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Boxkämpfe im KZ

Nach sechzig Jahren des Schweigens hat Hertzko Haft, ein jüdischer Boxer, seinem Sohn Alan Scott die Geschichte seines Überlebens in Auschwitz in die Feder diktiert. Das buch erzählt von den psychischen Deformationen eines Überlebenden, von den Qualen, die er an die eigenen Kinder weitergab.

Von Jochanan Shelliem |
    Es ist wie aus der Zeit gefallen. Das Buch, die Sprache und die unprätentiöse Ehrlichkeit dieser Biografie.

    "Hertzko", pflegte seine Mutter ihn auszuschimpfen, "ich will keine Klagen hören von einem Kind, das glücklich geboren wurde!"

    So sprach man nach dem Krieg, zu einer Zeit, da man Gefühle noch für sich selbst behielt. Man hatte überlebt. Andere auch. Und jeder wusste, was er gern vergessen wollte. Doch dieses Buch beginnt lakonisch, sanft und spart nichts aus.

    Dennoch war es alles andere als ein Glück, 1925 in Polen als Jude geboren zu sein, und Hertzko sollte die Erzählungen über seine Geburt als ersten Akt eines Überlebenskampfes in zunehmend schwierigen Zeiten in Erinnerung behalten.

    Eine Geschichte, die Herztko Haft erst einmal sechs Jahrzehnte für sich behalten wird. Andere Auschwitzüberlebende schwiegen in Israel ihr Leben lang, weil sie sich schämten. Erst die Kinder dieser Opfer haben das Schweigen ihrer Eltern thematisiert. Haft schweigt in New York. Er schweigt und er tut das, was er im Konzentrationslager gelernt hat. Hertzko schlägt zu. Haft boxt, er kämpft, um aufzufallen und hofft, dass seine Jugendliebe ihn so entdecken wird. Und er fällt doch nicht auf - obwohl die goldene Zeit, da jeder dritte Profiboxer im Ring ein Jude war, nach Kriegsende vorüber ist und langsam andere Underdogs in den Ring steigen.

    Hertzko Haft kam am 28. Juli zur Welt, in Belchatow, einer kleinen polnischen Stadt südlich von Lodz. Belchatow hatte zehntausend Einwohner, die hauptsächlich in der Web- und Textilbranche arbeiten.

    1925 leben in der polnischen Marktstadt, die sich aus dem "Schtetl" der Jahrhundertwende entwickelt hat, etwa gleichviel Juden wie Nichtjuden. Hertzko ist der jüngste Spross einer armen zehnköpfigen Familie, die nicht viel Aufhebens um ihren letzten Zugang macht. Zumal der Vater bald an Typhus stirbt. Dass Hertzko als Kind von der Schule fliegt, weil er sich gegen antisemitische Schikane wehrt, erscheint als Glück, weil die Arbeit auf dem Markt nun seinen Körper stählt.

    Fünfzehn ist er, als deutsche Soldaten in Polen einmarschieren und er mit ansehen muss, wie Nachbarn und Verwandte verprügelt und gefoltert und ermordet werden. Sein Bruder kämpft mit Polen im Widerstand und wird verhaftet, Hertzko kämpft ihn frei, wird deportiert. Dass er sich in dieser Zeit verliebt, ist vielleicht auch ein Glück. Fortan hat er ein Lebensziel. Hertzko ist nicht religiös. Hertzko will überleben, er arbeitet im Krematorium. Als die SS beginnt, Boxkämpfe unter den ausgemergelten Häftlingen als Vergnügen für sich zu organisieren, folgt Hertzko der Anweisung des Offiziers, für den er zuvor Diamanten gestohlen hat. 76mal steigt er in Auschwitz in den Ring. Zum Schluss ist er berühmt.

    Und Hertzko Haft erzählt: von sadistischen Kapos die ihren Vorkriegsantisemitismus in dem Kohlebergwerk von Jaworzno gern mit mehr Macht versehen auskosten, Demianjuk mag so einer gewesen sein, von Kleinganoven in Auschwitz und vom Kannibalismus zu Kriegsende im Konzentrationslager Flossenbürg erzählt er auch.

    Hertzko und Peretz hatten niemals auch nur mit dem Gedanken gespielt, sich daran zu beteiligen, aber sie fühlten sich unendlich schuldig, weil sie den Mördern hilflos zuschauten und nichts unternahmen, um sie davon abzuhalten.

    Als Hertzko Haft auf einem Todesmarsch entkommen, nach Waffenschiebereien und der Arbeit in einem gescheiterten Nachkriegsbordell in Bayern bei seinem ehrbaren Onkel Samuel in Paterson / New York ankommt, kann er gar nicht verstehen, dass dieser tobt, weil er sich mit jüdischen Ganoven einlassen will. Der Junge aus Belchatow hat schon zu viel gesehen. Und in den Ring will er auf jeden Fall - mit Hilfe der Halbwelt, die die meisten Kämpfe dirigiert, oder auch ohne. 1948 gibt es in New York Dutzende von Boxarenen und gut eintausend Kämpfer mit Profilizenz. Im Anhang des Buches wirft der US-Boxjournalist Mike Silver einen analytischen Blick auf die Boxszene dieser Zeit.

    Es gab so viele jüdische Sportler im Boxen, dass Ende der 1920er-Jahre nahezu ein Drittel aller US-amerikanischen Profiboxer jüdisch waren. Zwischen 1900 und 1939 errangen 24 jüdische US-Boxer einen Weltmeistertitel. Große Kämpfer wie Benny Leonard (New York), Barney Ross (Chicago) und Lew Tendler (Philadelphia) wurden in ihren jüdischen Gemeinden zu Volkshelden und für viele zu mächtigen Symbolen des ethnischen Stolzes und Leistungsvermögens.

    Doch es war nicht allein der soziale Aufstieg, um den Underdogs und Immigranten boxten, für die jüdische Gemeinschaft in den USA ging es um mehr, so Silver.

    Der Erfolg so vieler jüdischer Meister und Titelanwärter stellte antijüdische Stereotype in Frage und trug dazu bei, eine jüdisch-amerikanische Identität zu bilden. Wie ihre irischen und italienischen Konkurrenten - und auch die afro-amerikanischen und latinostämmigen Boxer, die später ihren Platz im Pantheon des Boxens einnehmen sollten - waren die meisten jüdischen Boxer ein Produkt der verarmten städtischen Gettos. Es war kein Zufall, dass von 1890 bis 1950 die Mehrheit der jüdischen Boxer aus New York City stammte, denn diese Stadt beherbergte die größte und zugleich ärmste jüdische Gemeinde in den Vereinigten Staaten.

    Der Lagerüberlebende hat einen besonderen Grund dafür, dass er fast jeden Kampf annimmt. Haft will Schlagzeilen machen, auch wenn er resistent ist gegen die Anweisungen seiner Trainer. Der erste deutsche Schwergewichtsmeister der Nachkriegsmonate hofft mit seinem Bild in einer Zeitung die Aufmerksamkeit seine Jugendliebe auf sich zu ziehen. Und einmal ist er ganz nah dran, einmal hat er auch einen großen Kampf: Er tritt gegen den Schwergewichtschampion Rocky Marciano an, den die Mafia beschützt. Haft fühlt sich erpresst, verliert. Er bricht seine Karriere ab und steigt nie wieder in den Ring. Für den Rest seines Lebens wird er einen Gemüseladen führen. Und Leah - seine Jugendliebe aus Belchatow? Sie wird er wieder sehen - doch da ist sie vom Krebs gezeichnet und er ein alter Mann. Es ist ein schnörkelloser Stil, in dem sein Sohn die Lebensbeichte seines Vaters niederschreibt, ein halbes Jahr vor Hertzkos Tod - eine lakonische Faktizität, die sich nicht mit Moral, noch mit Tabus aufhält, dazu war in dem Kampf ums Überleben des jüdischen Boxers Hertzko Haft wohl keine Zeit. Ein faszinierender Bericht, den der kleine Göttinger Verlag Die Werkstatt, da ausgegraben hat.

    Jochanan Shelliem über: Alan Scott Haft: "Eines Tages werde ich alles erzählen". Die Überlebensgeschichte des jüdischen Boxers Hertzko Haft. Erschienen im Verlag Die Werkstatt, Göttingen - 192 Seiten zum Preis von Euro 16,90.