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Brasiliens Regenwald
Wie der Dschungel funktioniert

Brasiliens Regenwald wird oft als Wiege der Biodiversität angesehen. Doch paradiesische Zustände herrschen dort nur auf den ersten Blick. Die Wälder sind fragile Systeme, die zunehmend Gefahren ausgesetzt sind. Wird an großen Flächen gerodet, wird der Regenwald schnell zu einer Kohlendioxidquelle.

Von Michael Stang | 06.01.2013
Bis über die Baumkronen hinaus ragt der Messturm zwei Stunden nördlich von Manaus.
Der Amazonas Regenwalds bedeckt sechs Millionen Quadratkilometer in Südamerika, etwas sechzig Prozent davon sind in Brasilien. (Imago / Westend61)
Um die Wälder Brasiliens zu verstehen, muss man sie von oben gesehen haben, sagt Dschungelflieger Ricardo Bock. Mit einem Wasserflugzeug will er seinen Gästen die Amazonasmündung zeigen.

Das Flugzeug vom Typ Cessna Caravan erhebt sich von einem kleinem Nebenarm des größten Stroms der Erde, nur wenige Kilometer von Manaus entfernt. Der Nebenarm fließt in den gewaltigen Amazonas, wie ein Meer breitet er sich unter dem Flugzeug aus. Der Pilot zeigt auf einen rosa Amazonasdelfin, der sich an der Wasseroberfläche zeigt. Rechts und links des Wassers tauchen Stück für Stück riesige Waldlandschaften auf. Baumkronen, wohin man blickt. Sie gelten als Wiege der Vielfalt. Der brasilianische Regenwald wird oft als Herberge oder Ursprung der Biodiversität angesehen. Niederschlag und Nährstoffe liefert er reichlich, so dass Tiere und Pflanzen in allen Formen und Farben nebeneinander leben können. Doch paradiesische Zustände herrschen dort nur auf den ersten Blick. Die Wälder sind fragile Systeme, die zunehmend Gefahren ausgesetzt sind. Neben dem Klimawandel setzen vor allem Abholzungen den zum Teil jahrtausendealten Waldlandschaften zu.

Der Park des Nationalen Instituts für Amazonasforschung, kurz INPA, in Manaus. Neben Kautschukbäumen stehen hier Palmen mit fünf Meter langen Blättern, Mangobäume tragen zuckersüße Früchte, es gibt Papayas, Sternfrüchte und Bananen. Seit 1998 forscht Jochen Schöngart hier, in der Hauptstadt Amazoniens, auch wenn sein Arbeitgeber, das Max-Planck-Institut für Chemie, in Mainz sitzt. Jochen Schöngart ist auf dem Weg in sein Labor. Sein Spezialgebiet sind die Jahresringe von Bäumen.
Manche Bäume sind 400 Jahre alt
Im Flur des Instituts lehnen an der Wand zahlreiche Baumscheiben, einige so groß, dass selbst der mit 1,90 Metern hoch gewachsene Forscher Mühe hätte, sie zu stemmen. Viele Exemplare stammen aus den eher trockenen Waldstandorten, andere aus den Überschwemmungswäldern. Die Scheiben unterscheiden sich deutlich in der Struktur der Rinde, aber auch in Farbe, Größe und Anzahl der Jahresringe.

"Wenn man dann Bäume hat, die auch sehr alt werden, 200, 300, 400 Jahre, kann man natürlich auch anhand dieser Beziehungen das Klima rekonstruieren."

In der wissenschaftlichen Literatur war lange Zeit ignoriert worden, dass auch Tropenbäume Jahresringe bilden. In gemäßigten Breiten führen saisonale Temperaturschwankungen zu einem jährlichen Wachstumsrhythmus und damit zur Bildung von Jahresringen. Hier in den tropischen Tiefländern gibt es derartige Temperaturschwankungen nicht. Aber wiederkehrende Rhythmen existieren dennoch, etwa die Niederschlagsmenge. Einer ausgeprägten Trockenzeit folgt einmal im Jahr eine Regenzeit. Schöngart:

"Diese Regenfälle führen dazu, dass die Flüsse ja jährlich eine Überschwemmung haben und eine Niedrigwasserperiode und auch das kann zur Bildung von Jahresringen bei Tropenbäumen führen."

Jochen Schöngart und seine Kollegen haben bislang mehr als 7000 Bäume untersucht, von Hunderten von Arten aus verschiedenen Ökosystemen und alle zeigen Ringstrukturen. Und die Datenbank wird stetig größer. Die Anzahl und die Ausprägung der Ringe ermöglichen den Blick in die Vergangenheit. Wann gab es länger andauernde Trockenzeiten? Waren diese vergleichbar mit den extrem trockenen Jahren wie 2005 und 2010? Und wann gab es regenreiche Jahre, in denen die Bäume schnell und viel wachsen konnten? Erstmals können die Forscher anhand solcher Daten die Klimageschichte der Bäume im brasilianischen Regenwald beleuchten. Dieses Wissen ist die Voraussetzung für Entscheidungen auf ökologischer, wirtschaftlicher und politischer Ebene.

"Dann müssen Sie natürlich wissen, wie lange braucht ein Baum um solche Dimensionen zu haben, die ich möchte. Braucht der 100 Jahre, braucht der 1000 Jahre? Das macht natürlich, wenn wir langfristig denken, einen riesigen Unterschied, und da sind das Baumalter und die Zuwachsraten eine ganz wichtige und entscheidende Kenngröße."
Der Nationalpark Serrania de Chiribiquete in Kolumbien mit dem Amazonas
Der größte Tropenwald-Nationalpark der Welt (AFP)
Forscher messen Atmung des Waldes
Letzten Endes dreht sich alles um zwei Fragen. Wie funktioniert das System Regenwald? Und wie stabil ist es? Alles hängt davon ab, welche Kreisläufe den Regenwald prägen. Um sie zu verstehen, müssen die Forscher die Atmung des Waldes messen.

Das Forschungscamp ZF2 nördlich von Manaus. Nur eine einzige Straße führt aus der Metropole Amazoniens heraus. Fährt man drei Tage weiter Richtung Norden, kommt man nach Caracas, der Hauptstadt Venezuelas. Nach einer Stunde Fahrtzeit warten zwei Jeeps am Waldrand. Für den Busfahrer, der das Team vom INPA hierher gebracht hat, ist hier Endstation. Denn die 34 Kilometer lange Lehmpiste in den Regenwald lässt sich nur mit Allradfahrzeugen meistern. Nach einer weiteren Stunde Fahrt erreichen wir das Camp. Eine zweistöckige Hütte mit Küche dient als Lager, Forschungsstation und Lehranstalt. Obwohl sich niemand großartig bewegt hat, sind alle durchgeschwitzt. 34 Grad Celsius Lufttemperatur und eine sehr hohe Luftfeuchtigkeit lassen auch Jochen Schöngart zerfließen. Selbst nach all den Jahren habe er sich in dieser Hinsicht noch immer nicht akklimatisieren können.

"Ja, wir sind hier mitten in Zentralamazonien." Wenn alle ausgepackt haben, soll es zu einem der Messtürme gehen. "An den Türmen werden verschiedene Parameter erhoben, erst einmal die ganzen meteorologischen Parameter wie Windgeschwindigkeit, Windrichtung, Niederschlag, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Sonneneinstrahlung."
CO2-Bilanz wird erforscht
Die wichtigsten Messungen sind aber die der CO2-Konzentrationen. Die große Frage, die alle Forscher hier beschäftigt, lautet: Wie viel CO2 nehmen die Bäume auf und wie viel geben sie wieder ab?

"Tagsüber, über die Photosynthese, geht Kohlendioxid von der Atmosphäre in den Wald hinein. Durch Atmungsvorgänge der Pflanzen wird Kohlendioxid emittiert, so dass es interessant ist zu wissen, wenn man über das ganze Jahr hinweg 24 Stunden pro Tag misst, ob die Bilanz in der CO2, ob der Wald eine Kohlenstoffsenke ist oder eine Kohlenstoffquelle."

Nach wie vor fehlt eine klare Antwort. Die Gruppe macht sich auf den Weg zum Messturm. Teil des Forscherteams ist auch Carlos Alberto Quesada, der sich mit langer Hose und Gummistiefeln durch den Urwald kämpft. Seit zehn Jahren kommt er regelmäßig hierher, manchmal bleibt er drei Wochen am Stück.

"In diesem Projekt arbeiten mehr als hundert Wissenschaftler, die verschiedenen Fragestellungen nachgehen. Die Hauptfrage ist aber: Wie funktioniert der Wald? Wie wachsen Bäume und wie schnell und wie alt werden sie überhaupt? Alle Parameter haben großen Einfluss auf die Struktur des Regenwaldes, ebenso die Frage, ob es Nährstoffe gibt, die das Wachstum beschleunigen oder verlangsamen und wie das alles zusammen mit dem Klimawandel reagiert."

Kurz vor dem Turm weist der Forscher zu einem kleinen zugewachsenem Seitenweg. Nach 20 Metern zeigt sich ein tiefes Loch: "In dieser Grube können wir den Boden untersuchen. Hier sieht man, dass die Wände mit Folien abgedeckt sind, um eine Verdunstung zu verhindern. Alle anderthalb Meter haben wir Sensoren befestigt, die den Feuchtigkeitsgehalt konstant bis in 15 Metern Tiefe messen."

Der Feuchtigkeitsgehalt gibt den Forschern an, wie viel Wasser den Bäumen zum Leben und Wachsen zur Verfügung steht. Beim Blick in die Tiefe sieht man neben Wurzeln, die ins Freie ragen, auch das Grundwasser. Quesada: "Der Boden wirkt ja als Filter, so dass man das Wasser locker trinken kann, kein Problem, das ist gut und frisch."
System kann schnell kippen
Um die benötigten Daten zu gewinnen, nehmen Quesada und seine Kollegen aber nicht nur Bodenproben und analysieren das Grundwasser. "Wir messen auf einem Hektar Waldfläche alle Bäume und begleiten sie über viele Jahre hinweg. Wir kehren regelmäßig zurück und schauen, wie sie gewachsen sind, was sich verändert hat, messen also den ganzen Bestand und notieren auch, wann und wo Bäume gestorben sind."

Quesada geht es nicht um das Alter einzelner Bäume, sondern um den Gesamtbestand. Werden tote Bäume rasch ersetzt, so dass hinsichtlich des Alters immer ein Gleichgewicht herrscht? Die aktuellen Daten zeigen, dass der Dschungel noch immer CO2 aufnehmen kann, wenn auch nur in geringem Maße. Und leichte Änderungen im System könnten das System kippen lassen. Denn: Wird an großen Flächen gerodet, wird der Regenwald schnell zu einer Kohlendioxidquelle. Diese Erkenntnisse hätten ein Umdenken bei ihm und seinen Kollegen ausgelöst. Der Urwald sei so instabil wie nie. Wenn er einen Wunsch frei hätte, was würde er gerne wissen? Quesada:

"Nun, wenn wir das Klima der Zukunft kennen würden, das wäre schon schön. Wir haben zwar heute viele Klimamodelle, die uns helfen. Leider werfen sie aber meist viel mehr Fragen auf als sie uns beantworten."

Nach insgesamt einer Stunde Fußmarsch ist die Gruppe am Ziel. Vor uns erhebt sich ein Metallgerüst. Der Messturm ist 54 Meter hoch. Er liefert Tag und Nacht Daten. Um auf die Spitze zu gelangen, muss man viele Leitern erklimmen. Nicht allen ist die Höhe geheuer. Oben angekommen weht ein dankbares Lüftchen und der Ausblick ist atemberaubend. Ringsherum erstrecken sich bis zum Horizont dicht bewachsene Hügellandschaften, einzig ein weiterer Messturm ist erkennbar, ansonsten nur Baumkronen so weit das Auge reicht. Auf der Plattform, gut 15 Meter oberhalb der höchsten Bäume, wartet Klimaforscher Antonio Manzi, der die Messungen hier leitet. Der Turm schwankt leicht. Anfangs habe er sich noch festhalten müssen, verrät Manzi, mittlerweile könne er die Aussicht entspannt genießen.

"Wir kommen jede Woche für ein, zwei Tage hierher, um Daten abzurufen und alles zu kontrollieren. Viele Daten werden via Satellit direkt zu uns ins Labor nach Manaus geschickt, aber einige müssen vor Ort abgeholt werden."

Trotz jahrzehntelanger Forschung erscheine ihm der ganze Regenwald immer noch wie ein einziges Paradoxon. Erst langsam bekomme er eine Ahnung davon, wie der Dschungel funktioniert.

"Während der Trockenzeit ist die Verdunstungsrate höher als in der Regenzeit. Denn in der Trockenphase gibt es weniger Wolken, die das System blockieren. Die Wurzeln saugen das Wasser aus dem Boden und versorgen so den Baum, und das Ganze geht mit weniger hydrologischem Stress einher, als wenn die Bäume von den Wolken abhängig sind. Daher kann der ganze Wald viel Wasser verdunsten."

Eigentlich hätte er bei den Messungen höhere Photosyntheseraten erwartetet, aber die Messtechnik sei manchmal noch fehleranfällig, konkrete Aussagen seien daher mitunter schwierig.

"Während der Regenzeit ist die Atmosphäre hier äußerst sauber, da gibt es nur wenige Aerosole, also Partikel, die die Kondensation in Gang bringen. Die Wälder produzieren diese Aerosole mithilfe von Pollen, Sporen und Bakterien, diese reagieren und oxidieren in der Atmosphäre und bilden das Gerüst für Kristalle die die Transpiration wieder ankurbeln."

Im August 2012 hatten Mainzer Chemiker im US-Fachmagazin "Science" geschrieben, dass Kaliumsalze aus Pilzen und Pflanzen die Bildung von Aerosolpartikeln starten. Das würde bedeuten, dass der Regenwald seinen eigenen Niederschlag produzieren kann. Jedoch sei diese Erkenntnis im Prinzip auch nur ein winziges Detail, so Antonio Manzi.
Das letzte ungelöste Rätsel in der klassischen Physik?
"Dieser ganze Austausch von Material, Gas und Energie in den tieferen Ebenen des Regenwaldes und der unteren Atmosphäre ist unglaublich komplex, meiner Meinung nach das letzte ungelöste Rätsel in der klassischen Physik."

Der Schuh drückt ihn noch an anderer Stelle. Nachts beginnen die Pflanzen den am Tage produzierten Zucker zu verbrennen und geben anschließend Kohlendioxid ab. Der Boden kühlt jedoch gleichzeitig aus. Dadurch steigt weniger warme Luft auf als tagsüber und das Kohlendioxid kann von den Sensoren oben an den Messtürmen nicht erfasst werden. Die daraus folgende fehlerhafte Interpretation: Das CO2 wird gespeichert. In Wahrheit wird es aber nicht aufgenommen, sondern wird zum Teil sogar über Bachläufe aus dem Wald gespült. Um diesen Messfehler zu vermeiden, haben die Forscher das bilaterale Atto-Projekt zwischen Brasilien und Deutschland gestartet. Atto steht für Amazonian Tall Tower Observatory. 320 Meter hoch soll der Messturm werden, der Ende des Jahres 150 Kilometer nordöstlich von Manaus seine Arbeit aufnehmen soll, so hoch, dass er keine Unterschiede mehr zwischen Tag und Nacht erkennen kann. Er erfasst nur noch den langfristigen Trend im CO2-Kreislauf. Antonio Manzi:

"Mit dem großen Messturm werden wir bessere Daten erhalten und die Mechanismen des Austauschs zwischen dem Boden und der Atmosphäre besser verstehen können, diese ganzen Zyklen. Das Ziel ist wirklich zu begreifen, wie diese Wolkenbildung mit den Prozessen am Boden zusammenhängt."

Der Abstieg vom Turm geht schneller als der Aufstieg. Das Erklimmen von Leitern wird beim Atto-Turm nicht mehr notwendig sein. Die Wissenschaftler werden dann auf fünf Plattformen von einem Aufzug in den nächsten wechseln. Den Kohlendioxidhaushalt des brasilianischen Dschungels werden die Klimaforscher zuverlässiger als bislang verfolgen können. Dann wird sich zeigen, ob der amazonische Regenwald der Atmosphäre überhaupt noch große Mengen CO2 entzieht oder ob sich die Aufnahme und Abgabe des Treibhausgases im Gleichgewicht befindet. Und solche Messungen seien eben nur in großer Höhe möglich, so Jochen Schöngart, der sich die Kletterei erspart und unten gewartet hat.

"Die Idee ist, einen 320 Meter hohen Turm hier mitten in den Regenwald zu stellen; der reicht dann schon in die atmosphärische Grenzschicht und ist somit nicht mehr diesen Tag-Nachtvariationen ausgesetzt."

Gleichmäßige Messungen über Jahre hinweg erst können wirklich Aussagen darüber erlauben, wie das System Regenwald funktioniert.

"Durch diese Passatwinde werden dann die schon im Austausch befindlichen Luftmassen zwischen der Biosphäre und der Atmosphäre an den Turm herangetragen von einer Fläche, die mehrere hundert Quadratkilometer, vielleicht sogar 2000 Quadratkilometer umfasst, und damit bekommt man dann, wenn man über 20, 30 Jahre 24 Stunden pro Tag misst, schon sehr aussagekräftige Daten, ob der Regenwald als CO2-Quelle oder CO2-Senke fungiert, was sein Beitrag ist für die Wolkenbildung über die Emittierung von Aerosolen, das ist eine Hauptfrage."

Bevor es dunkel wird, macht sich die Gruppe bereit für den Rückweg ins Camp. Innerhalb der Wissenschaftlerriege werden die Daten und deren Interpretationen nicht einhellig akzeptiert. Einer der Skeptiker ist der emeritierte Professor Prakki Satyamurty von der State University of Amazonas in Manaus. Der 70-jährige Forscher kümmert sich nur noch um Manzis Studenten. Ihnen versucht er auch kritisches Denken zu vermitteln. Nicht nur in der Frage des komplizierten Kohlenstoffkreislaufs, sondern auch bei der umstrittenen Rolle der Aerosole. Was braucht der Wald, damit es hier regnen kann?

"Ich habe mir diese Frage viele Male gestellt: Ist die Regenmenge tatsächlich vom Vorhandensein oder dem Fehlen von Aerosolen abhängig? Meine Antwort ist: Nein. Das ist keine Variable, die den Regenfall bestimmt."
Forscher bemühen sich um ganzheitliche Betrachtung
Nach der neuen Theorie bedarf es einer bestimmten Menge an Aerosolen einiger Aerosole, damit es im Regenwald regnen kann. Satyamurty:

"Die entscheidende Frage ist doch: Vor 80, 90 Jahren, also die Zeit um 1920, also kurz vor der industriellen Revolution, lag die CO2-Konzentration bei 250 Teilen einer Million. Auch die Aerosole waren damals selten. Heutzutage ist die CO2-Konzentration aber viel höher, aber die Niederschlagsmenge hat sich nicht geändert. Heute regnet es im Amazonasregenwald genauso viel wie damals."

Er sei sich seiner Außenseiterposition bewusst, fügt Prakki Satyamurty an, aber wenn eine Theorie eine Schwachstelle hat, solle man auch darauf hinweisen. Um das komplexe System wirklich zu verstehen und zu beschreiben, bedarf es zwingend einer ganzheitlichen Betrachtung.

"Nicht ein Faktor ist für den Regen verantwortlich, sondern eine Vielzahl. Viele Forscher entwickeln Modelle, die relativ simpel sind. Wenn ich aber ein Modell mit nur vier oder fünf Faktoren habe, vor allem was die Daten aus der Historie betrifft, kann ich nur einen kleinen Teil überblicken. In der großen Rechnung bleiben da aber noch viele Unbekannte, das funktioniert manchmal, es macht die Modelle aber auch fehleranfällig."

Je später es wird, desto lauter zirpen die Zikaden. Antonio Manzi, Prakki Satyamurty und Alberto Quesada fahren noch am Abend zurück nach Manaus, der Rest der Gruppe übernachtet in Hängematten im Camp.

In den Morgenstunden im Hafen von Manaus. Fischer tragen ihre Fänge zu den Verkaufsständen, am Wasser tummeln sich Händler, Helfer und Touristen. Florian Wittmann steht an der Reling, auch er ist am Mainzer MPI für Chemie angestellt, arbeitet aber in Manaus. Das Boot ist gepachtet, ein eigenes Forschungsschiff kann sich das Institut nicht leisten. Der Hafen liegt am Rio Negro, dem gewaltigen Schwarzwasserfluss. Nach einer halben Stunde Fahrt hört das schwarze Wasser abrupt auf und geht in helleres Gewässer über. Wittmann:

"OK, wir sind hier am Zusammenfluss zwischen Rio Solimões und Rio Negro, ab hier Richtung Osten nennt sich der Fluss Amazonas."

Die Ströme verbinden sich zu einem Fluss, der 180 Mal mehr Volumen hat als der größte europäische Fluss, die Wolga. An seinen Ufern quer durch Amazonien haben sich viele Menschen angesiedelt. Kleinbauern bauen Maniok an, verschiedenes Gemüse wie Tomaten, Zucchini und Kürbisse. Sie kommen auf bis zu drei Ernten im Jahr. Der Boden ist sehr fruchtbar. Denn die Felder werden jedes Jahr überschwemmt und bekommen auf diese Weise neue Nährstoffe. Seit zehn Jahren forscht Florian Wittmann an den Waldwasserflüssen. Die beiden Flüsse fließen 80 Kilometer nebeneinander, bevor sich der schwarze Rio Negro und der weiße Rio Solimões endgültig vermischen. Florian Wittmann zeigt auf die beiden Flusstypen.
Flüsse Amazoniens sind sehr nährstoffreich
"Sichtbar ist diese unterschiedliche Färbung dieser Gewässertypen und das ist ganz charakteristisch für Amazonien. Die sind schwarz gefärbt, weil eben die Flüsse und die Einzugsgebiete sehr stark bewaldet sind, dadurch kommt es eben zu einer Akkumulierung der Biomasse, vor allem durch Bäume, durch Blätter und zum Freisetzen von Huminsäuren und die färben eben das Wasser schwarz und machen das Wasser auch sauer."

Beide Flüsse unterscheiden sich nicht nur in der Farbe, sondern auch in den pH-Werten und in der Temperatur. "Die Weißwasserflüsse kommen direkt aus den Anden, dadurch sind diese Weißwasserflüsse eben sehr sedimentreich, weiß gefärbt wie Milchkaffee und sind im Vergleich zu den restlichen Ökosystemen Amazoniens eben sehr nährstoffreich."

Das wirkt sich auf die umliegenden Wälder aus, ebenso auf die Vegetation und die Fauna.

"Wir haben in den Überschwemmungswäldern dieser Weißwassergebiete etwa 1000 Baumarten inzwischen aufgenommen, das ist natürlich ein unglaublicher Artenreichtum, also, das sind die artenreichsten Überschwemmungswälder weltweit, nur im Weißwasser, im Schwarzwasser haben wir etwa 600."

Und bei den regelmäßigen Trips in die Überschwemmungswälder kommen weitere Bäume hinzu: Immer wieder entdecken Taxonomen bei der Artbestimmung bislang unbekannte Spezies. Aber warum sind die Regenwälder am Amazonas so artenreich? In den Überschwemmungsgebieten des Rio Negro etwa überlebt sogar eine Baumpopulation, die jedes Jahr 320 Tage im oder unter Wasser steht. Diese Bäume haben gerade einmal einen Monat Zeit zu wachsen. Dabei handelt es sich um die knorrigen Vertreter von Eschweilera tenuifolia, deren Stämme stark in sich verdreht sind. Ringanalysen zeigten, dass die Bäume extrem langsam wachsen. Die Jahresringe sind sehr fein, denn während der Überflutung kommt kein Sauerstoff an die Wurzeln. Dieser reduzierte physiologische Stoffwechsel bedingt gleichzeitig ein hohes Alter. Einige Bäume sind mehr als 1000 Jahre alt.

Das Boot hat sein Ziel erreicht, wir legen an. Nasse Füße bekommt hier kaum einer. Denn jetzt, Ende September, ist es ziemlich trocken. Der Flusspegel sinkt bis zu 20 Zentimeter am Tag. Wir gehen über einen Bretterpfad, der vor einer Woche noch im Wasser stand. Im Entenmarsch, angeführt von Florian Wittmann, läuft die Gruppe immer tiefer in den Wald. Dann lichtet sich der Dschungel und der Weg endet an einer kleinen Plattform. Von hier aus überblickt man einen alten Seitenarm des Amazonas. Da der Fluss ständig sein Bett verändert, ist hier ein See entstanden, abgeschnitten vom Hauptfluss. Nur in der höchsten Hochwasserphase steht er mit dem Fluss in Verbindung.

"Die geschlossene Waldgrenze befindet sich bei etwa 7,5 Meter Höhe über Wassersäule, also Überflutung. Die Amplitude generell zwischen Hoch- und Niedrigwasser hier am Amazonas in Zentralamazonien liegt zwischen zehn und zwölf Metern, in den letzten Jahren durch häufig auftretende Extremhochwässer und Extremniedrigwässer etwas angestiegen, so etwa zwölf Metern."

Durchschnittlich 230 bis 250 Tage im Jahr sind die Wurzeln hier überschwemmt. Um überleben zu können, müssen die Bäume flexibel sein. "Die haben eine ganze Bandbreite von spezifischen Anpassungen an diese periodische Sauerstoffarmut. Dabei ist entscheidend zu sagen, dass nicht eine einzige Anpassung oder eine spezifische Anpassung entscheidend ist für die Etablierung der Art an diesem Standort, sondern eine Kombination verschiedener Anpassungen. Das können morphologische, physiologische oder sogar biochemische Anpassungen sein, die zum Teil noch gar nicht bekannt sind."

Bekannt sind viele morphologische Anpassungen. Manche Bäume haben Luftwurzeln ausgebildet, andere besitzen so genannte Lentizellen im Stamm. Diese ermöglichen auch unabhängig von den Wurzeln einen Stoffwechseltransport zwischen Stamm und Atmosphäre. Einige Bäume werfen bei Hochwasser ihr Laub ab. Die Forscher sprechen dann vom physiologischen Winter. Aber auch andere Anpassungen, etwa auf chemischem Niveau, gibt es, wie zum Beispiel die erhöhte Konzentration von Antioxidantien: dann sorgen unter anderem Vitamin E oder C in Blättern und Früchten dafür, dass die Bäume den Fluten trotzen. Florian Wittmann:

"Das bedeutet einfach, dass während der Hochwasserphase die Wurzeln ein Sauerstoffproblem haben, dass zuwenig Sauerstoff vorhanden ist, um die Pumpe des Stoffwechsels, also den Wassertransport und Nährstofftransport in der Pflanze aufrechtzuerhalten, zudem sind natürlich viele Blätter überschwemmt, das heißt die sind dann auch völlig abgeschnitten vom Licht, das heißt also diese Keimlinge dieser Bäume überdauern komplette Dunkelheit und Sauerstoffreduzierung über sieben, acht Monate im Jahr und müssen deshalb natürlich diese speziellen Anpassungen haben."
Ein Mann und eine Frau fahren mit einem Boot auf einem Fluss, dessen Ufer dicht bewaldet sind.
Ein Fluss im Mangrovenwald im brasilianischen Teilstaat Para. Viele Bäume stehen hier den Großteil des Jahres unter Wasser (dpa/Werner Rudhart)
Bäume nutzen ökologische Nischen
Florian Wittmann und seine Kollegen haben in den vergangenen Jahren untersucht, wo die mehr als 1000 fluttoleranten Baumarten leben. Zehn Prozent von ihnen kommen nur in diesen Weißwasserüberschwemmungsgebieten vor. Je höher der Grad ihrer Spezialisierung ist, desto weiter reichen auch diese speziellen Anpassungen in der Evolution zurück. Einige haben sich vermutlich vor mehr als 100.000 Jahren entwickelt. Und die ökologischen Nischen sind zahlreich.

"Die Arten, die ein bis drei Meter hoch überflutet sind, die kommen niemals in Habitaten vor, die sechs oder bis sieben Meter überflutet werden."

Weil es viele verschiedene Nischen gibt, entsteht Vielfalt. Damit sind diese Überschwemmungsgebiete vermutlich der Grund für den Reichtum des brasilianischen Regenwaldes. Florian Wittmann und Jochen Schöngart wollen mit ihren Forschungen Grundlagen für politische Entscheidungen liefern, etwa nach welchen Kriterien Schutzzonen für die Wälder errichtet werden sollen. Da es in Amazonien Wasserstandsschwankungen von mehr als zehn Metern gibt, macht es einen großen Unterschied, ob die Schutzstreifen vom Höchstwasserstand oder vom Niedrigwasserstand aus definiert werden. Nimmt man den Höchstwasserstand, dann sind automatisch die Überschwemmungsgebiete in der Schutzzone enthalten. Setzt man jedoch den Minimalstand als Referenz, um die Schutzstreifen zu definieren, ist ein Großteil der Überschwemmungsgebiete der Vernichtung ausgesetzt. Die Vorstellungen der Forscher wurden durchaus gehört. Schöngart:

"Wir waren dann sehr erfreut darüber, dass sechs Monate später im November 2010 ein neues Waldgesetz hier im Bundesstaat Amazonas zur Bewirtschaftung dieser Weißwasserüberschwemmungsgebiete entlassen worden ist, die dann anfangen tatsächlich zum ersten Mal nach Baumartengruppen differenzierte Managementkonzepte im Gesetz niederzulegen und das führt zu einer Waldbewirtschaftung."

Die Vielfalt des amazonischen Regenwaldes ist in Gefahr. Zwar zeigt der Kampf gegen die Abholzung des Dschungels im Amazonas erste Erfolge, jedoch sind die Verluste der letzten Jahre enorm. Neuen Daten zufolge wurden im vergangenen Jahrzehnt rund 240.000 Quadratkilometer Regenwald zerstört – das ist mehr Fläche als Großbritannien auf sich vereint. Als Grund hat das Amazonas-Informationsnetzwerk Anfang Dezember neben illegalem Holzeinschlag auch den Bau von Autobahnen und Staudämmen verantwortlich gemacht, sowie den Bergbau nebst Öl- und Gasförderung. Um den Wald mit seiner einzigartigen Vielfalt gezielt zu schützen, wollen und müssen die Forscher weiter Daten sammeln. Es geht darum, das sensible System Regenwald zu verstehen. Ob sie es jedoch schaffen werden, die Gesellschaft und die Politik nachhaltig von der Notwendigkeit von Schutzzonen zu überzeugen, ist nicht abzusehen. Letztendlich sei es oft ein zäher Kampf, so Jochen Schöngart, mit ungewissem Ausgang.

"Gesetzgebungen sind meiner Meinung nach stark beeinflusst von der Agrarindustrielobby. Brasilien ist eine wachsende Wirtschaftsmacht, die hauptsächlich ihr Wachstum finanziert und das geht natürlich immer auf Kosten der Regenwälder."
Luftbildaufnahme von einem zerstörten Waldgebiet am Amazonas in Brasilien.
Brandrodungen zerstören immer größere Flächen im Amazonas-Regenwald. (LULA SAMPAIO / AFP)