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Brecht in Britain

Bestimmt hat es auch mit dem 50. Todestag von Bertolt Brecht zu tun, dass das Londoner National Theatre jetzt das "Leben des Galilei" auf die Bühne gebracht hat. Die Übersetzung besorgte der Dramatiker David Hare, der das Stück als eines der größten Dramen des intellektuellen Betrugs bezeichnet hat. Am Theater erhofft man sich einen Sommer-Hit. Aber hat Brecht den Briten überhaupt noch was zu sagen?

Von Walter Bohnacker |
    Brecht starb während der Probenarbeiten zum "Leben des Galilei" in Berlin. Helene Weigel und das Berliner Ensemble gastierten zur gleichen Zeit in England. Die Tournee wurde ein glänzender Erfolg. Wie aus unlängst veröffentlichten Dokumenten des britischen Außenministeriums hervorgeht, wäre Brecht selbst die Einreise sehr wahrscheinlich verweigert worden. Die deutsche Botschaft in London hatte ihn ohnehin schon seit 1953 boykottiert.

    Zu einem Brecht-Boykott auf den britischen Bühnen aber ist es nie gekommen, im Gegenteil. Auf der Insel war er stets eine feste Größe. Nirgends außer in Deutschland habe er so nachhaltig gewirkt wie in England, sagte der Dramatiker David Edgar beim Brecht-Jubiläum 1998. Vor allem die Dramen der so genannten "Zornigen jungen Männer" der 1960er und 70er Jahre – Osborne, Amis, Arden und Bond – sie, so Edgar, wären ohne Brecht schlicht undenkbar gewesen.

    Natürlich lag Brecht auch auf der Insel nicht immer auf konstant hohem Kurs. Aus der Mode geriet er mit Beginn der Ära Thatcher Ende der 70er Jahre. Und spätestens nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kommunismus in Osteuropa schien er ein für allemal passé. Den posthumen Todesstoß führte John Fuegi vor gut zehn Jahren, als er in seiner Brecht-Biographie die Autorschaft einiger Stücke in Zweifel zog und den Kollektivarbeiter BB als Plagiator enttarnte.

    An den Amateur- und Studentenbühnen in der Provinz reiht sich zur Zeit eine Produktion an die andere: vom "Arturo Ui" in Bristol bis zum "Kaukasischen Kreidekreis" in Bromsgrove! Wenn sein "Galilei" nun an das Londoner National Theatre zurückkehrt, dann beweise dies, so Benedict Nightingale, Theaterkritiker der TIMES, vor allem eins: Brecht habe nicht nur überlebt, er sei sogar aktueller als je zuvor.

    Überlebt hätten die Stücke vor allem Brechts eigene Ideologie und Dramaturgie. Seine marxistische Dialektik, aber auch sein episches Theater, all das nehme man in England schon längst nicht mehr ernst.

    Das Interessante und das Aktuelle an Brecht sei seine intellektuelle Schärfe. Daher hätten sich britische Regisseure immer schon weniger auf seine Ideologie als auf die spezifisch Brechtsche Theatralik konzentriert, also auf die psychologische Komplexität seiner Figuren.

    Eine solche ist der Londoner Galilei. Mit Simon Russell Beale ist die Rolle glänzend besetzt. Man sieht: Dieser Galilei leidet unter dem Entschluss zum Widerruf seiner Lehre. Und man erlebt ihn in seiner ganzen Arroganz. Am Schluss ist er ein gebrochener Mann, der sich vor sich selbst ekelt.

    Der Protagonist überzeugt, vielleicht aber hätte Regisseur Howard Davies noch etwas mehr Brecht wagen sollen. Die dreistündige Aufführung liefert zwar Denkanstöße, aber was die politische und wissenschaftliche Brisanz der Thematik angeht – der Wissenschaftler an den Grenzen der Forschung, im Konflikt mit der Autorität und im Kampf mit seinem Gewissen – da bleibt die Inszenierung auf halbem Wege stehen. Hier moderne Kostümierung und Kabarett-Einlagen, dort historisiendes Schauspiel: Mit einer klaren Entscheidung zugunsten des einen oder des anderen hätte daraus tatsächlich ein ganz aktueller Brecht werden können.

    "Ist die Zeit für Brechts Rehabilition gekommen?" fragte ein Kritiker im Vorfeld der Premiere. Die Frage scheint sich zu erübrigen: Eine Ehrenrettung hat er gar nicht nötig. Dass er wieder – und immer noch – Konjunktur hat, auf dem flachen Land wie in der Metropole, beweist auch das Londoner Young Vic-Theater, das soeben sein Programm für die neue Spielzeit bekannt gab. Am Young Vic gibt es nächstes Jahr gleich viermal Brecht.