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Brasilien
Gewalt und Leid in Rios Armenvierteln

Vier Wochen vor Beginn der Olympischen Spiele in Brasilien eskaliert in Rio de Janeiro die Gewalt. In den Armenvierteln der Metropole geraten die Bewohner immer wieder in die Schusslinie zwischen Polizei und Drogenbanden. Die vor fast acht Jahren gegründete "Befriedungs-Polizei" sollte die Viertel eigentlich sicherer machen - doch davon sind die meisten Favelas heute weit entfernt.

Von Victoria Eglau | 09.07.2016
    Die Favela Rocinha am 02.12.2007 in Rio de Janeiro (Brasilien). Die Favela Rocinha im Süden Rios gilt mit ca. 250.000 Einwohnern als größtes Armenviertel in Lateinamerika.
    Favela Rocinha in Rio de Janeiro (dpa / Peter Kneffel)
    "Die Polizei respektiert uns Favela- Bewohner nicht. Das Leben in einer Favela ist so wie überall: Die Leute gehen zur Arbeit, die Kinder kommen von der Schule. Wir wollen Respekt!" – Applaus
    Eine öffentliche Anhörung in Rio de Janeiro: Bewohner der Armenviertel, in denen fast ein Viertel der Stadtbevölkerung lebt, protestieren gegen Polizeigewalt.
    "Bewaffnete Einsätze finden immer häufiger statt. Polizeigewalt gab es schon vorher in den Favelas, aber jetzt, vor den Olympischen Spielen, hat sie stark zugenommen", beklagt Fransérgio Goulart vom Forum der Favela-Jugend. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Allein im Monat Mai wurden in Rio vierzig Menschen von der Polizei getötet, siebzehn waren es im Vorjahresmonat. Den starken Anstieg erklären auch Menschenrechts-Organisationen mit den bevorstehenden Olympischen Spielen.
    "Der intensive Krieg zwischen den Drogenhändlern und der Polizei bringt Kollateralschäden mit sich. Keiner will das, auch die Polizei nicht. Wir arbeiten daran, diese Schäden zu verringern", beteuert André Silva de Mendonca, der die sogenannte "Befriedungs-Polizei" von Rio de Janeiro koordiniert. Die Polícia Pacificadora wurde vor fast acht Jahren ins Leben gerufen – mit dem Ziel, die vom Drogenkrieg gebeutelte Metropole sicherer zu machen: zunächst vor der Fußball-WM, jetzt vor Olympia.
    Vom Erfolg in die Krise
    Heute gibt es die Einheiten der Befriedungs-Polizei, kurz UPPs genannt, in 38 Favelas. In den ersten Jahren wurde das Programm als Erfolg gefeiert, Morde verringerten sich erheblich. Doch inzwischen stecken die UPPs in einer tiefen Krise. Die aus den Armenvierteln verdrängte Rauschgiftmafia ist fast überall hin zurückgekommen, nahezu täglich finden Schießereien zwischen Dealern und Polizisten statt. Und die Frustration der Bewohner wächst. Aércio de Oliveira, Vorsitzender der brasilianischen Nichtregierungsorganisation FASE:
    "Eine Zeitlang hat das Befriedungs-Konzept funktioniert und in den Favelas war es ruhiger. Doch dann bekamen die Einwohner zunehmend das autoritäre, gewalttätige Verhalten der Polizei zu spüren. Diese unterdrückt besonders die Armen, die Schwarzen. Zwar würde sich wohl eine Mehrheit der Favela-Bevölkerung für die Fortsetzung der Befriedung aussprechen – aber nur, weil sie keine Alternative hat."
    Die Befriedungs-Einheiten sollten eine Polizei neuen Typs sein: bürgernah – statt auf Konfrontation bedacht. Doch wurde es versäumt, die Polizisten für ihre neue Aufgabe zu schulen, und mit der Zeit gewann das traditionelle Polizei-Modell in den Favelas erneut die Oberhand. Silvia Ramos, Expertin vom Zentrum für Sicherheitsforschung CESEC in Rio de Janeiro:
    "Die UPPs sollten die Favela-Bewohner respektieren, sollten Schießereien vermeiden, um das Leben von Bewohnern und Polizisten nicht aufs Spiel zu setzen. Doch da es versäumt wurde, den ganzen Polizei-Apparat zu reformieren, dominiert in den Favelas leider wieder die Polizei alten Stils, die gegen Verbrecher und Drogendealer einen Krieg führt."
    Junge Menschen sterben immer noch durch Polizeigewalt
    Maria Dalva da Costa Correa lebt in der Favela Barao und bezeichnet die Befriedungspolizei als Unglück. 2003 verlor die Afrobrasilianerin ihren neunzehnjährigen Sohn, er wurde durch fünf Schüsse der Polizei getötet. Als die Regierung des Bundesstaates Rio de Janeiro begann, in den Favelas die UPPs einzurichten, versprach ihr der Sicherheits-Minister, nun würde alles besser. Doch Maria Dalva da Costa Correia sieht immer noch junge Menschen durch Polizeikugeln sterben.
    "Die Polizei behandelt uns wie Feinde, weil in den Favelas Drogenhändler leben. Aber wir stecken nicht mit der Drogenmafia unter einer Decke. Wir haben einfach keinen anderen Ort zum Leben als die Favela. Und die Dealer, sie handeln mit Drogen, weil der Staat ihnen nicht zu Ausbildung und Arbeit verholfen hat."
    Auch der Koordinator der Befriedungspolizei, André Silva de Mendonca, betont: Für die Jugendlichen in den Favelas müsse es bessere Bildungs-, Berufs- und Freizeitangebote geben, damit sie Nein zum Drogenhandel sagen könnten. Mendonca sieht die Polizei überfordert mit der Aufgabe, die Konflikte in den Armenvierteln allein zu lösen, und räumt Rückschläge und Probleme bei der Befriedung ein.
    "Nein, die Favelas sind nicht befriedet. Am Anfang gab es Erfolge, aber sie haben sich nicht konsolidiert. Für uns ist das Konzept der Befriedungspolizei noch neu, wir lernen noch. Nach den Olympischen Spielen müssen wir innehalten und versuchen, an die anfänglichen Erfolge anzuknüpfen."
    Nicht nur bei den Favela-Bewohnern, auch bei der Polizei herrscht Ernüchterung. Mehr als fünfzig Polizisten wurden in Rio in diesem Jahr bereits getötet, fünf davon in Favelas mit UPPs. Die Einheiten der Befriedungspolizei sind finanziell unzureichend ausgestattet, denn der Bundesstaat Rio de Janeiro ist pleite und der Polizei-Etat wurde um ein Drittel gekürzt. Um die Sicherheit der Olympischen Spiele zu garantieren, unternimmt Brasilien einen Kraftakt: 85.000 Sicherheitskräfte werden im Einsatz sein. Doch die Cariocas, die Einwohner Rios, sorgen sich um die Zeit danach. Ihre Befürchtung, dass Gewalt und Kriminalität außer Kontrolle geraten könnten, sobald die Spiele vorbei sind, ist wohl begründet.