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Briefe voller Zartheit und Noblesse

Dichtenden "Frauenzimmern" traute Johann Wolfgang von Goethe nicht viel Gutes zu - mit einer großen Ausnahme: Marianne von Willemer. Einige ihrer Gedichte fand er so gut, dass er sie der Einfachheit halber gleich unter seinem eigenen Namen veröffentlichte. Am 6. Dezember 1860 verstarb die Lyrikerin.

Von Christoph Schmitz-Scholemann | 06.12.2010
    Als Marianne von Willemer am 6. Dezember 1860 starb, galt sie als humorvolle Gelegenheitsdichterin. Ihr großes poetisches Geheimnis aber, das zugleich ein Liebesgeheimnis war, kam erst nach ihrem Tod ans Licht. Begonnen hatte alles 60 Jahre zuvor im Theater von Frankfurt am Main. Da war sie, ein 16-jähriger Lockenkopf, als Harlekin aus dem Ei auf die Bühne gesprungen und hatte sich in die Herzen der guten Gesellschaft getanzt. Ein verwitweter Bankier mit karitativem Drang und kulturellen Neigungen, Johann Jakob von Willemer, war so verzaubert, dass er ihrer Mutter eine Abfindung zahlte und die Kleine zu sich nahm, vorerst und offiziell an Kindes statt, weshalb sie auch Unterricht bekam, unter anderem in Musik.

    Wenn Marianne bei den Abendgesellschaften ihres Gönners in die Saiten griff und Goethe-Lieder sang, schmolzen die Herzen.

    Lied
    "Nur wer die Sehnsucht kennt,
    Weiß, was ich leide.
    Allein und abgetrennt ... "

    Anfang August 1814 war die immer noch zierliche und sehr witzige Marianne 30 Jahre alt. Der Bankier war vom Vormund zum Lebensgefährten avanciert und gemeinsam mit seiner Liebsten, die er bald auch heiraten würde, erwartete er hohen Besuch. Der Gast, ein Jugendfreund Willemers, erschien wohlgelaunt. Es war der Dichter Johann Wolfgang von Goethe, knapp 65 und durch die Beschäftigung mit dem Islam und orientalischer Liebeslyrik neuerdings wieder in Frühlingsstimmung versetzt. Schon in der Kutsche von Weimar in den Westen muss er ein verheißungsvolles Prickeln gespürt haben.

    "So sollst Du, muntrer Greis
    Dich nicht betrüben.
    Sind auch die Haare weiß,
    doch wirst Du lieben."

    Und so kam es. Unter den Augen Willemers, der entweder nichts merkte oder souverän genug war, geschehen zu lassen, was geschehen musste, verliebte sich Marianne unsterblich in den poetischen Hausfreund. Und Goethe erwiderte die Gefühle. Er blieb bis in den Herbst und kam im Sommer darauf noch einmal. Wie platonisch die Beziehung war, weiß bis heute niemand. Die Liebenden gaben einander arabische Namen und verständigten sich mit chiffrierten Briefen.

    "Nicht Gelegenheit macht Diebe,
    Sie ist selbst der größte Dieb,
    Denn sie stahl den Rest der Liebe,
    Der mir noch im Herzen blieb."

    Doch nicht darin lag das Wunder dieser Leidenschaft, dass ein alter Poet noch einmal den Ätna in sich kochen fühlte. Das Erstaunliche war, dass Marianne von Willemer dem Dichter mit eigenen Gedichten zu antworten wagte.

    "Hoch beglückt in Deiner Liebe
    Schelt' ich nicht Gelegenheit;
    Ward sie auch an Dir zum Diebe,
    Wie mich solch ein Raub erfreut!

    Warum lässt Du Dich berauben?
    Gib Dich mir aus freier Wahl
    Gar zu gerne möchte ich glauben,
    Dass Dein Herz ich selber stahl."

    Es entspann sich ein poetischer Dialog, den Goethe in den "West-Östlichen Diwan" aufnahm, jene Sammlung von zugleich tiefsinnigen und beschwingten Versen, in der er die Spannungen zwischen Christentum und Islam, zwischen Leben und Tod und Mann und Frau spielerisch zu lösen versuchte. Unter Goethes Namen sind dort mindestens drei Gedichte zu finden, die in Wahrheit Marianne von Willemer geschrieben hat.

    "Was bedeutet die Bewegung?
    Bringt der Ostwind frohe Kunde?
    Seiner Schwingen frische Regung
    Kühlt des Herzens tiefe Wunde.

    Ach die wahre Herzenskunde,
    Liebeshauch, erfrischtes Leben
    Wird mir nur aus seinem Munde,
    Kann mir nur sein Atem geben."

    Und ging es mit der Liebe weiter? Nein und Ja. Nein, denn man sah sich, nach dem Herbst 1815, nie mehr wieder. Und doch: Die Liebenden verzehrten sich eine Zeitlang in Sehnsucht.

    "Ach, der mich liebt und kennt,
    Ist in der Weite ... "

    Sie schrieben einander bis zu Goethes Tod im Jahre 1832 Briefe voller Zartheit und Noblesse. Sie schickte ihm Schwartenmagen, er ihr Gedichte und einmal sogar eine eigenhändig gefertigte Collage aus Myrten- und Lorbeerblättern. Vom Heidelberger Schlosspark sprach Marianne noch als Greisin unter Tränen. Hier, heißt es, hatte sie Goethe geküsst.