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Brain Drain

Schon die Begrüßungsansprache verbreitet Weltuntergangsstimmung. Besorgnis erregend sei die Entwicklung, und wenn das so weiter gehe, dürfte es – so sinngemäß - bald vorbei sein mit Deutschland, dessen einziger Rohstoff ja bekanntlich seine Gehirne seien. Und dann fällt er auch schon, der Schreckensbegriff: Brain Drain! Deutschland verliert Hirnmasse in Form von abwandernden Wissenschaftlern.

Von Markus Rimmele | 01.11.2004
    Die Besucher der Konferenz in der Berliner Humboldt-Universität sind also schon auf die Katastrophe eingestimmt, als der Hausherr, HU-Präsident Jürgen Mlynek das Wort ergreift und das Unheil in Statistiken fasst:

    Nach Angaben der German Scholar Organization setzen bis zu 14 Prozent der an deutschen Universitäten Promovierten in den Natur- und Ingenieurwissenschaften ihre Karriere zeitweise oder gar auf Dauer in den USA fort - das ist also jeder siebte -, sind im Durchschnitt pro Jahr zirka tausend deutsche Nachwuchswissenschaftler mit Stipendien deutscher Förderorganisationen in den USA, von denen rund 25 Prozent in den USA bleiben. So viel zur Statistik.

    Die frisch Promovierten seien es, so schließt Mlynek aus seinen wenig repräsentativen Zahlen, die Deutschland in Scharen den Rücken kehrten, also diejenigen, die gerade ihre Wissenschaftskarriere beginnen wollen. Und schon fängt die Diskussion um die Mittel und Wege an, wie man diese Leute im Lande halten könne.

    Moment! denkt da so mancher im Saal und hegt trotz aufrichtig geteilter Zukunftsangst einen leisen Zweifel: Wie viele Wissenschaftler sind es denn überhaupt, die Deutschland jährlich verlassen? Die Antwort kommt und kommt nicht. Der Grund: Es gibt sie nicht. Alle reden über das Phänomen Brain Drain, und niemand weiß, welches Ausmaß es besitzt.

    Ein Statistiker tritt ans Mikrofon und sorgt für Verwirrung. Er gibt zu, dass verlässliche Zahlen über den Hirn-Abfluss nicht vorliegen. Niemand weiß, wie viele der Deutschen aus dem Ausland wieder zurückkommen werden, niemand weiß, ob es tatsächlich die besonders Guten sind, die gehen, wie immer behauptet wird. Stattdessen bezeichnet er Deutschland als Wissenschaftseinwanderungsland mit einem positiven Wanderungssaldo.

    Da freut sich Ulrich Kasparick, Staatssekretär im Bundesforschungsministerium. Genüsslich zählt er auf, was die Bundesregierung alles unternehme, um die besten jungen Wissenschaftler ins Land zu holen, also nicht nur den Brain Drain zu stoppen, sondern sogar einen Brain Gain zu produzieren. Seine Liste reicht von den Juniorprofessuren über die Exzellenzinitiative bis hin zum Zuwanderungsgesetz. Kasparick ist zuversichtlich, sofern ein Problem bald gelöst werde:

    Wir brauchen wesentlich mehr Geld im System, wesentlich mehr Geld im System. Deswegen ist eines der zentralen Politikfelder, um die wir uns im Moment kümmern, den Umbau der öffentlichen Finanzierung weg von alten Subventionstatbeständen hin in Investitionen in Forschung.

    Mehr Geld ist also nötig, um den Wissenschaftsstandort auf US-Niveau zu hieven und die Leute hier zu halten. Nicht nur, sagt wiederum einer der es wissen muss. Crister Garrett ist Amerikaner und arbeitet zur Zeit an der Universität Leipzig:

    Ein Wissenschaftler geht nach Kanada zum Beispiel mit dem Gedanken: Ich habe so eine Idee mit 50:50 Chancen, es könnte Scheitern, aber es könnte auch aufgehen. Und da die Kultur ist eigentlich vor Ort: Gut, wenn es scheitert, das ist kein größeres Problem dann, daraus können wir auch etwas lernen so zu sagen. Aus Scheitern kann man also lernen. Heute geht es um Spielen, wenn wir so wollen, Ideen zusammenzusetzen und mal schauen, was da rauskommt. Und dafür braucht man eine bestimmte Lockerheit, eine bestimmte Entspanntheit, eine neue Kultur der Wissensspieligkeit – ich weiß nicht genau.

    Mehr Wissensspieligkeit. Eine nette Wortschöpfung. Von kreativer Spieligkeit ist auf der Konferenz allerdings wenig zu spüren. Deren Ergebnis lautet: Die Lage ist sehr sehr ernst.