"Brahms/Strawinsky - Violinkonzerte”
Trotz seiner tiefen Liebe zu Italien - immerhin hat er sich in Venedig beerdigen lassen - hielt Igor Strawinsky von der "Massenproduktion" der Barockkomponisten im Allgemeinen und von den zahlreichen Violinkonzerten eines Vivaldi im Besonderen nicht allzu viel. Gänzlich andere Impulse bestimmten das Denken eines Komponisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als dass er der Belieferung des etablierten Konzertlebens mit immer neuen, aber im Grunde doch ähnlichen Musikstücken schöpferische Freude hätte abgewinnen können. Immer noch ging es um Originalität, aber jetzt derart zugespitzt, dass jedes Werk gleichsam seine künstlerische Berechtigung aus sich heraus zu beweisen hatte. Ähnlich wie in Picassos Schaffen lassen sich dabei auch bei Strawinsky Perioden ausmachen, Zeitspannen, in denen ein bestimmter Stil gefunden, erprobt und angewandt wird. Und Strawinsky hat sich in seinen Partituren nicht nur mit musikalischen Parametern wie Rhythmus, Harmonik, Melodik oder mit bestimmten Techniken auseinandergesetzt, sondern auch mit vielerlei fertiger Musik aus Gegenwart und Vergangenheit, seien es das russische Volkslied, die Schöpfungen seiner spätromantischen Landsleute Tschaikowsky, Rimsky-Korsakow, Glinka oder Balakirew, die Errungenschaften des französischen Impressionismus, die völlig neuen Klänge des jungen Jazz, die 12-Ton-Technik bis hin zur Serialität, aber auch Bach'sche Fugen, italienische Renaissancemusik oder französische Barockoper. Heute, in postmodernen Zeiten, wo in allen Künsten bis hin zur Architektur gerne mit allen möglichen fertigen Stilelementen aus den verschiedensten Zusammenhängen gespielt wird, ist das Verständnis hierfür größer als noch vor 40 Jahren, als zum Beispiel das ja nicht ganz unwichtige große Lexikon "Die Musik in Geschichte und Gegenwart" noch kritisch vom "zutiefst parasitären Charakter der Musik Strawinskys" spricht. Aus dem Jahre 1931, aus Strawinskys klassizistischer Periode, stammt das Violinkonzert in D, das jetzt von der jungen Geigerin Hilary Hahn eingespielt wurde. Mit seinen vier statt wie sonst üblich eher drei Sätzen legt es Zeugnis ab von Strawinskys Auseinandersetzung mit Denkweisen und Formen der Barockmusik, vor allem mit dem Concerto-Grosso-Prinzip. Dabei sind die beiden Ecksätze "Toccata" und "Capriccio" rhythmisch bewegt, während die beiden Binnensätze Aria 1 und 2 gesanglicher und reichlich ausgeziert erscheinen. Im Unterschied zu den anderen wichtigen Violinkonzerten der 30er Jahre von Alban Berg, Arnold Schönberg und Bela Bartok ist Strawinskys Konzert kompakter, weniger ausladend. Auf dem Konzertpodium allerdings wurde es bis heute nicht so richtig heimisch; das wollte die 21jährige, hochbegabte Geigerin Hilary Hahn ändern. Nach intensivem Studium spielte sie das Konzert innerhalb von drei Wochen mit sieben verschiedenen Orchestern und ging dann mit der Academy of St. Martin in the Fields ins Aufnahmestudio und verewigte ihre Version auf CD. Heraus kam eine ungemein spannende, unverkraft-spielerische, geradezu gelöste Interpretation mit ungeheurem Drive und blitzsauberer Intonation. * Musikbeispiel: Igor Strawinsky - letzter Satz 'Capriccio’ aus: Violinkonzert in D Hilary Hahn und die Academy of St. Martin in the Fields spielten unter der Leitung von Neville Marriner den letzten Satz des Konzerts für Violine und Orchester in D von Igor Strawinsky – eine wirklich mitreißende Einspielung.