Lange: Herr Ziegler, Sie sprechen von einem sozialen Krieg in Brasilien. Was meinen Sie damit?
Ziegler: Ganz sicher ist, dass Brasilien heute, wie Sie es gesagt haben, formell eine sehr, sehr lebendige, große, mächtige Demokratie ist. Es ist eine große Wirtschaftsmacht. Es ist eine große technologische Macht. Gleichzeitig leben in Brasilien 55 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze, sind also permanent schwerstens unterernährt. 55 Millionen der 173 Millionen, das ist die Zahl der brasilianischen Bischofskonferenz. Die Regierung gibt in ihrem Bericht an die UNO "nur" 23 Millionen an. Nach Regierungszahlen sind 23 Millionen Männer, Frauen und Kinder permanent schwerstens unterernährt. Hunderte sterben jede Woche am Hunger. Ich sage es noch einmal: gemäß der katholischen Kirche, der Bischofskonferenz, die sich auf ganz genaue Untersuchungen stützt, sind 55 Millionen Menschen in Brasilien permanent schwerstens unterernährt. Ich sage es noch einmal: das in einem Land, das technologisch, wenn man zum Beispiel den Flugzeugbau im Staate Sao Paulo anschaut, industriell in den Südstaaten, finanziell, wenn man die Sao-Paulo-Börse anschaut, zu den Großmächten unserer Zeit gehört.
Lange: Brasilien gilt als Industriestaat - Sie haben es erwähnt -, zumindest als Schwellenland. Muss diese Sicht nach Ihrer Ansicht jetzt grundlegend korrigiert werden?
Ziegler: Nein! Es gibt in Brasilien eigentlich zwei Länder. Es gibt Deutschland und Frankreich, also ein hochentwickeltes Industrieland, und gleichzeitig gibt es Somalia oder ähnliches in diesem riesigen Land, acht Millionen Quadratkilometer. Was ganz fürchterlich ist, das ist die soziale Ungleichheit. In der UNO-Statistik sind das die zwei ungleichsten Staaten. Das Kriterium ist: man vergleicht die 20 Prozent der ärmsten Menschen im Land mit den 20 Prozent der reichsten Menschen im Land und stellt die Distanz fest. Südafrika und Brasilien sind die beiden ungleichsten Länder der Welt auf der heutigen UNO-Statistik. Für Südafrika kann man das ohne weiteres und sofort begreifen. Das ist die Nacht der Apartheid. Die inkarnierte, organisierte, mörderische Ungleichheit ist ja noch sehr nah. Südafrika wurde frei. Die ersten demokratischen Wahlen fanden im April `94 statt.
Lange: Aber was ist die Ursache für Brasilien?
Ziegler: Die Ursache für Brasilien ist - ich sage es ein wenig banal - der bodenlose Egoismus und die Blindheit der an sich sehr kompetenten brasilianischen Eliten. Der Nordosten, der Norden, also die Latifundium-Staaten, die noch fast komplett in den Strukturen der Kolonialzeit verharren, obschon die Sklaverei ja 1888 abgeschafft worden ist, dann die Menschen, die in den Großstädten leben. Zehn Millionen Menschen leben zum Beispiel in der größten Stadt Lateinamerikas Sao Paulo. Sechs von diesen zehn Millionen leben in Elendsquartieren, in Kanisterhütten. Zwischen diesen Menschen, die total ausgeschlossen sind und die auch nicht gesehen werden von den herrschenden Eliten, die ja immer und immer wieder die Regierung stellen. Es gibt keine Sozialpolitik. Es gibt praktisch keine Agrarreform. Die geht im Schneckentempo vor sich. Dabei leben immer noch 49 Prozent der Brasilianer auf dem Land, wo das Latifundium oder die multinationalen Gesellschaften herrscht, die riesige Ländereien monopolisieren. Drittens gibt es das Problem der total ungleichen Einkommensverteilung, also praktische Sklavenarbeit. Es gibt den Mindestlohn, den sowieso nicht alle kriegen. Man sagt etwa 30 Prozent der armen Brasilianer kriegen den Mindestlohn, der jetzt bei 180 Real liegt, was weniger als 90 Dollar im Monat entspricht. Die Preise sind hoch! Also Einkommensverteilung, keine wirkliche Agrarreform und überhaupt keine Sozialpolitik von irgendwelcher Kohärenz für die ärmsten Gruppen, das sind die technischen Gründe für die mörderische Situation. 40.000 Morde gibt es in diesem riesigen Land. Schließlich haben Sie den Klassenkrieg erwähnt. Ein kleiner Teil ist sicher der weltweiten organisierten Kriminalität zuzurechnen, die auch Brasilien nicht verschont, aber der ganz größte Teil - das sagen die Menschenrechtsorganisationen, das sagt die parlamentarische Opposition - ist eine ganz klassische, wie das Victor Hugo gesagt haben, Selbstverteidigungskriminalität, weil die Menschen einfach am Hunger umkommen.
Lange: Herr Ziegler, die Regierung hält ihre Politik der Armutsbekämpfung für erfolgreich und macht auch geltend, Sie hätten die Verantwortlichen bei Ihren Gesprächen dafür gelobt. Haben Sie den Medien etwas anderes erzählt als der Regierung?
Ziegler: Nein! Als UNO-Sonderberichterstattung für das Recht auf Nahrung hat man ganz bestimmte Regeln. Die sind von der UNO vorgegeben. Ich war mit meinen Mitarbeitern, Ökonomen, Juristen, auch einem Soziologen, drei Wochen lang in Brasilien. Wir sind durch acht ganz verschiedene Regionen gefahren. Immer wurde nach UNO-Reglement gehandelt. Einerseits musste mit den Regierungsstellen diskutiert werden, mussten die Dokumente entgegengenommen werden, also die Bundesregierung in Brasilien. Ich wurde vom Staatschef sehr lange zu einem eindringlichen Gespräch empfangen, auch vom Außen- und Wirtschaftsminister und so weiter, aber auch von den Gouverneuren in den Staaten bis zu den Prefectos und einigen Bürgermeistern von großen und kleinen Ortschaften. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist nach UNO-Reglement die so genannte Zivilgesellschaft: Bauernbewegungen, Gewerkschaften, kirchliche Organisationen. Die so genannte Zivilgesellschaft ist in Brasilien unglaublich lebendig.
Lange: Das ist also durchaus ein Land mit Chancen?
Ziegler: Natürlich! Das ist erstens materiell ein unglaublich reiches Land. Menschlich ist Brasilien ein Universum, das absolut faszinierend ist, mit der afrikanischen, der indianischen, den vielen europäischen Kulturen. Die Brasilianer sind meist unglaublich herzliche, energische Menschen. In der Zivilgesellschaft gibt es eine Solidarität und eine aktive Menschenliebe, wie ich sie selten gesehen habe. Aber die Distanz, der Bruch mit dieser jahrhundertealten, total in ihren Vorurteilen, in ihrer Arroganz versteinerten so genannten Herrschaftsschicht ist praktisch total. Daher kommt auch dieses unsinnige Elend, unsinnig im ideologischen Sinn. Es ist menschengemacht. Es gibt riesige Reichtümer.
Lange: Herr Ziegler, wir müssen zum Schluss kommen. Gleich kommen die Nachrichten bei uns. Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch. Die Begeisterung des Schweizers für die Südamerikaner hörte man deutlich durch. - Das war Jean Ziegler, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Auf Wiederhören Herr Ziegler!
Link: Interview als RealAudio