Um so überraschender war es, als dieses Urteil nach 1995 relativiert werden musste. Als nämlich der Fischer-Verlag siebzig Jahre nach Kafkas Tod die Urheberrechte über seine Schriften nicht mehr alleine innehaben konnte, sondern mit anderen Verlagen teilen musste, trat der Frankfurter Stroemfeld-Verlag mit einem neuen Editionsprojekt hervor: die Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Man verwies auf teilweise gravierende Mängel der Fischer-Ausgabe, denn auch diese verändere und interpretiere die Handschrift in untragbarer Weise. Fischers Kafka, so die Kritik, konstruiert zwischen Brods Kafka und dem authentischen Kafka der Handschrift einen Kompromiß. Deshalb macht es sich der Stroemfeld-Verlag zur Aufgabe, nun den Kafka der Handschriften vorzulegen, und zwar schlicht so, dass die Manuskripte faksimiliert und getreu in Druckbuchstaben umgeschrieben werden sollten. Um Kafkas Handschrift in ihrer unveränderten Gestalt zu Wort kommen zu lassen, sollte also auf jede editorische Normalisierung des Textes verzichtet werden. Inzwischen ist dieser zuweilen polemisch geführte Streit zwischen den beiden Editionsprojekten etwas abgeklungen und deutlich geworden, dass beide durchaus nebeneinander bestehen können, denn beide habe ihre Vorzüge. Die Leistung der editorisch progressiveren Stroemfelder Kafka-Ausgabe, die mit der Edition des Process-Manuskrips überzeugte, liegt darin, Kafkas Texte in der Fassung der Handschrift zugänglich zu machen. Die Stärke der editorisch traditionelleren Fischer-Ausgabe dagegen liegt unter anderem in der Kommentierung.
Das beweisen die beiden jüngsten Bände der Fischer-Ausgabe auf eindrucksvolle Weise: Es handelt sich um die ersten beiden der auf insgesamt fünf Bände angelegten Edition von Kafkas Briefen, die unter der Leitung von Hans-Gerd Koch an der Kafka-Forschungsstelle der Universität Wuppertal entsteht. Der erste Band, der die Jahre 1900 bis 1912 abdeckt, ist vor zwei Jahren, der zweite Band über die Jahre 1913 und 1914 in diesem Herbst erschienen. Was diese Ausgabe der Briefe auszeichnet, sind vor allem vier Leistungen: Erstens werden Kafkas Briefe in chronologischer Reihenfolge angeordnet, und nicht wie bisher - etwa in den "Briefen an Miléna" oder in den "Briefen an Felice" - nach Adressaten. Zweitens werden eine allerdings verhältnismäßig kleine Zahl von bisher unveröffentlichten Briefen vorgelegt: zu den insgesamt rund 1500 Briefen kommen 91 ganz oder teilweise neue; einige wenige Briefe blieben den Herausgebern unzugänglich. Drittens sind nicht nur Kafkas eigene, sondern auch die an ihn gerichteten Briefe mit aufgenommen. Viertens schließlich, und hier liegt wohl die größte Leistung dieser Ausgabe, werden die Briefe ausführlich kommentiert. Die sehr kenntnisreichen Kommentare machen damit nicht nur die biographischen und historischen Zusammenhänge deutlich, in denen die einzelnen Briefe geschrieben wurden. Sie zeigen auch die entscheidenden Verbindungslinien zwischen den Briefen und den literarischen Texten auf.
Tatsächlich dürfen Kafkas Briefe, ähnlich wie seine Tagebücher, nicht bloß als ein sekundärer Teil seines Schreibens eingestuft werden. Diese Briefe erproben vielmehr von Anfang an ein literarisches Schreiben, mehr noch: sie sind selber Literatur. Das zeichnet sich schon beim jungen Kafka ab. Bereits mit 18 Jahren inszeniert er das Briefeschreiben als literarisches Experiment. Das zeigt sich schon daran, dass er ein äußerst bewuSSter Briefeschreiber war, der also in seinen Briefen das Briefeschreiben stets mitreflektierte, so etwa im Februar 1902 an seinen Jugendfreund Oskar Pollak:
Ich habe Angst bekommen, dass Du den ganzen Brief nicht verstehst, was will er? Ohne Schnörkel und Schleier und Warzen: Wenn wir miteinander reden, sind wir behindert durch Dinge, die wir sagen wollen und nicht so sagen können, sondern so herausbringen, dass wir einander mißverstehen, gar überhören, gar auslachen […], da wir das fortwährend versuchen und es niemals gelingt, so werden wir müde, unzufrieden, hartmäulig. Wenn wir es zu schreiben versuchten, würden wir leichter sein, als wenn wir miteinander reden, - wir könnten ganz ohne Scham von Straßensteinen und ‚Kunstwart' reden […]. Das will der Brief.
Kurz darauf thematisiert Kafka ein zweites literarisches Moment seines Briefschreibens: es ist nämlich nicht nur ein sehr bewusstes, sondern auch ein exzessives Schreiben. Mit anderen Worten: es kann nicht genug Briefe geben, wie Kafka im August desselben Jahres an Oskar Pollak schreibt: "Ich saß also an meinem schönen Schreibtisch und schrieb den zweiten Brief an Dich. Du weißt, ein Brief ist wie ein Leithammel, gleich zieht er zwanzig Schafbriefe nach." Das ließ sich sogar noch überbieten, wie Kafka an anderer Stelle deutlich machte, indem er geradezu von unerschöpfbaren "Zauberbriefen" träumte:
Ich konnte soviel beschriebene Bogen aus den Umschlägen ziehn, sie wurden nicht leer. Ich stand mitten auf einer Treppe und musste die gelesenen Bogen, nimm es mir nicht übel, auf die Stufen werfen, wollte ich die weiteren Briefe aus den Umschlägen herausnehmen. Die ganze Treppe nach oben und unten war von diesen gelesenen Briefen hoch bedeckt […] Es war ein richtiger Wunschtraum.
Dieses literarische Selbstbewusstsein eines exzessiven Briefschreibens bestimmt selbstverständlich nicht nur Kafkas Briefe an Oskar Pollak, sondern auch die Briefe an seinen lebenslangen Freund Max Brod, ebenso wie diejenigen an seine erste Freundin Hedwig Weiler, vor allem aber diejenigen an seine Verlobte Felice Bauer, an die ein Großteil der Briefe der Jahre 1912 bis 1914 adressiert sind. All diese Briefe erweisen sich dabei auch als der Ort einer zunehmend literarischen Selbstvergewisserung. Sie dokumentieren die innere Loslösung vom Beamtenberuf - Kafka war bekanntlich Jurist in einer Versicherungsgesellschaft - zugunsten der Literatur, des Schreibens. In die Zeit fällt die Entstehung der ersten Texte, etwa die Beschreibung eines Kampfes; 1912 erschienen die Betrachtungen, Kafkas erste Buchpublikation; dann das Urteil, jener Text, den Kafka gegenüber Felice als die eigentliche "Geburt" seines Schreibens vorstellte; und nicht zuletzt auch die Verwandlung. In den Briefen thematisiert er deshalb gerade auch das Ungewöhnliche und Schwierige seines Schreibens sowohl seiner literarischen Texte, als auch seiner Briefe, so etwa im November 1912 an Felice: […] die Geschichte ist ein wenig fürchterlich. Sie heißt ‚Die Verwandlung' sie würde Dir tüchtig Angst machen und Du würdest vielleicht für die ganze Geschichte danken, denn Angst ist es ja, die ich Dir mit meinen Briefen leider täglich machen muss.
Die Briefe wie die frühen literarischen Texte lassen so ein Schreiben erkennen, das nicht einfach und selbstverständlich sein kann - oder will, vielmehr ein schwieriges Schreiben, ein Schreiben voller Zweifel. Es ist ein geradezu selbstquälerisches Schreiben, das sich dadurch vorantreibt und voranzwingt, dass es stets unzufrieden mit sich selber ist. Solche Schwierigkeiten des Schreibens benennt Kafka in einem Brief vom Dezember 1910 an Max Brod:
Ich kann nicht schreiben; ich habe keine Zeile gemacht, die ich anerkenne […]. Mein ganzer Körper warnt mich vor jedem Wort, jedes Wort, ehe es sich von mir niederschreiben lässt, schaut sich zuerst nach allen Seiten um; die Sätze zerbrechen mir förmlich, ich sehe ihr Inneres und muss dann aber rasch aufhören.
An diesem schwierigen literarischen Schreibprozess haben die Briefe einen entscheidenden Anteil, entweder indem sie selber ein problematisches und unsicheres Schreiben darstellen, oder aber indem sie dialektisch - wie in dem Wunschtraum des Zauberbriefs - die Dämme des literarischen Selbstzweifels mit einer Flut von Briefen brechen.
Auch dies macht deutlich, dass die Briefedition einen wichtigen und anspruchvollen Teil der Kafka-Ausgabe darstellt. Hier konnte nicht einfach faksimiliert werden, denn hier mußte in langjähriger Arbeit jeder Anspielung nachgegangen, jede Beziehung biographisch wie literarisch nachgewiesen werden. So ist die Briefedition mit dem Kommentar ein wichtiger Beitrag sowohl zu Kafkas Literatur, als auch zu seiner Biographie. Auf diese Wiese verdeutlichen die Briefe letztlich, wie eng Literatur und Leben bei Kafka zusammengehören. Schreiben wurde ihm zum Leben, Leben zum Schreiben. "Ich habe kein literarisches Interesse", so formuliert dies Kafka - und so machen es die Briefe unmittelbar deutlich, "ich bin nichts als Literatur".