Ein Gießerei-Arbeiter am 20. Juni 1953 im Berliner Sender RIAS. Er hat drei Tage zuvor den Aufstand in Jena beobachtet, am 17. Juni, vormittags.
Ehrig:Auf einmal dieser Rummel, der Krach, die Arbeiter kamen hoch in die Klasse zu uns gerannt, da waren solche Transparente unterhalb der Fenster aufgehängt und die wollten die runterwerfen, die haben sie auch runtergestoßen.
Die Arbeiter der Zeiss-Werke, von Schott, Jenapharm und anderen Betrieben demonstrieren. Inge Ehrig ist 17 und geht in die Schule in der Wagnerstraße
Ehrig:Der Hauptzug dieser Arbeiter ging zum Gefängnis, brachen das Gefängnis auf und stürmen das Gefängnis. Das habe ich richtig miterlebt. Wir sind dann alle runter, ist ja klar, es war dann kaum noch einer in der Schule
Bley:Und vor uns ging auch ein junges Mädchen, vielleicht in unserem Alter, und plötzlich packt ein Arbeiter dieses Mädchen - so vorne an der Brust - und sagt: 'Nimm das FDJ-Abzeichen ab und spuck' drauf'. Und die guckte so verdattert, und dann hat der die rechts und links geohrfeigt und ließ sie stehen und zog weiter. Was mir Angst gemacht hat
Dennoch läßt sich die damals 14jährige Sieglinde Bley von der aufgeheizten Stimmung mitreißen. - Der 39jährige Landwirt Kurt Unbehauen, ein wenige Tage zuvor enteigneter Molkereibesitzer, fährt am 17. morgens nach Jena, um seinen Stiefvater zu suchen. Der ist bei der Erstürmung des Gefängnisses freigekommen.
Unbehauen: Unterhalb vom Marktplatz, keine 100 Meter, war das Hotel Weimarer Hof. Und dort saßen die ganzen Verbrecher drin: Der Landrat, der hat die Stasi losgejagt, das war der Hauptverbrecher, der...Und ich kam dorthin und habe laut gerufen: Kommt mit mir, hier unten sitzen doch die Hauptverbrecher, die habt ihr vergessen. Jetzt gehn wir alle da runter. Und die ganze Menschenmenge ist mir gefolgt. Unten rein...Die sind alle hinten zum Fenster raus und getürmt.
Kurt Unbehauen wird zu einem der Anführer der Erhebung in Jena
Unbehauen: Es kommt zu einer Situation, wo man nicht mehr danach fragt, was da geschehen war, was man auch mit mir gemacht hatte, da fragt man nicht mehr, wie es ausgeht. Das war mir egal.
Die Filialen des Regimes werden gestürmt: Gewerkhaftshaus, FDJ, Kulturbund. Etwa zwanzigtausend Menschen versammeln sich auf dem zentral gelegenen Holzmarkt vor der SED-Kreisleitung.
Starke: Sprechchöre erschallten: "Spitzbart, Bauch und Brille, nicht des Volkes Wille." Junge Männer kletterten die Fahnenmasten hoch und rissen die verhassten Fahnen herunter...
Der Lehrer Ernst Starke
Starke:Akten, Papiere, Broschüren flogen aus den Fenstern der Parteizentrale und flatterten über die Menge. Geschrei in einer Ecke. Dort wurde ein verhasster "Bonze" verprügelt. Es gab keine Uniformen mehr, keine Polizei. Das Deutschlandlied wurde gesungen, erst leise, dann immer lauter.
Währenddessen wird oben im Gebäude der SED-Kreisleitung verhandelt. Für die Aufständischen spricht der Schlosser Alfred Diener, neben ihm der 30jährige Lagerist Walter Scheler.
Scheler:Damals ging es überhaupt nicht um Normerhöhung, es ging um Einheit und freie Wahlen. Und meine Kohlearbeiter haben gesagt, komm du bist der Mann, du kannst besser reden wie wir, oder dich besser ausdrücken, du vertrittst unsere Meinung.
Der Anfang vom Ende des Aufstands beginnt mittags nach der Erklärung des Ausnahmezustands. Sowjetische Panzer umstellen zunächst die Großbetriebe, dann gehen sie auch gegen die Demonstranten auf dem Holzmarkt vor. Der technische Zeichner Manfred Huche:
Huche:Ein Straßenbahnführer versuchte durch Hin- und Herrangieren eines Wagens den Panzern den Weg zu versperren, was ihm durch das zögerliche Vorgehen des Führungspanzers zunächst auch gelang. Aber schließlich rammte der Panzer den noch auf den Schienen stehenden Wagen, schob ihn weg und zerquetschte ihn.
Wörthmüller:Ich sprang in dem Drang, "selber etwas zu tun", mitten vor einen Panzer, um ihn am weiterfahren zu hindern. Für Sekunden gelang mir das.
Ethelinde Wörthmüller, damals Studentin in Jena.
Wörthmüller:Ich sah von vorn durch den Sehschlitz den Fahrer. Es war ein junger Mongole. Jung wie ich. Und er hatte einen völlig versteinerten Blick. Ich hatte ihn in eine Zwangslage gebracht. Hatte er Weisung, rücksichtslos weiterzufahren? Im Moment kam es mir so vor. Ich sprang zur Seite. Minuten später schossen die Panzer. Zwar nur in die Luft, aber es genügte, um die Menschenmenge auseinander zu treiben. Der Aufstand war gescheitert.
Vergeblich warten die Menschen auf dem Holzmarkt auf die Rückkehr der Verhandlungsdelegation. Sie sitzt fest. Der Unterhändler Walter Scheeler:
Scheeler: Wie sie merkten, daß wir abgeschlossen waren und nicht mehr raus kamen aus dieser SED-Kreisleitung, die versuchten ja mit Baugerüsten und Leitern uns dort rauszuholen. Es klappte nicht. Ja, und dann kamen wir in Kasernen nach Zwätzen...Wir waren ungefähr 12 Leutchen, die da runterkamen aus der SED-Kreisleitung...Unterwegs sagte der Diener noch, haltet dicht, ich nehme alles auf mich. Das vergeß ich mein Leben nicht.
Walter Scheeler wird später zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt, der Landwirt Kurt Unbehauen bekommt lebenslänglich.
Starke:Die Nacht kam. Ich stand immer noch am Fenster.
erinnert sich der Lehrer Ernst Starke:
Starke:In den Straßen war Autolärm, Motorenlärm zu hören, dazu manchmal Gehupe und Geschrei. Die Stasi begann wohl ihr finsteres Werk. Wieder eine Lautsprecherdurchsage: "Der Rädelsführer Diener wurde gefasst und standrechtlich erschossen."
Ehrig:Auf einmal dieser Rummel, der Krach, die Arbeiter kamen hoch in die Klasse zu uns gerannt, da waren solche Transparente unterhalb der Fenster aufgehängt und die wollten die runterwerfen, die haben sie auch runtergestoßen.
Die Arbeiter der Zeiss-Werke, von Schott, Jenapharm und anderen Betrieben demonstrieren. Inge Ehrig ist 17 und geht in die Schule in der Wagnerstraße
Ehrig:Der Hauptzug dieser Arbeiter ging zum Gefängnis, brachen das Gefängnis auf und stürmen das Gefängnis. Das habe ich richtig miterlebt. Wir sind dann alle runter, ist ja klar, es war dann kaum noch einer in der Schule
Bley:Und vor uns ging auch ein junges Mädchen, vielleicht in unserem Alter, und plötzlich packt ein Arbeiter dieses Mädchen - so vorne an der Brust - und sagt: 'Nimm das FDJ-Abzeichen ab und spuck' drauf'. Und die guckte so verdattert, und dann hat der die rechts und links geohrfeigt und ließ sie stehen und zog weiter. Was mir Angst gemacht hat
Dennoch läßt sich die damals 14jährige Sieglinde Bley von der aufgeheizten Stimmung mitreißen. - Der 39jährige Landwirt Kurt Unbehauen, ein wenige Tage zuvor enteigneter Molkereibesitzer, fährt am 17. morgens nach Jena, um seinen Stiefvater zu suchen. Der ist bei der Erstürmung des Gefängnisses freigekommen.
Unbehauen: Unterhalb vom Marktplatz, keine 100 Meter, war das Hotel Weimarer Hof. Und dort saßen die ganzen Verbrecher drin: Der Landrat, der hat die Stasi losgejagt, das war der Hauptverbrecher, der...Und ich kam dorthin und habe laut gerufen: Kommt mit mir, hier unten sitzen doch die Hauptverbrecher, die habt ihr vergessen. Jetzt gehn wir alle da runter. Und die ganze Menschenmenge ist mir gefolgt. Unten rein...Die sind alle hinten zum Fenster raus und getürmt.
Kurt Unbehauen wird zu einem der Anführer der Erhebung in Jena
Unbehauen: Es kommt zu einer Situation, wo man nicht mehr danach fragt, was da geschehen war, was man auch mit mir gemacht hatte, da fragt man nicht mehr, wie es ausgeht. Das war mir egal.
Die Filialen des Regimes werden gestürmt: Gewerkhaftshaus, FDJ, Kulturbund. Etwa zwanzigtausend Menschen versammeln sich auf dem zentral gelegenen Holzmarkt vor der SED-Kreisleitung.
Starke: Sprechchöre erschallten: "Spitzbart, Bauch und Brille, nicht des Volkes Wille." Junge Männer kletterten die Fahnenmasten hoch und rissen die verhassten Fahnen herunter...
Der Lehrer Ernst Starke
Starke:Akten, Papiere, Broschüren flogen aus den Fenstern der Parteizentrale und flatterten über die Menge. Geschrei in einer Ecke. Dort wurde ein verhasster "Bonze" verprügelt. Es gab keine Uniformen mehr, keine Polizei. Das Deutschlandlied wurde gesungen, erst leise, dann immer lauter.
Währenddessen wird oben im Gebäude der SED-Kreisleitung verhandelt. Für die Aufständischen spricht der Schlosser Alfred Diener, neben ihm der 30jährige Lagerist Walter Scheler.
Scheler:Damals ging es überhaupt nicht um Normerhöhung, es ging um Einheit und freie Wahlen. Und meine Kohlearbeiter haben gesagt, komm du bist der Mann, du kannst besser reden wie wir, oder dich besser ausdrücken, du vertrittst unsere Meinung.
Der Anfang vom Ende des Aufstands beginnt mittags nach der Erklärung des Ausnahmezustands. Sowjetische Panzer umstellen zunächst die Großbetriebe, dann gehen sie auch gegen die Demonstranten auf dem Holzmarkt vor. Der technische Zeichner Manfred Huche:
Huche:Ein Straßenbahnführer versuchte durch Hin- und Herrangieren eines Wagens den Panzern den Weg zu versperren, was ihm durch das zögerliche Vorgehen des Führungspanzers zunächst auch gelang. Aber schließlich rammte der Panzer den noch auf den Schienen stehenden Wagen, schob ihn weg und zerquetschte ihn.
Wörthmüller:Ich sprang in dem Drang, "selber etwas zu tun", mitten vor einen Panzer, um ihn am weiterfahren zu hindern. Für Sekunden gelang mir das.
Ethelinde Wörthmüller, damals Studentin in Jena.
Wörthmüller:Ich sah von vorn durch den Sehschlitz den Fahrer. Es war ein junger Mongole. Jung wie ich. Und er hatte einen völlig versteinerten Blick. Ich hatte ihn in eine Zwangslage gebracht. Hatte er Weisung, rücksichtslos weiterzufahren? Im Moment kam es mir so vor. Ich sprang zur Seite. Minuten später schossen die Panzer. Zwar nur in die Luft, aber es genügte, um die Menschenmenge auseinander zu treiben. Der Aufstand war gescheitert.
Vergeblich warten die Menschen auf dem Holzmarkt auf die Rückkehr der Verhandlungsdelegation. Sie sitzt fest. Der Unterhändler Walter Scheeler:
Scheeler: Wie sie merkten, daß wir abgeschlossen waren und nicht mehr raus kamen aus dieser SED-Kreisleitung, die versuchten ja mit Baugerüsten und Leitern uns dort rauszuholen. Es klappte nicht. Ja, und dann kamen wir in Kasernen nach Zwätzen...Wir waren ungefähr 12 Leutchen, die da runterkamen aus der SED-Kreisleitung...Unterwegs sagte der Diener noch, haltet dicht, ich nehme alles auf mich. Das vergeß ich mein Leben nicht.
Walter Scheeler wird später zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt, der Landwirt Kurt Unbehauen bekommt lebenslänglich.
Starke:Die Nacht kam. Ich stand immer noch am Fenster.
erinnert sich der Lehrer Ernst Starke:
Starke:In den Straßen war Autolärm, Motorenlärm zu hören, dazu manchmal Gehupe und Geschrei. Die Stasi begann wohl ihr finsteres Werk. Wieder eine Lautsprecherdurchsage: "Der Rädelsführer Diener wurde gefasst und standrechtlich erschossen."