Freitag, 19. April 2024

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Brexit und Wissenschaft
"Jeder sechste Akademiker ist vom EU-Festland"

Der harte Brexit wäre für die Wissenschaft ein herber Schlag, sagte Ulrike Tillmann, Mathematikerin und Professorin an der Universität Oxford, im Dlf. Die Fördergelder des europäischen Forschungsrates könnten wegfallen. Zudem seien viele Wissenschaftler verunsichert, wie es mit ihrem Aufenthaltsrecht weitergehe.

Ulrike Tillmann im Gespräch mit Ralf Krauter | 16.01.2019
    Gebäude in Oxford
    Ein harter Brexit wäre für die Wissenschaft "ein großes Chaos", sagte Ulrike Tillmann im Dlf (imago stock&people)
    Ralf Krauter: Die Mathematikerin Ulrike Tillmann ist seit vielen Jahren Professorin an der Universität Oxford und war bis November auch Vizepräsidentin der altehrwürdigen Royal Society. Als wir sie vor einem halben Jahr in dieser Sendung befragt haben zu den möglichen Folgen des Brexits für den Forschungsstandort Großbritannien, hat sie gesagt: "Wir befinden uns in einer kritischen Phase und machen uns Sorgen über die Zukunft." Grund zur Panik sah sie damals aber noch nicht. Ich habe Ulrike Tillmann vorhin gefragt, ob sie nach den Ereignissen gestern Abend in Westminster immer noch so gelassen ist.
    Ulrike Tillmann: Es ist sicherlich verschärft worden, weil nämlich der harte Brexit einfach jetzt eine größere Chance hat. Und das wäre wirklich eine Katastrophe. Aber ich glaube trotzdem, man sollte noch nicht in Panik geraten nach dem gestrigen Votum, das ja auch den Vorschlag von Theresa May abgelehnt hat, ist einfach nicht vorhersehbar, was in den nächsten Monaten noch passiert. Diese Unsicherheit ist erst mal beunruhigend. Aber es kommt nun darauf an, was in den nächsten Tagen passiert.
    Der Mehrheit der Parlamentarier ist gegen einen harten Brexit, was ja schon mal sehr gut ist, sodass man hoffen kann, dass das vermieden werden wird. Es wäre für alle Beteiligten mit großen Verlusten verbunden, der harte Brexit. Aber wenn nun das Risiko eines harten Brexits gestiegen ist, ist nun auch vielleicht die Wahrscheinlichkeit gestiegen, dass der Brexit verschoben werden muss oder es erst gar nicht dazu kommt. Aber der harte Brexit - das wäre ein großer Schlag, auch gerade für die Wissenschaft.
    Da kann man so einiges benennen, zum Beispiel: Im Moment gibt es ungefähr 45 Millionen Pakete von Medizin, die vom United Kingdom in die Festland-EU gehen. Und was damit passiert, wie die Regeln dann nachher weiterlaufen mit einem harten Brexit, ist erst mal ganz ungewiss. Vieles wird einfach stoppen müssen. Das besorgt eigentlich alle.
    Es ist auch richtig, dass im Vereinigten Königreich im Moment jeder sechste Akademiker vom EU-Festland ist. Das sind viele, viele Leute, die dann auf einmal nicht wissen, was jetzt weiter passiert. Ähnlich geht es auch vielen Staatsangehörigen Großbritanniens, die im Festland-Europa an Projekten arbeiten und dann auch eventuell sich überlegen müssen, wie es weitergehen soll und ob sie noch in den Projekten bleiben sollen. Also ich glaube, für die Wissenschaft wird es ein großes Chaos werden.
    Ein Immigrationssystem für Wissenschaftler
    Krauter: Die Hoffnung der Scientific Community war ja lange Zeit, dass man - wenn die britische Politik halbwegs rational agieren würde - recht schnell Lösungen für drängende Fragen finden würde, die Forscher umtreiben. Also zum Beispiel das von Ihnen schon angesprochene Thema Freizügigkeit: Also was passiert eigentlich mit den Forschern aus dem EU-Ausland, die im UK arbeiten? Dürfen die da bleiben? Dürfen ihre Familien bleiben? Oder eine andere wichtige Frage: Können britische Forscher auch künftig Zugang zu den Töpfen des europäischen Forschungsrates in Brüssel bekommen und da Projektgelder in Millionenhöhe abzweigen? Eine andere wichtige Frage, die noch im Raum stand: Was passiert eigentlich mit den Studenten? Müssen Studenten aus dem EU-Ausland künftig heftige Studiengebühren bezahlen, wenn die in Großbritannien studieren, was ja den Wissenschaftsstandort weniger attraktiv machen würde? Sind wir Antworten auf all diese Fragen in den vergangenen sechs Monaten irgendwie nähergekommen aus Ihrer Sicht?
    Tillmann: Eigentlich schon. Zum Beispiel diese Freizügigkeit, gerade im wissenschaftlichen Bereich und für Akademiker: teilweise wurde das aufgenommen in einem White Paper der Regierung, wo betont wird, dass gerade Leute, die mit Fähigkeiten und Kenntnissen ins United Kingdom kommen, auch schneller und einfacher dort bleiben können. Also ein Immigrationssystem, das das einfacher machen würde, auch gerade für Wissenschaftler. Das ist natürlich ein White Paper – was daraus wird ist nicht klar.
    Man hat ja damals noch gehofft, dass es zu einem Deal kommt. Die Hoffnung ist ja wahrscheinlich erst mal geringer jetzt, zumindest das noch passiert vor dem März. Aber zumindest ist es einmal durchgedacht worden mit der Regierung. Das war ein Schritt weiter sozusagen - aber alles ist natürlich noch letztendlich offen.
    "Wichtig, dass die Wissenschaft ihre Meinung abgibt"
    Krauter: Haben Sie das Gefühl, dass die Interessen der Scientific Community in Großbritannien beim aktuellen Stand der politischen Debatte noch irgendeine Rolle spielen? Oder sind die Politiker gerade vor allem mit sich selbst beschäftigt?
    Tillmann: Ich glaube, im Moment sind die Fragen, die die Politiker bewegen, doch sehr groß. Aber ich glaube, dass die Scientific Community trotzdem gehört wird, dass deren Meinung auch wichtig ist und wir sie deswegen auch immer wieder betonen. Es ist im Moment einfach eine große Unwissenheit: Was ist wirklich im Interesse der britischen Bevölkerung? Was ist im Interesse verschiedener Parteien? Was ist im Interesse verschiedener Bevölkerungsgruppen? Und so weiter. Ich glaube, es ist schon wichtig, dass die Wirtschaft und die Wissenschaft insbesondere da auch ihre Meinung abgibt und ganz klar sagt, was wir wollen und wie wir am besten arbeiten können.
    Krauter: Was ist denn Ihre ganz persönliche Einschätzung? Sie sind ja Mathematikerin, arbeiten seit vielen Jahren in Oxford als Professorin. Was würden Sie sich wünschen?
    Tillmann: Für mich ist es eigentlich ganz klar: Am liebsten würde ich gar nicht erst den Brexit haben. Wenn man das politisch jetzt nicht durchsetzen kann, dann wäre es natürlich wichtig, dass man möglichst einen Brexit hat, der ordentlich und mit Verträgen auf jeden Fall abgeschlossen wird. Das ist sehr, sehr wichtig, damit alle auch wissen, dass sozusagen die Vernunft auch irgendwo noch mitspielt und dass alles ordentlich abläuft. Und dass die Rechte, die ja auch bestehen, wirklich auch beachtet werden.
    "Harter Brexit wäre für alle Beteiligten eines der schlimmsten Ergebnisse"
    Krauter: Aber die Chancen für diesen geordneten Brexit, die sind ja jetzt seit gestern Abend quasi vom Tisch, weil bis Ende März kann der ja jetzt praktisch nicht mehr gelingen.
    Tillmann: Das stimmt, dass es wahrscheinlich bis Ende März nicht mehr gelingt. Aber es gibt ja auch die Alternativen, dass man eine Verlängerung bekommt, dass man sich einfach mehr Zeit kauft oder eventuell erst mal gar nicht das macht. Das ist, glaube ich, jetzt eine größere Realität geworden als es vielleicht vorher war. Natürlich hat auch der harte Brexit eine größere Chance bekommen. Aber ich glaube, das muss man jetzt wirklich absehen und auch ganz klar sagen, dass der harte Brexit für alle Beteiligten, auch für die anderen EU-Staaten und Mitglieder, eines der schlimmsten Ergebnisse wäre.
    Krauter: Gestern gab es ein gemeinsames Statement des Verbandes der Topuniversitäten im Vereinigten Königreich und in Deutschland. Die fordern politische Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, den wissenschaftlichen Austausch und die bislang extrem produktive Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und der EU wie bisher weiter zu pflegen. Wie hilfreich ist so ein Appell großer Player im Wissenschaftsbetrieb in der aktuellen Situation?
    Tillmann: Das ist eine gute Frage. Ich glaube, die Politik ist eine Wissenschaft des Möglichen oder der Möglichkeiten. Und es ist einfach wichtig, dass man alle Möglichkeiten auch wirklich im Kopf behält. Egal, was jetzt mit dem Brexit passiert: Ich denke, dass es trotzdem möglich ist, dass man auf der wissenschaftlichen Seite einfach zusammenarbeitet. Und es ist einfach wichtig, dass wir das auch tun, so weit wie nur möglich. Die Welt braucht Europa und ein Europa, das zusammenarbeitet. Gerade für die Wissenschaft ist mir das ganz klar, dass Europa eine wichtige Rolle zu spielen hat in der Welt.
    "Europäische Gemeinsamkeit muss im Vordergrund stehen"
    Krauter: Welche Botschaft würden Sie als ehemalige Vizepräsidentin der britischen Royal Society den Politikern in London und Brüssel gerne mit auf den Weg geben für die nächsten Tage und Wochen?
    Tillmann: Ich glaube, am Wichtigsten ist jetzt, einfach auf die Sache zu achten. Dass man wirklich persönliche oder vielleicht sogar parteipolitische Sachen zunächst mal in den Hintergrund stellt und wirklich das Schicksal vom Vereinigten Königreich in den Vordergrund stellt. Und auch natürlich die europäische Gemeinsamkeit ist, eine große wichtige Sache für unsere Zukunft. Und ich hoffe, dass sie das in den Vordergrund stellen können und nicht persönliche Sachen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.