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Briefe an Beethoven
„Lieber Beethoven, Du hast bei jeder Note Recht gehabt“

Wie könnte man Ludwig van Beethoven die Welt von heute beschreiben? Der Geiger und Hirnforscher Stefan Kölsch versucht dies in seinem Brief an den berühmten Komponisten. Endlich habe die Menschheit erkannt, dass Beethoven mit seiner Musik und mit jeder seiner Noten voll und ganz Recht habe.

Von Stefan Kölsch | 23.11.2020
Stefan Kölsch bei der Aufzeichnung einer Talk Show
Liebt besonders Beethovens 9. Violinsonate: Stefan Kölsch (Imago / Future Image / H. Hartmann)
Hallo Ludwig, besonders werter Freund!
Es hat tatsächlich funktioniert – ich bin im Jahre 2020 angekommen und kann Dir endlich einen Brief schicken.
Die Menschen hier haben die erstaunlichsten Apparate erfunden, riesige Flugapparate, mit denen sie an einem einzigen Tag in die fernsten Länder reisen können, automatische Kutschen ohne Pferde, die so schnell fahren, dass einem schwindlig wird, kleine Wunderapparate, die rechnen und alle möglichen Fragen beantworten können, und Apparate, die sie "Telefon" nennen, mit denen man mit Menschen rund um den Globus sprechen kann. Die Menschen leben in gigantischen Städten, sind zum Mond geflogen, haben Mixturen und Pillen gegen viele Krankheiten erfunden, und Ohrenmaschinen, mit denen Taube wieder hören können. Trotz dieses unermesslichen Fortschritts sind die Menschenhier im Grunde gleich so wie die Menschen in unserer Zeit auch: Sie sehnen sich ebenfalls danach, glücklich zu werden und Leiden zu vermeiden; ob die Menschen hier glücklicher sind als bei uns, kann ich noch nicht beurteilen.
Berufsmusiker, die üben und ein stilles Publikum
Es gibt hier eine unglaubliche Fülle an Musik, man kann Musik mit Apparaten hören, und sich nahezu alles, was jemals an Musik komponiert wurde, einfach anhören. Es gibt auch noch Orchester. Sie spielen mit einer nahezu unglaublichen Perfektion. Die Orchester sind ausschließlich mit Berufsmusikern besetzt. Diese üben die Stücke zunächst sorgfältigst (!), und dann proben sie gemeinsam mehrere Malevor einem Auftritt. Und das, obwohl es bereits beim ersten Anspielen so gut klingt, wie wir es uns in unseren kühnsten Träumen nicht vorzustellen gewagt hätten. Das Publikum ist während der Aufführungen so stille, dass einem ganz unheimlich wird – keiner spricht, keiner seufzt oder schluchzt, es ist gibt kein Rein- und Rausgehen während der Aufführung, kein Tumult, kein Rufen. Und es wird nicht im Stück oder nach den Sätzen geklatscht, dies gilt hier als unflätig. Geklatscht wird nur am Ende eines gesamten Stückes. So unheimlich dies auch klingen mag, dafür kann man ungestört jedes kleine Detail der Musik hören, und die unglaubliche Präzision bewundern, mit der gespielt wird.
Die 9. Violinsonate gehört zum Studium eines jeden Geigers
Es hat sich also sehr viel verändert, und Du wirst Dich jetzt fragen, ob man sich trotzdem auch heute noch an Dich erinnert. Ich werde Dir diese Frage beantworten, aber setze Dich auf jeden Fall zunächst hin, bevor Du weiterliest: Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind kennt hier Deinen Namen. Dein Name wird in einem Atemzug mit Bach und Mozart genannt, und Deine Musik wird zum Größten gezählt, was je komponiert wurde! Jedes Orchester spielt Deine Sinfonien, Deine Konzerte, die größten Pianisten messen sich an Deinen Sonaten, die besten Musiker spielen Deine Kammermusik! Deine neunte Violinsonate, die ich so sehr liebe und selber schon so oft gespielt habe, gehört heute unentbehrlich zum Studium eines jeden Geigers, und jeder von ihnen weiß heute, dass der Kreutzer sie für unspielbar erklärt hat. Jeder Konzertpianist hat Deine Klavierkonzerte im Repertoire, und jeder Konzertgeiger Dein Violinkonzert. Deine Streichquartette, über deren Schwierigkeit sich Ignaz so beklagt hatte, gelten nunmehr als unerreicht, und werden von den besten Quartetten immer wieder aufgeführt.
Eine Frau mit langen dunkelblonden Haaren trägt einen schwarzen Mantel und hält mit ihrer rechten Hand ein Horn vor sich. Sie steht auf einer Allee, die Pflanzen sind im Hintergrund unscharf zu erkennen.
Briefe an Beethoven - "Warum schreibst Du für Horn oft so heikel?"
Die Hornistin Marie-Luise Neunecker hört in vielen Werken Beethovens seine Liebe zum Hornklang – und ist ihm dafür sehr dankbar. Doch einen kleinen Änderungswunsch hat sie an ihn.
Etliche Komponisten nach Dir haben lange mit sich gerungen, bevor sie ihre erste Sinfonie oder ihr erstes Quartett komponiert haben, weil sie wussten, dass sie sich an Dir messen lassen müssen. Deine Melodie zur Ode an die Freude ist zur Hymne eines geeinten Europas geworden. Jedes Orchester spielt in jeder Saison Deine Werke und die Menschen sind haufenweise zu Tränen bewegt von der Zartheit, der Verzweiflung, der Hoffnung in Deiner Musik. Und zu Deinem Jubiläum dieses Jahr veranstaltet jedes Orchester ein Musikfest oder eine besondere Konzertreihe in Deinem Namen (auch wenn wegen einer merkwürdigen Pestilenz gerade oft nur wenige Menschen im Publikum sitzen dürfen, und sich viele die Konzerte über ihre Apparate zu Haus anhören müssen).
Du hast also bei jeder Note voll und ganz Recht gehabt, wenn Du an Deine Musik geglaubt hast, und die Menschheit hat dies endlich erkannt!
Ich hoffe sehr, dass Deine Gesundheit täglich besser wird, auf jeden Fall sende ich Dir ganz viele herzliche Wünsche für eine Genesung und hoffe, dass Dich mein Brief ein wenig aufheitern konnte!
Dein ewig treuer Freund
Stefan Kölsch