Dienstag, 19. März 2024

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Briefe an Beethoven
"Lieber Ludwig, magst Du Haydn immer noch nicht?"

Noch vor Beginn der Corona-Krise in Europa schrieb die Cembalo- und Hammerklavier-Virtuosin Christine Schornsheim ihren Brief an Beethoven. Sie mutmaßt, dass man wohl auch noch in 100 Jahren seinen Geburtstag feiern wird. Sofern die Menschheit sich bis dahin nicht zugrunde gerichtet habe.

Von Christine Schornsheim | 04.05.2020
Die Cembalistin Christine Schornsheim
Christine Schornsheim hat sich auf historische Tasteninstrumente spezialisiert. (Astrid Ackermann)
Lieber Ludwig,
kürzlich saß ich in einer Jury eines bedeutenden Hammerklavierwettbewerbs. Die Teilnehmer mussten bzw. durften vier Deiner Bagatellen aus op. 33 spielen. Was hörten wir da nicht alles: statt Allegro ma non troppo eher Presto, wo Du ein sforzato vermerkt hast, gab es ein mildes Säuseln – und andere Absonderlichkeiten. Aber wer weiß, vielleicht hätte Dir so manches Spiel gefallen, bei dem ich schwer irritiert war. Oder vielleicht wärst Du wütend herausgerannt, wenn mir das Gespielte gerade gut gefiel? Wer weiß das schon? Aber ein Crescendo hin zur höchsten Note – so hast Du es notiert – muss doch etwas bedeuten, und das kann doch nicht heißen, dass es in Wirklichkeit wie ein diminuendo klingt! Bitte sag mir, dass ich mich nicht komplett irre! Alles rund und schön zu zeichnen, wie ich es so oft gehört habe, ist es das, was Du meintest? Sind nicht gerade die Extreme mehr nach Deinem Geschmack? Ich bin verunsichert, aber Du antwortest ja auch nicht. So wie Deine ganzen anderen Komponistenkollegen. Wieso antwortet niemand von Euch? Ihr habt doch jetzt Zeit! Dann musst Du und Ihr alle da oben es aber auch aushalten, was wir aus Deinen geschriebenen Noten herauszulesen versuchen.
Und überhaupt – wie ist es denn nun mit den Tempi? Stimmen Czernys Metronomzahlen Deiner Werke? Ich oute mich und sage, dass sie mich überzeugen. Meistens jedenfalls. Nicht, dass aber die angeblich besser Informierten Recht haben, die vehement behaupten, es wäre jeweils das halbe Tempo gemeint oder die Ignoranten, denen die Metronomzahlen gleich ganz egal sind? Fragen über Fragen!
Fantasieren mit Carl Philipp Emanuel Bach
Aber ich höre jetzt mal auf mich zu beklagen, es hilft mir ja doch nicht weiter. Und ich fürchte, Du wirst weiterhin nicht antworten. Eigentlich wollte ich Dir ja sowieso etwas Nettes zu Deinem Geburtstag schreiben. So etwas wie eine große Lobhudelei. Auch wenn Dich das vielleicht langweilt. Seit Jahrhunderten bekommst Du ja ständig eine Laudatio nach der anderen. Sammelst Du diese eigentlich? Vielleicht sitzt Du gemütlich auf einer Wolke und lässt Dir von Engeln diese Lobpreisungen vorlesen? Nein, so bist Du wohl eher nicht. Eher verliebst Du Dich noch immer und hast nur Augen für die Frauen. Vielleicht hast Du nun Dein vollkommenes Glück gefunden, jetzt wo es nicht mehr darum geht, ob diese Liebe standesgemäß ist oder nicht. Ich würde es Dir von Herzen wünschen! Komponierst Du eigentlich noch und spielst Deine Werke selbst? Oder lässt Du sie Dir vorspielen? Ganz sicher kannst Du dort, wo Du jetzt bist, wieder sehr gut hören! Mit wem verstehst Du Dich am besten? Ich könnte mir ja vorstellen, dass Du Dich mit Carl Philipp Emanuel Bach etwas seelenverwandt fühlst. Improvisiert und fantasiert Ihr gemeinsam? Das muss großartig sein! Magst Du Haydn immer noch nicht? Darüber würde ich mich ja auch gern mit Dir unterhalten, denn inzwischen finde ich seine Musik großartig, auch wenn sie ganz anders als Deine ist.
Weißt du eigentlich, was in diesem Jahr Dir zu Ehren hier alles los sein wird? Wie oft werden wohl vor Deiner Neunten rund um den Globus mehr oder weniger staatstragende Reden gehalten? Ist ja auch eine gigantische Sinfonie, und dass sie bei jedem passenden und unpassenden Event auf dem Programm steht, dafür kannst Du ja nichts. Schade, dass alle bei der Neunten immer nur den Ohrwurm vom letzten Satz im Sinn haben! Bei der "Ode an die Freude" scheinen sie ergriffen zu sein und beherzigen doch nichts von der Botschaft. Der dritte Satz, das Adagio molto e cantabile ergreift hingegen mich immer wieder am meisten!
"Mondschein"-Sonate im Wellnesstempel
Wieviel öfter als sonst werden Klavierschülerinnen und – schüler durch "Für Elise" (oder doch Therese?) holpern und stolpern? Wahrscheinlich wird es neue Handy-Klingeltöne mit dem Anfang Deiner Fünften geben, in Wellnesstempeln wird die "Mondschein"-Sonate zu Entspannungsmassagen dahinplätschern, es wird in den Konzertsälen der Welt pathetisch und weihevoll zugehen und gegen Tränen der Ergriffenheit gibt es sicher Taschentücher mit Deinem Konterfei darauf.
Unglaublich, wie präsent Du hier noch immer bist, Du kannst sehr stolz sein! Niemand kommt an Deinen Werken vorbei, Wettbewerbe werden Dir zu Ehren veranstaltet, Schulen nach Dir benannt, Festivals mit Deinen Werken gefüllt, und in wissenschaftlichen Konferenzen und Symposien wird darum gerungen, wie Deine Musik nun am besten zu interpretieren und richtig zu verstehen sei. Vorausgesetzt, die Menschheit richtet die Welt bis dahin nicht endgültig zugrunde wie zu befürchten ist, wirst Du auch in 100 Jahren zu Deinem 350. Geburtstag noch immer genau so präsent sein. Das schaffen nur die Allergrößten!
Bleibt mir nur, ganz einfach danke zu sagen, lieber Ludwig. Was wäre die Welt ohne Deine Musik? Ich kann und mag mir das nicht vorstellen. Gehab Dich wohl und misch den Laden da oben nicht zu sehr auf. Mögen die roten Teppiche, die Deinetwegen ausgerollt werden, bis zu Dir nach oben reichen!
In großer Verehrung
Christine Schornsheim