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Brauchen multikulturelle Gesellschaften eine Leitkultur?

Mit 18 Jahren, erzählte die Muslimin Necla Kelek, gab sie sich einen Ruck. Gerade volljährig geworden, ging sie zu einem Schnellimbiss und - aß eine Bratwurst. Sie aß also Schweinefleisch und erwartete, ein zorniger Gott würde sie nun vom Blitz erschlagen lassen. Doch nichts passierte. Nach muslimischen Maßstäben hatte sie gesündigt - aber sie fühlte sich gut.

Von Ingeborg Breuer | 13.12.2007
    Für sie ein Grund, aus dem System der Angst, dem System der Regeln und Verbote, die, wie Necla Kelek meint, mit dem Islam verbunden sind, auszubrechen.

    " Ich kann den Staat nicht in Frage stellen, Religion nicht, Prophet sowieso nicht, meinen Vater nicht, meinen Bruder nicht, meine Mutter nicht. Immer habe ich jemanden der über mir ist, dem ich zu gehorchen habe. Und ganz oben, der darüber wacht, ist Gott. "

    Für das aufgeklärte Europa und den Islam gebe es kaum eine gemeinsame Sprache, urteilte die türkisch-deutsche Soziologin Dr. Necla Kelek in ihrem Vortrag. Sogar da, wo die selben Begriffe verwendet werden, bedeuten sie etwas Verschiedenes. Freiheit zum Beispiel sei für ihre muslimische Mutter etwas Schreckliches: bedeute, vogelfrei, der Gewalt der Männer ausgesetzt zu sein. Und im Arabischen meint Freiheit - als Gegenbegriff zur Sklaverei - die Freiheit, Allah zu dienen. Die Freiheit, anderer Meinung zu sein, die Freiheit zur Kritik dagegen, kenne der Islam nicht. Dies jedoch sei gerade das Gütezeichen der europäisch-aufgeklärten Zivilisation: an jeder Wahrheit zweifeln zu dürfen, hinter jeden Satz ein skeptisches Fragezeichen und keinen Punkt zu setzen. In Europa gilt dies nicht als Zeichen von Schwäche, sondern geradezu als Kern der Zivilisation.

    " Was Europa mir bietet, zum Beispiel meine Ratio zu benutzen, ich werde sogar aufgefordert, rational zu denken. Auch kritisch zu denken, kritisch nachzufragen, zum Beispiel mit Religion und der Islam hat sich bis heute nicht so einer kritischen Herausforderung gestellt, und für mich ist es eine Chance, hier in Europa das zu tun. "

    Nachdrücklich warnte die streitbare Soziologin davor, die Unvereinbarkeit der Gesetze, die in den türkisch-muslimischen Parallelgesellschaften herrschen und den Grundwerten westlicher Gesellschaften klein zu reden. Für Necla Kelek ist der einzelne Moslem zwar schon, der Islam als Institution jedoch nicht in den europäischen Wertekonsens zu integrieren. Sie wendet sich deshalb gegen eine staatliche Anerkennung des Islam als Körperschaft öffentlichen Rechts, gegen besondere Gruppenrechte der einzelnen Islam-Vereine. Professor Jörn Rüsen vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen allerdings fand das Urteil über "den Islam" dann doch zu pauschal. Die teilweise archaisch-patriarchalischen Vorstellungen türkisch-muslimischer Migrantencommunitys seien keineswegs repräsentativ für "den Islam".

    " Frau Kelek hat vollkommen recht, wenn Sie analysiert, was der Fall ist. Nun bin ich Historiker und habe gelernt in langfristigen Perspektiven zu denken. Man sollte nicht vergessen, dass die katholische Kirche noch Ende des 19. Jahrhunderts. den Liberalismus und der Mensch- und Bürgerrechte als ein Werk des Teufels ausgegeben hat. Es hat lange gebraucht, diese Rechte zu akzeptieren. Und solche Chancen längerfristiger Entwicklungen sollte man dem Islam geben. "

    Dass jede Gesellschaft eine Leitkultur, gemeinsame Grundüberzeugungen und -orientierungen brauche, damit sie ihren Zusammenhalt bewahre, war bei allen Teilnehmern der Podiumsdiskussion Konsens. Die multikulturelle Gesellschaft sei hierzulande zwar Realität, erläuterte der Politologe und Präsident der deutschen Bundestages Dr. Norbert Lammert. Doch Multikulturalismus könne kein politisches Konzept sein. Multikulturelles Laisser-faire könne nämlich dazu führen, manchen Mitgliedern der Gesellschaft Grundrechte gerade zu verweigern: etwa wenn Frauen nach islamischem Recht zwar die gleiche Würde, jedoch keineswegs die gleichen Rechte wie den Männern zugesprochen werden. Kritisches Hinsehen und Einstehen für die eigenen Werte statt gleichgültiger Toleranz seien dann erforderlich, mahnte auch die Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek eindringlich:

    " Das zwölfjährige Mädchen wird verschachert von ihrem Vater. Ich erwarte diesen kritisch-rationalen Blick, den die Christen an sich selbst haben, mit diesen Fragen auch den Islam anschauen und ganz klar fragen, warum tust du das mit deiner Tochter, deinem Sohn, warum herrschst du, warum gründest du eines Vaters Staat? Das sind alles Individuen und die haben Rechte. "

    Die europäische Leitkultur umfasst das Bekenntnis zu den Werten der Aufklärung, zur Freiheit und Gleichheit aller Menschen, zur Mündigkeit. Jörn Rüsen vom Institut für Kulturwissenschaft gar wollte solche Werte nicht auf Europa beschränkt wissen. Die abendländischen Werte sind für ihn universal und in einer globalisierten Welt die einzige Chance, wie Menschen friedlich miteinander auskommen können.

    " Wir haben eine säkulare zivilgesellschaftliche Kultur. Diese Kultur ist eine Bedingung dafür und das einzige weltgeschichtliche Beispiel, in dem sämtliche Religionen auf der Ebene der Gleichheit friedlich miteinander umgehen können. Diese Leitkultur steht überhaupt nicht zur Disposition, weil es überhaupt keine Alternative dazu gibt. Die Alternative wäre ein Rückfall in ältere Lebensformen, wo eine Ausrichtung das Sagen hat, und die anderen müssen sich anpassen und haben einen minderen Status. "

    Jörn Rüsen kritisierte mit solch starken Worten einen Relativismus, demzufolge unsere säkulare Zivilgesellschaft eine vorwiegend westliche Erfindung sei und ihre Werte in anderen Ecken dieser Welt keine Gültigkeit hätten. Durchsetzbar aber sind unsere Überzeugungen, darauf wies Norbert Lammert realitätsnäher hin, vor allem in unserem eigenen Land. Hier können wir darauf bestehen, dass die Grundwerte unserer Verfassung von allen respektiert werden müssen. Hier zumindest sollten demokratische Prinzipien selbstbewusst verteidigt und vorgelebt werden, forderte Necla Kelek. Denn dann könne sich auch der Islam langfristig modernisieren und für die Ideen der europäischen Aufklärung öffnen. Zur Zeit allerdings hege sie diese Hoffung nicht.

    " Ich sehe mich in der Minderheit. Ich sehe nicht, dass viele diese Art, wie ich Kritik übe, teilen. Für mich ist das in der großen Gruppe, die in Europa lebt seit 40 Jahren zu wenig. Warum ist das so wenig, warum kann es nicht sein, dass nach 40 Jahren diese Säkularisierung, die man genossen hat und Kinder geboren hat, die in der vierten Generation hier leben, nicht fruchtet, sondern genau so rückwärtsgewandt der Islam gelebt wird? Mir machen diese Lebensumstände viel mehr Sorgen, als dass ich hoffnungsvoll sage, es wird sich bestimmt ändern. "