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Brasilien - neuer Global Player mit alten Problemen (1/3)

Brasilien hat in den vergangenen 15 Jahren einen beispiellosen Aufschwung erlebt. Lange Zeit war es von immer neuen Krisen zurückgeworfen worden. Es litt an seiner Größe, unter seiner Armut und an der schweren Korruption im Lande. Inzwischen ist es aber auf dem Weg vom Schwellenland zum Global Player und wird neben China, Indien und Russland als kommende Großmacht angesehen. Außerdem wird es 2014 die nächste Fußballweltmeisterschaft austragen.

Der Publizist Arnaldo Jabor im Gespräch mit Peter B. Schumann | 13.01.2013
    Doch das Land muss erst noch die demokratischen Defizite wie den Klientelismus des politischen Systems überwinden und seine Erfahrungen mit der Diktatur aufarbeiten. "Brasilien - neuer Global Player mit alten Problemen" heißt unsere dreiteilige Serie. Erster Gesprächspartner des Lateinamerika-Experten Peter B. Schumann ist der in Brasilien viel gelesene Kolumnist und frühere Filmemacher Arnaldo Jabor.

    Schumann: Herr Jabor, Brasilien gilt als Modellland unter den sogenannten BRIC-Staaten, zu denen auch Russland, Indien und China gehören. Die brasilianische Demokratie hat sich weiterentwickelt, das Wirtschaftswachstum ist beträchtlich, unbegrenzte Ölquellen sollen bald sprudeln, die Sozialpolitik hat die Armut verringert, die Beseitigung der Gewalt in den Armenvierteln hat begonnen. Ist Brasilien auch für Sie ein Modellland?

    Jabor: Brasilien besitzt weitaus mehr Möglichkeiten als jene, welche die Regierungen bisher ergriffen oder überhaupt erkannt haben. Aber ich will weiter zurückgreifen. Ursprünglich wurde Brasilien - wie all diesen von Portugiesen oder Spaniern kolonisierten Ländern - eine politische Struktur verpasst, die das Land zur Rückständigkeit verurteilte. Die Portugiesen wollten nicht, dass wir uns entwickelten: Sie wollten uns auf dem Niveau eines leicht auszubeutenden Agrarlandes festhalten. Doch nach einer langen Zeit des Stillstandes ist uns es dennoch gelungen, diesen Zustand zu ändern und die portugiesische Krone hat davon sogar profitiert.

    Portugals politisches und soziales Gefüge war stark vom "Patrimonialismus" geprägt - wie Max Weber das nannte: Der Staat diente nicht der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft hatte dem Staat zu dienen. Diese Struktur Portugals wurde wie eine Kopie auf Brasilien übertragen. Der brasilianische Staat wurde sozusagen vor der brasilianischen Gesellschaft gegründet.

    Schumann: Das liegt ja nun schon ein paar Jahrhunderte zurück. Was hatte es überhaupt für konkrete Auswirkungen?

    Jabor: Die übergroße Abhängigkeit vom Staat ließ bei den Bürgern das Gefühl entstehen, sich nicht nach eigenem Gutdünken entfalten zu können. Es war eine gedemütigte Gesellschaft, die nicht an sich selbst glaubte, in der man entweder zum Verräter oder zum Arschkriecher wurde. Dieses Bewusstsein führte zu Korruption, Klientelismus, Desinteresse an öffentlichen Aufgaben, zu einer Erwartungshaltung, dass alle Probleme vom Staat gelöst würden und die Gesellschaft nichts dafür tun müsste, sowie zu einer exzessiven Bürokratie - typische Phänomene einer gelungenen Kolonialisierung. Sie haben jahrhundertelang die Geschichte Brasiliens bestimmt und zwar sehr viel stärker als das gelegentliche Aufflackern von Klassenkampf, denn der hat bei uns so gut wie nie stattgefunden, weil die Armen hier schon immer als Besiegte geboren wurden.

    Schumann: Aber es hat doch auch sehr viele Krisen, einschneidende gesellschaftliche und politische Veränderungen gegeben. Haben sie dieses koloniale Gefüge nicht verändert?

    Jabor: Diese Krisen haben nur den Eindruck erweckt, dass sich etwas bewegen würde, aber alles blieb beim Alten. Erst in den letzten 20 Jahren hat - im Zuge der weltweiten Veränderungen der Produktionsverhältnisse - auch in Brasilien der unvermeidliche Modernisierungsprozess stattgefunden. Rückständigkeit, Korruption, Bürokratie, Trägheit, Klientelismus - all diese kolonialen Defekte wurden einer Revision unterzogen, unter dem Druck von außen, der neuen Technologien und Kommunikationsmittel. Die Welt zwang uns zur Modernisierung, die vor allem die brasilianische Rechte lang verhindert hat.

    Schumann: Wurde diese Modernisierung nicht auch durch den Wechsel von der Diktatur zur Demokratie Mitte der 1980er-Jahre stark beeinflusst?

    Jabor: Natürlich. Es gab zwei wichtige Momente in den letzten drei Jahrzehnten. Die Diktatur - so schrecklich sie auch gewesen sein mag - ließ in uns einen großen Hunger nach Demokratie entstehen. Sie ging zu Ende dank des Widerstands der Linken und der sozialen Bewegungen. Sie hat sich aber auch selbst verschlissen. Hinzu kam die Ölkrise: Eine Diktatur ohne Geld funktioniert einfach nicht, und diese hatte Schulden in Höhe von 200 Milliarden Dollar angehäuft, das Wasser stand ihr bis zum Halse. Die Rückkehr zur Demokratie war also kein Gnadenakt der Militärs. Es gab vielmehr eine allgemeine Überzeugung von der Notwendigkeit der Demokratie. 1985 begann dieser demokratische Prozess in Brasilien.

    Schumann: Nur war merkwürdigerweise der erste demokratisch gewählte Präsident Brasiliens, Collor de Mello, einer der korruptesten in der brasilianischen Geschichte.

    Jabor: Klar, aber das ist ja gerade das Interessante an der brasilianischen Demokratie. Sie begann mit einer Tragödie. Zuerst wurde Tancredo Neves gewählt. Der starb jedoch noch vor Amtsantritt. Ihm folgte verfassungsgemäß der Vizepräsident José Sarney, ein Mann der Diktatur, der extremen Rechten. Er regierte fünf Jahre lang und stürzte das Land in eine der schlimmsten Inflationen von 2100 Prozent pro Jahr.

    Schumann: So schlimm wie in Argentinien Ende der 80er-Jahre.

    Jabor: Noch schlimmer, denn als er ging, erreichte sie 2300 Prozent. Sarney war ein Desaster, regierte aber legaliter. Er war korrupt, "Kommandant der Rückständigkeit" hieß er. Und dann kam - diesmal ordentlich gewählt - Collor an die Macht, ein Hoffnungsträger, ein Macho, wie er im Buche stand, und erwies sich sehr rasch als Opportunist, als Reaktionär, als noch korrupter: als Vertreter der alten Tradition des Patrimonialismus. Es war eine absurde Regierung der sichtbaren Korruption und der unglaublichsten Vergehen, sodass in der Öffentlichkeit der Eindruck entstand: Der richtet die Demokratie zugrunde.

    Schumann: Und deshalb hat dann das Parlament die Notbremse gezogen und ihn in einem wirklich einzigartigen Amtsenthebungsverfahren nach knapp zwei Jahren aus dem Amt getrieben.



    Jabor: Dann übernahm Fernando Henrique Cardoso 1994 die Macht. Er gehörte zur modernen Linken, hatte zehn Jahre im Exil verbracht, als Soziologieprofessor unter anderem in Princeton und Berkeley gelehrt, er war ein international renommierter Wissenschaftler. Er aktualisierte das völlig veraltete Programm der brasilianischen Linken: diese krause Mischung aus Leninismus, Maoismus und Populismus à la Getulio Vargas, angereichert mit den Delirien der Fortschrittsgläubigkeit eines Kubitschek.

    Schumann: Was hat er denn nun konkret verändert?

    Jabor: Er hat zuerst die Währung stabilisiert: die Inflation von 2300 Prozent pro Jahr auf fünf Prozent heruntergedrückt. Das war ein großer Sieg für unseren Real. Er hat die internationalen Beziehungen neu geordnet und die öffentliche Verwaltung reformiert. Das war überfällig, denn der brasilianische Staat war völlig aufgeschwemmt, er funktionierte als eine Art Selbstzweck, den die Gesellschaft finanzieren durfte. Inzwischen sind die Staatsausgaben allerdings wieder fast so hoch wie früher. Er hat auch nicht wie seine Vorgänger alle Macht für sich in Anspruch genommen, sondern hat für eine stärkere Gewaltenteilung gesorgt, und hat damit begonnen, die brasilianischen Institutionen zu modernisieren.

    Schumann: Wie würden Sie seine Politik einordnen, Herr Jabor? War das eine sozialdemokratische Richtung?

    Jabor: Fernando Henrique Cardoso hat, glaube ich, als einer der wenigen Brasilianer "Das Kapital" von Marx gelesen. Und er hätte sicher gern einen demokratischen Sozialismus verwirklichen wollen, aber der ist in Brasilien nicht möglich. Das würde im Delirium enden. Er hat, statt einer Utopie nachzuhängen, der Demokratie wieder neues Gewicht verschafft und diese wahnsinnige Inflation unter anderem dadurch bekämpft, dass er per Gesetz den Bundesstaaten und Gemeinden verordnete, nicht mehr auszugeben, als sie einnahmen. Dafür musste in der Gesellschaft erst einmal ein Bewusstsein geschaffen werden. Er hat viele Quellen individueller Bereicherung privatisiert, denn - nach dem Verständnis des Patrimonialismus - konnte man sich ja öffentliche Gelder für private Zwecke aneignen.

    Schumann: Das heißt doch, dass Präsident Cardoso seinem Nachfolger Lula da Silva ein wohlgeordnetes Staatswesen hinterlassen hat.

    Jabor: Als Lula an die Macht kam, war Brasiliens Wirtschaft saniert. Und Lula ernannte klugerweise einen Wirtschaftsminister, der die Politik von Fernando Enrique Cardoso fortsetzte. Lula hatte einen einzigartigen Aufstieg vom Gewerkschafter zum Präsidenten durchgemacht, besaß nur eine bescheidene Bildung, hatte jedoch eine unglaubliche Lebensgeschichte aufzuweisen. Da er sich in vielen Dingen nicht auskannte, versuchte die traditionelle Linke, die durch den Militärputsch von 1964 ihre Pfründe verloren hatte, über "ihren Arbeiter" wieder an Einfluss zu gewinnen. Und Lula hat eine ganze Reihe von ihnen mit Regierungsgeschäften betraut, was ihm sehr geschadet hat, denn einige dieser Leute wurden bald der Bestechung bezichtigt. Sie hielten das allerdings für "Entmachtung der Bourgeoisie". Das heißt, sie kauften Stimmen, um der Regierung im Parlament zu den nötigen Mehrheiten zu verhelfen. Das hat die erste Amtszeit von Lula sehr belastet, nachdem es aufgedeckt wurde.

    Schumann: Diese Bestechung durch Stimmenkauf - das sollten unsere Hörer wissen - ist nicht typisch für die PT, die Arbeiterpartei Lulas. Sie ist vielmehr ein im brasilianischen Parlament von allen Parteien praktiziertes Verfahren, das auch eine Bezeichnung hat: mensalão, weil die Bestochenen meist einen monatlichen Scheck erhalten haben. Es wird jedoch immer wieder betont, Herr Jabor, dass es dabei nicht um persönliche Bereicherung ging.

    Jabor: Das war kein traditioneller, privater Stimmenklau, sondern ein ideologisch motivierter, der in den Medien hohe Wellen schlug. Viele haben ja anfangs geglaubt, Lula wolle den Sozialismus in Brasilien einführen. Und dann wurden die alten Methoden praktiziert. Diese Leute wurden zwar aus der Regierung entfernt, das hat aber der ersten Amtszeit Lulas sehr geschadet.

    Schumann: Dieser mensalão ist ja auch keine neue Form der Korruption, sondern hat doch wohl eine lange Tradition in Brasilien.

    Jabor: Es ist tatsächlich keine isolierte Taktik, denn Korruption gibt es bei uns schon lange. Selbst die Partei von Fernando Henrique Cardoso war in einen solchen Fall verstrickt. Es hat jedoch noch nie in der Geschichte Brasiliens eine regelrechte Organisation innerhalb einer Partei gegeben, die ein derartiges System der politischen Einflussnahme aufgebaut hat. Das war schon sehr gravierend. Lula hat dann in seiner zweiten Präsidentschaft eine Politik begonnen, die wir als Lulismo bezeichnet haben: Er ist ganz opportunistisch. Er ist die seltsamsten, unvorstellbarsten Allianzen eingegangen, um sich die jeweilige parlamentarische Mehrheit zu sichern. Er hat mit den reaktionärsten Leuten und Parteien paktiert, mit dem alten Netz der Korruption, das eine vernünftige Regierungspolitik verhindert und das außerdem 40 Prozent des Budgets verschlungen hat. Ich werfe Lula nicht so sehr vor, was er gemacht hat, sondern dass er so vieles versäumt hat.

    Schumann: Heißt dies, dass die 37 vom Obersten Gerichtshof angeklagten Abgeordneten, Parteifunktionäre, Finanzberater, Unternehmer und so weiter und die sieben Minister, die Präsidentin Rousseff ebenfalls wegen Korruption aus ihrer Regierung entfernt hat - dass diese Leute die sichtbaren Köpfe der verfehlten Politik von Expräsident Lula da Silva sind?

    Jabor: Nicht unbedingt von Lula, sondern eines Rückfalls in eine alte brasilianische Politik. In der Vergangenheit wurden selbst Diebstahl und Bereicherung gerechtfertigt. Sie gehörten angeblich zum System: "Das ist immer schon so gewesen, Brasilien ist ein traditionell korruptes Land, bürokratisch, klientelistisch." Seine Verfechter behaupteten sogar, dass sie sich dieser Mechanismen nur bedienten, um etwas zu verändern, in Richtung Sozialismus. Aber sie haben dabei zu üblen Mitteln gegriffen.

    Schumann: In Deutschland, ich glaube sogar in Europa sieht man das allerdings ganz anders: Brasilien hat sich im letzten Jahrzehnt in eine starke Wirtschaftsmacht verwandelt, hat großen internationalen Einfluss gewonnen, gilt als eine unter den BRIC-Staaten hervorragende Demokratie.

    Jabor: Brasilien ist aus zwei Gründen in dieser Situation. Zunächst hat Fernando Henrique Cardoso die Wirtschaft Brasiliens wieder stabilisiert, sodass wieder Vertrauen auf den internationalen Märkten entstand. Und dann haben wir von der Krise in den entwickelten Ländern profitiert. Das Fluchtkapital suchte neue Investitionsmöglichkeiten und fand sie unter anderem in Brasilien. Lulas Bedeutung in der Geschichte ist unbestritten, aber sie ist eher symbolischer als konkreter Natur.

    Schumann: Aber sehr konkret sind doch die Erfolge seiner Sozialpolitik. Nach offiziellen Zahlen wurde beispielsweise die extreme Armut um 40 Prozent gesenkt.

    Jabor: Lula zwar zweifellos einer der bedeutendsten Präsidenten der letzten 18 Jahre. Er hat das allgemeine Bewusstsein dafür geschärft, dass die Lebensverhältnisse der Ärmsten verbessert werden müssen. Darum hat man sich zwar auch schon früher gekümmert, aber er hat das Sozialprogramm zu einem Schwerpunkt seiner Politik und der brasilianischen Politik überhaupt gemacht. Daran besteht kein Zweifel. Ich sage ja nicht, dass er versagt hat, sondern dass er sehr viel mehr hätte tun können.

    Schumann: Im vergangenen Jahr hat der Oberste Gerichtshof Brasiliens 37 Vertretern verschiedener Parteien, Unternehmern und so weiter den Prozess gemacht. Es ging dabei um diesen mensalão, das heißt um Stimmenkauf, Geldwäsche, Bestechung, Bandenbildung, Korruption im weitesten Sinn: um den größten Antikorruptionsprozess im Land. Fünf von ihnen wurden freigesprochen, die anderen wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt, unter ihnen drei der engsten Vertrauten Lulas. Hat dieser Prozess historische Bedeutung für Sie, Herr Jabor?

    Jabor: Um die Dimension klar zu machen: Noch nie hat das oberste Bundesgericht einen Politiker verurteilt, obwohl es Tausende von ähnlichen Fällen gegeben hat. Das geschah nicht aus Korruption, sondern weil in der brasilianischen Justiz noch heute Kriterien herrschen, die aus der Kolonialzeit stammen. Damals war die Justiz dazu bestimmt, die Mächtigen zu schützen. Sie kannte nur drei verantwortlich zu machende Personenkreise: Schwarze, Arme und Prostituierte. Deshalb glaube ich nicht, dass dieses Mensalão-Verfahren nur vor dem Hintergrund des brasilianischen Justizwesens bewertet werden darf. Brasilien hat sich im letzten Jahrzehnt sehr verändert durch die Politik von Cardoso und von Lula, aber auch durch die erwähnten internationalen Einflüsse. Auf diesen Modernisierungsschub musste die Justiz reagieren. Brasilien erlebt zum ersten Mal, dass einflussreiche Politiker bestraft werden, dass zehn Millionen Reais nicht mehr so einfach verschwinden können, dass wir nicht mehr vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag oder vor den der UNO gehen müssen, um Gerechtigkeit zu finden. Das gibt dem Verfahren seine Bedeutung: Das Gesetz funktioniert.

    Schumann: Aber erklärt sich diese juristische Kehrtwende nur aus dem Aufschwung des Landes?

    Jabor: Brasilien war an einem Punkt seiner ökonomischen und politischen Entwicklung angelangt, an dem die weitverbreitete Straflosigkeit unerträglich geworden war. Außerdem hatten die Fälle von Korruption in den letzten Jahren ein derartiges Ausmaß angenommen, dass hier ein Zeichen gesetzt werden musste. Die Korruption war zu einem richtigen Netzwerk geworden, das die Politik unterhöhlte. Das war wirklich eine Schande. Selbst der Präsident der Abgeordnetenkammer war in einen Schmiergeldskandal verwickelt. Die Bevölkerung reagierte auf die Unzahl dieser Fälle immer heftiger. Sie sammelte mehr als 1,5 Millionen Unterschriften für eine Initiative zur Überprüfung von Kandidaten für politische Ämter. Dieser Erfolg stärkte das Bewusstsein dafür, dass Brasilien eine Justizreform brauchte. Und dieser Prozess ist ein erster Schritt in diese Richtung.

    Schumann: Nun sollten wir nicht so tun, als ob es nur in Brasilien Korruption gäbe. Sie greift längst auch in Deutschland um sich, allerdings nicht so sehr im politischen Bereich. Und auch weltweit haben die Wertbegriffe sehr gelitten. Hat dieser allgemeine Werteverlust die Dimension der politischen Korruption in Brasilien vergrößert?

    Jabor: Das ist möglich. Es gibt - wie soll ich sagen - ein weitverbreitetes Gewährenlassen. Den Regierungen gelingt es oft nicht mehr, die Kontrolle auszuüben über den enormen Bevölkerungsanstieg. Die staatlichen Apparate wirken oft archaisch angesichts der menschlichen Entwicklung und des technologischen Wandels. Ich glaube aber, dass man die brasilianische Situation am ehesten mit dem italienischen mani-pulite, dem Hände-Reinwaschen, vergleichen kann. Im Italien der 90er-Jahre flogen die unglaublichsten politischen Skandale auf, genauso wie jetzt bei uns. Es ist hier eine wirklich interessante Bewegung entstanden: Brasilien modernisiert sich gegen den Willen vieler Leute.

    Schumann: Würden Sie die Säuberung, die Präsidentin Dilma Rousseff in ihrer Regierung vorgenommen hat, dazu zählen? Sie hat immerhin sieben ihrer Minister entlassen.

    Jabor: Mir gefällt Dilma, die neue Präsidentin, sehr, obwohl sie eine Art Tochter von Lula ist, denn er hat sie ausgesucht. Sie ist sehr kultiviert, hat Wirtschaftswissenschaft studiert, war während der Diktatur in Haft und wurde gefoltert. Sie ist couragiert, idealistisch. Sie musste nun das Erbe Lulas fortsetzen, aber gleichzeitig ihren eigenen Weg finden. Sie suchte einen Kompromiss zwischen der Politik Lulas, die sie nicht ignorieren konnte, und der seines Vorgängers, Fernando Henrique Cardoso, dem sie viel Sympathie entgegen brachte. Sie hat einen sozialdemokratischen Weg eingeschlagen, bei dem sie großen Wert auf die Einhaltung demokratischer Gesetze legte und einen Minister nach dem anderen feuerte, wenn er in Korruptionsverdacht geriet. Das könnte eine sehr interessante Regierung für Brasilien werden, sie versucht, das Bestmögliche zu machen.

    Schumann: Was mich an der brasilianischen Entwicklung irritiert, Herr Jabor, ist der fehlende öffentliche Protest gegen das unglaubliche Ausmaß des politischen Sumpfs. Sie haben diese Unterschriftenaktion erwähnt. Hunderttausend haben auch mal für Rousseffs Antikorruptionspolitik demonstriert. Doch sonst ist es bei diesem Problem im Land recht still geblieben. Wieso geht die vielfach organisierte Zivilgesellschaft nicht auf die Barrikaden?

    Jabor: Das hat verschiedene Gründe. Zuerst einmal ist die politische Bildung in Brasilien minimal, unser Bildungssystem ist insgesamt sehr vernachlässigt worden. Der Informationsgrad des Durchschnittsbrasilianers ist gering. Dann ist das Gefühl der Brasilianer für die Allgemeinheit nicht besonders entwickelt. Deshalb sind sie auch nicht so leicht zu Protesten für allgemeine gesellschaftliche Anliegen zu bewegen. Das war am Ende der Diktatur völlig anders. Die Kultur des sozialen Protestes ist bei uns nicht sehr ausgeprägt. Er entsteht vor allem, wenn er ganz individuelle Belange betrifft. Ein Beispiel: Es gab vor Kurzem einen Marsch von Evangelikalen in São Paulo, der fünf Millionen Personen auf die Beine brachte. Der Marsch der Schwulen in São Paulo brachte es auf drei Millionen.

    Ein weiteres Beispiel: Der Staat Rio de Janeiro wurde im letzten Jahrzehnt von dem Ehepaar Garotinho regiert. Beide wechselten sich als Gouverneure ab, haben ihn regelrecht ausgeplündert und hätten ihn beinahe zugrunde gerichtet, aber die Bevölkerung ließ sie gewähren.

    Schumann: Zurzeit findet aber in der Stadt Rio genau das Gegenteil statt: Ein Bürgermeister rüstet sie kulturell für die Fußballweltmeisterschaft 2014 auf.

    Jabor: Ja, es gibt Fortschritte. Der Bürgermeister ist sehr gut und ein Beispiel für dieses gewachsene, republikanische Bewusstsein. Allmählich entsteht hier eine Idee von Nation, eine Verantwortung der Gesellschaft für das Ganze. Das hat lange gedauert und mehrere Stationen durchlaufen: von der Diktatur über Sarney, Fernando Henrique bis Lula. Aber jetzt ändert sich etwas.

    Schumann: Es gibt jedoch ein Problem, das ich sehr bedenklich finde und das ein besonderes Gewaltpotenzial darstellt, wir kennen es aus dem Film "Tropa de Elite": die Polizei. Sie hat im letzten Jahr sogar einen Streik gegen die Präsidentin durchgeführt, sodass das Militär eingreifen musste. Ist die Polizei für die Regierung nicht manchmal gefährlicher als die Armee?

    Jabor: Das glaube ich nicht. Die Erfolge der brasilianischen Politik haben objektiv Bedingungen geschaffen, die einen Putsch oder gar eine Diktatur völlig unmöglich machen. Die Polizei hat die Regierung Lula sehr unterstützt, und er selbst hat sehr viel dazu beigetragen, damit sich ihr Ansehen in der Öffentlichkeit verbessern konnte. Natürlich gibt es die Gewaltakte der Milizen, der paramilitärischen Organisationen, die oft aus den Reihen der Polizei kommen. Aber gerade in Rio ist eine positive Entwicklung eingetreten, denken Sie nur an die PP, die Friedenspolizei. Sie hat in einigen Favelas Posten bezogen und konnte sie befrieden. Das ist ein außerordentlicher Erfolg, trotz vieler Probleme. Sie ist insgesamt effektiver geworden, hat sich weiterentwickelt, was oft sehr demagogisch beschrieben wird. Sie tritt oft gewalttätig auf, tötet ohne Motiv, doch das ist auch eine Folge ihres geringen Bildungsgrades: Polizisten sind meist arme Teufel mit Waffen.

    Schumann: Und warum haben diese armen Teufel dann gestreikt?

    Jabor: Brasilien hat in den letzten Jahren unerwartet einen hohen Einnahmeüberschuss erzielt. Und die bestbezahlten öffentlichen Angestellten, die 5000 oder 6000 Dollar im Monat verdienen, glaubten einen Streik anzetteln zu müssen, um ihre Gehälter noch weiter zu erhöhen. Als die Präsidentin entschieden Nein sagte, haben sie die Polizei mobilisiert. Sie haben schließlich doch zurückgesteckt, nachdem die Regierung ihnen ein wenig entgegengekommen war. Dilma Rousseff macht ihre Sache ziemlich gut, und sie hat den festen Willen, das Land weiterzuentwickeln. Lula hat sich am Schluss nur noch um seinen Nachruhm gekümmert. Dilma hat es geschafft, dass Brasilien jetzt einen Aufbruch erlebt. Die Brasilianer sind dabei, ihre eigenen Möglichkeiten, ihre eigenen Kräfte zu entdecken. Und das ist äußerst wichtig.

    Schumann: Aber besitzt die Präsidentin überhaupt noch den nötigen politischen Rückhalt? Lula hatte eine starke Machtbasis in seiner Arbeiterpartei und durch seine merkwürdigen politischen Allianzen. Dilma Rousseff hat jedoch durch ihren entschiedenen Antikorruptionskurs viele Bündnispartner verloren. Ist das nicht eine Gefahr für sie?

    Jabor: Vielleicht ist das eine Gefahr für ihre Bündnisfähigkeit. Aber die Öffentlichkeit verehrt sie. Sie besitzt nahezu 80 Prozent Zustimmung. Sie ist auch keine Demagogin: Sie will das verwirklichen, an das sie wirklich glaubt. Brasilien ist heute zur Demokratie verurteilt oder besser gesagt: verpflichtet. Es ist enorm groß und verfügt über große Reichtümer. Es dürfte sehr schwer sein, es an der Entwicklung zu hindern.

    Schumann: Ist mit dieser Entwicklung auch das Bewusstsein für Ausbildung gewachsen? Der Facharbeitermangel ist ja schon in Deutschland ein Problem.

    Jabor: Die Ausbildung hat ein großes Gewicht erhalten, denn der Markt ist stark gewachsen. Die Unternehmen suchen händeringend nach Arbeitskräften, Fachleuten vor allem, und finden nicht genügend. Und Brasilien wächst immer weiter. Ein großer Politiker, Osvaldo Aranha, hat einmal gesagt: "Brasilien wächst im Schlaf."

    Schumann: Ist Brasilien also das Land der Zukunft, wie oft behauptet wird?

    Jabor: Ich glaube nicht, dass es ein Land der Zukunft ist, denn wir wissen ja gar nicht, ob wir überhaupt Zukunft haben. Ich glaube an die permanente, sich ständig verändernde Gegenwart. Die Idee von der Zukunft ist veraltet. Der französische Dichter Paul Valéry hat einmal geschrieben: "Die Zukunft ist lediglich das, was sie war." Ich liebe diesen Ausspruch. Sich Brasilien als Land der Zukunft vorzustellen, erinnert mich auch an den Satz: "Gott ist Brasilianer." Gott war nie Brasilianer, denn Brasilien lebt in der Gegenwart.
    Brasiliens Präsident Lula da Silva in Porto Alegre
    Brasiliens Präsident Lula da Silva in Porto Alegre (AP)
    Ein Soldat zeigt mit seinem Gewehr auf die Favela El Aleman in Rio de Janeiro
    "Polizisten sind meist arme Teufel mit Waffen." (picture alliance / dpa / Antonio Lacerda)