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Briefe als private Öffentlichkeit

Emily Dickinsons Briefe machen neben den Gedichten den Hauptteil ihres Werks aus. Auf Deutsch lagen bisher nur Kostproben vor. Nun ist eine längst überfällige Auswahl dieses umfangreichen Briefwechsels der Dichterin mit Freunden, Verwandten und Persönlichkeiten des literarischen Lebens erschienen.

Von Sabine Baumann | 22.12.2006
    Die Eroberung und Besiedlung des Wilden Westens schien auch den amerikanischen Frauen des 19. Jahrhunderts Unabhängigkeit zu verheißen. Eine Calamity Jane etwa konnte in Männerkleidern rauchend und fluchend als Saloon-Wirtin oder Scout arbeiten. Im Osten bildete Neuengland dagegen mit seiner kalvinistischen Ethik einen Hort von Tradition. Und doch vollzog hier Emily Dickinson - eine der rätselhaftesten Figuren der amerikanischen Literatur, da sie gleichzeitig das domestizierte Frauenideal auf die Spitze zu treiben schien - den Aufbruch in geistiges Neuland.

    Sie hielt sich bewusst selbst ebenso von der Öffentlichkeit fern wie ihre Gedichte. Der Nachwelt offenbarten sie eine erstaunliche Modernität. "Erst heute dacht ich - als mir schien, das ‘Übernatürliche' sei nichts als das Natürliche, entdeckt - | Nicht ‘Offenbarung - ist's - die wartet, | Sind unsere unbestückten Augen -”, schreibt sie zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs in einem von über 1000 erhaltenen Briefen. Dickinsons Briefe machen neben den Gedichten den Hauptteil ihres Werks aus; auf Deutsch lagen davon bisher nur Kostproben vor. Nun ist eine längst überfällige Auswahl dieses umfangreichen Briefwechsels der Dichterin mit Freunden, Verwandten und Persönlichkeiten des literarischen Lebens bei S. Fischer erschienen. Dazu sagt die Herausgeberin und Übersetzerin Uda Strätling:

    "Da kann man sie in allen möglichen Rollen und Masken erleben. Sie schreibt in einem Brief, glaube ich: Erschrick nicht, wenn ich Dir als Sancho Pansa oder aus Hindustan entgegenspringe - also, sie macht selber klar, dass das eine Maskerade ist, was sie da betreibt, auch in den Briefen, dass sie da sich ausprobiert und ihre Stimmen, ihre sprachlichen Mittel erprobt.."

    Während Briefe anderer Schriftsteller häufig deren private Seite zeigen, plaudert Emily Dickinson nur in den ersten Jahren ihrer Korrespondenz offenherzig über ihren Alltag und äußert ihre damals noch schwärmerischen Gefühle für den Bruder Austin und für die Freundinnen. Bald aber fühlt sie sich verlassen. Doch wie die Briefe zeigen, liegt das nicht allein daran, dass sie nicht heiratet, sondern sie kann mit den religiösen Bekehrungswellen jener Jahre nichts anfangen. Ab da zieht sie sich zurück und teilt das, was sie bewegt, nur noch in Anspielungen und Verrätselungen mit, unterzeichnet scherzhaft mit "Judas”, "Fuchs”, "Schüler”, "Strolch” oder sogar mit "Amerika”.

    ""Mir ist wichtig, dass wir Texte haben. Es sind für mich weniger Lebenszeugnisse, sie spricht auch kaum von sich persönlich. Sondern es sind Texte, es ist Werkstatt, es ist Forum, also die Briefe als private Öffentlichkeit. Über diesen Weg sind die Gedichte erstmal in die Welt hinausgelangt."

    Der vom Verlag gewählte Buchtitel "Wilde Nächte. Ein Leben in Briefen” wird den Intentionen der Herausgeberin also nicht gerecht; die im deutschen Sprachraum fehlende Biografie soll die sorgfältig und zugleich zurückhaltend erläuterte Korrespondenz nicht ersetzen. Statt einen voyeuristischen Blick in das Intimleben einer vermeintlichen alten Jungfer mit verklemmten Fantasien zu gewähren, erweisen sich die Briefe Dickinsons vielmehr als Instrumente der Selbstvergewisserung und unerschrockenen Selbsterforschung. Der berühmte "Master”, Adressat einiger besonders leidenschaftlich geharnischter Schreiben, mit denen Dickinson eine Krise, ausgelöst unter anderem von einem Augenleiden, zu bewältigen versuchte, könnte neueren Forschungen und der Herausgeberin zufolge durchaus fiktiv sein und Dickinsons ungeheuer freie Auslotung von Macht und Unterwerfung bezeugen. Die Briefe an ihren späteren Geliebten, einen Freund des Vaters, sind im Vergleich viel verspielter. Was die Briefe dagegen enthüllen, sind Dickinsons literarische Interessen, ihre Inspiration durch die Bibel, Dickens und Shakespeare, ihr lebhaftes Interesse an zeitgenössischen Schriftstellerinnen und die Weitläufigkeit ihrer Fantasie: "Mein Blumen sind nah und fern”, schreibt sie einer Freundin, "durchschreite ich den Raum, stehe ich auf den Gewürzinseln.”

    Emily Dickinson erweitert ihre Korrespondenz über den Kreis von Familie und Freunden hinaus und professionalisiert ihn, indem sie einem Zeitungsherausgeber und weiteren Kollegen ihre Werke zeigt. Warum sie ihre insgesamt 1800 Gedichte, die sie für sich in selbst genähten Heften zusammenstellte, jedoch unter keinen Umständen veröffentlichen wollte, dazu meint die Herausgeberin:

    "Ihre Menschenscheu wird da sicherlich auch eine Rolle gespielt haben. Die Vorstellung eines öffentlichen Auftretens, und sei es in Schriftform, war ihr sicher nicht ganz geheuer. Aber ich meine, das Entscheidende muss das andere gewesen sein, dass sie, wenn überhaupt, dann ihre Gedichte richtig gelesen haben wollte."

    Denn der Briefwechsel macht erschütternd deutlich, dass selbst den literarisch Gebildeten unter ihren Adressaten das rechte Verständnis für ihre gewagten Denkfiguren fehlte, dass sie keine Blumen wollten, die sich als Symbole für explosive Gedanken über existenzielle Fragen entpuppten. Von den wenigen Gedichten, nämlich ganzen zehn, die ohne ihr Zutun gedruckt wurden, erschien fast keines ohne redaktionelle Eingriffe, erklärt Uda Strätling:

    "Die sind stark geglättet worden, die sind angepasst worden an den Zeitgeschmack, verniedlicht worden, viktorianisch aufgehübscht, verharmlost. Und ich würde sagen, da hat sie einfach eine klare Entscheidung getroffen."

    Mit wenig Hoffnung auf die rechte Resonanz erprobt Emily Dickinson also ein Schreiben, das so gar nicht dem Klischee der sonderbar altjüngferlichen Einsiedlerin entspricht. Ihrer beherzten Kompromisslosigkeit und ihrem schrägen Humor verdankt sie die Beliebtheit bei heutigen Lesern.

    In Dickinsons modernem Duktus sind die Grenzen zwischen Brief und Gedicht fließend. Die Briefzeile "Die Bäume hüten Dir den ganzen Tag das Haus, und das Gras sieht kleinlaut aus” aus einem Schreiben an ihre Schwägerin ist ein typisches Beispiel für die rhythmisierte, gereimte Sprache mancher Briefe. Umgekehrt ersetzt manchmal ein Gedicht einen ganzen Brief: "Soviel ich schriebe, längst | Kein Brief wär schön wie dies - | Die Silben samment - | Die Sätze tief - | Grund, rubinrot, ungelotet - | Hort, Mund, nur Dir, | Flink umwirb wie Kolibri | Und trink von mir -” Und natürlich enthalten viele der Briefe Gedichte. Spannend wird es, wenn sie in verschiedenen Varianten auftauchen und einmal sogar mit einer Leserin diskutiert werden. Im Ganzen lässt die Auswahl ihre Stilentwicklung nachverfolgen, sind aus allen wesentlichen Schaffensperioden Briefe vorhanden und um Erläuterungen der Herausgeberin ergänzt:

    "Der Weg zu sich selbst als Dichterin, der lässt sich ablesen an den Briefen. Und so habe ich auch versucht, die Briefe auszuwählen, also aus der Fülle diese paar hundert auszusuchen, da ging es mir eben sehr stark darum, um ihren Weg als Dichterin, weil ich denke: das ist ja das Interessante an ihr. Wie kommt eine Frau dazu, die kaum das Haus verlassen hat ab ihrem 30. Lebensjahr, ein solch überwältigendes Werk zu hinterlassen?"

    Dem Band ist neben Kurzbiografien sämtlicher Adressaten der Dickinson-Briefe unter anderem eine ausführliche Zeittafel beigegeben, die Fotos und verkleinerte Faksimiles der Originalbriefe enthält.

    "Ich wollte gern, dass man zumindest einen Eindruck davon hat, wie stark sich die Handschrift verwandelt hat, von so einer sehr braven Kleinmädchenschönschrift, auch sehr kleinteilig, zu so einer völlig explodierten, ganz offen grobmaschigen, gerundeten, fast Einzelbuchstaben auf einer Seite. Also diese Entwicklung ist gewaltig: aus der Enge in dieses vollkommen Offene. Das entspricht ja auch ihrem geistigen, dichterischen Werdegang."

    Dank ihrem feinen Gefühl für Dickinsons Klangexperimente, für ihr von Gedankenstrichen beschleunigtes Tempo ist der Übersetzerin auch bei der Übertragung ins Deutsche gelungen, einen Eindruck von Dickinsons dialogischem Ton zu vermitteln, der den Leser unmittelbar anspricht und packt. Denn ohne eine angemessen freie Übersetzung würde nicht deutlich, was Uda Strätling zu recht über Emily Dickinson sagt:

    "Also sie ist einfach sehr heutig. Ich finde, die Themen, die sie bedrängen, das sind Fragen, die uns alle beschäftigen, nach wie vor."

    Emily Dickinson: Wilde Nächte. Ein Leben in Briefen
    Aus dem Englischen von Uda Strätling.
    Frankfurt am Main: S. Fischer, 2006
    Geb. 432 Seiten
    24,90 Euro
    ISBN 978-3-10-013907-8