Sowjetunion wie auch der DDR zu einer kaum zu überschätzenden Antriebskraft der geistigen Perestrojka.
    Aitmatow hat sich selbst stets als Dichter-Priester und Dichter-Prophet verstanden.

    Die künstlerische Kraft seiner Sprache blieb jedoch, nachdem die Abschaffung der Zensur seinen Texten die politische Brisanz nahm, immer mehr hinter seinen hochgesteckten Prätentionen als Seher und Mahner zurück. Der Roman "Das Kassandramal" von 1992 mit seiner apokalyptischen Parabel ist peinlich misslungen.

    Sein 2007 erschienener letzter Roman "Der Schneeleopard" wurde dagegen noch einmal ein Erfolg. Mit Aitmatow, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Botschafter Kirgistans zumeist in Luxemburg und Brüssel lebte, verliert die Welt einen Schriftsteller, der - noch in der Sowjetliteratur verwurzelt - mit seiner allgemeinmenschlichen und ökologischen Thematik weltweit ein breites Leserpublikum gewann.