Archiv


Brigade der Schattenmenschen

Kirgistan galt wegen seiner stabilen Wirtschaft als die Schweiz Zentralasiens. Doch mit der Finanzkrise kam der Absturz: Die kleine Republik zwischen China und Kasachstan muss wegen der drohenden Hungersnot um internationale Finanzhilfen betteln, Familien schicken ihre Söhne und Töchter nach Russland. Inzwischen bilden diese rund 700.000 Arbeitsmigranten das Rückgrat der kirgisischen Volkswirtschaft: Sie haben im vergangenen Jahr an die 850 Millionen US-Dollar zu ihren Familien nach Hause überwiesen - das ist fast ein Drittel des kirgisischen Haushalts. Doch das Opfer, das die Wanderarbeiter für ihre Familien bringen, ist groß: Rechtlosigkeit, illegale Arbeitsverhältnisse, entwürdigende Lebensumstände und ein erbitterter Konkurrenzkampf um immer weniger Jobs in dem zusammenbrechenden russischen Wirtschaftssystem prägen ihr Leben. Andrea Rehmsmeier hat eine Wohngemeinschaft kirgisischer Gastarbeiter in Moskau besucht.

Aus Moskau berichtet Andrea Rehmsmeier |
    Es ist Sonntagnachmittag in einer Wohnung, die kein Klingelschild trägt - irgendwo in einem Randbezirk von Moskau, in einem der namenlosen Wohnblocks. Vor dem Fernseher sitzen zwölf Menschen - um die dreißig die meisten, mit asiatischen Gesichtszügen. Sie sind hier, weil die wirtschaftliche Situation daheim, in Kirgistan, ihnen keine andere Wahl gelassen hat.

    "Eigentlich wollte ich auf die medizinische Hochschule gehen. Ich bin eine gute Schülerin gewesen, ich habe erfolgreich die 9. Klasse abgeschlossen. Aber bei uns in Kirgistan kann auch der schlaueste Mensch nicht studieren, wenn er kein Geld hat. Dann ist auch noch meine Mutter krank geworden, und ich - als die Älteste von neun Geschwistern - musste auf dem Feld arbeiten. Ich habe Möhren und Zwiebeln gepflanzt für die Großbauern, für umgerechnet vier Euro am Tag, in dieser Gluthitze, von 7 bis 17 Uhr."

    Sarina, 33 Jahre, eine kleine, sportliche Frau in Jeans und Shirt, mit dezent geschminktem Gesicht und schwarzem Pferdeschwanz. Sie ist eine von geschätzten 1,7 Millionen Gastarbeitern - allein in Moskau. Vor anderthalb Jahren ist sie zum Geld verdienen nach Russland gekommen. In Kirgistan leben vier Verwandte von ihrem Lohn: ihre neunjährige Tochter, die Mutter und zwei arbeitslose Brüder.

    In der winzigen Küche brüht Sarina Tee auf. Im Flur herrscht Gedränge. Jemand putzt die sich die Zähne, ein anderer wischt mit einem Lappen den Boden, ein dritter dreht ziellose Runden, das Handy am Ohr: Hier leben 33 Personen in zwei Zimmern, teilen sich eine Küche, eine Toilette und ein Waschbecken. Keine Zimmerpflanze, kein achtlos liegen gelassenes Papierchen - stattdessen türmen sich Isomatten und Kulturbeutel an den Wänden. In dem großen Zimmer schlafen 25 Personen, die übrigen acht im dem kleinen - unter ihnen Sarina.

    "Es gibt hier nur ein einziges Bett, darin schläft die Hauswirtin. Sie mietet die Wohnung für uns alle, und sie schmiert die Polizei. Wenn ich morgens um sechs zur Arbeit gehe, dann muss ich aufpassen, dass ich im Dunkeln nicht auf die Schlafenden trete. Eigentlich führen wir hier ein vereinzeltes Leben, jeder kocht für sich, keiner rührt die Sachen des anderen an. Putzdienst hat jeden Tag ein anderer. Aber es kann auch sehr lustig zugehen: Wenn man neu kommt und erfährt, wie es bei den anderen ist. Ich habe schon in vier kirgisischen Wohngemeinschaften gelebt, aber nie habe ich Streit erlebt."

    Sonntags sind alle sind erschöpft von der Woche, und der Fernseher ist der Hauptzeitvertreib. Die Frauen arbeiten als Kioskverkäuferinnen und Putzhilfen, die Männer als Lastenträger und Bauarbeiter. Die einen verdienen 800 Euro im Monat, andere nur 80. Für Moskauer Verhältnisse ist das erbärmlich. Da ist es um so tragischer, wenn man dann um seinen Lohn gebracht wird - wie es kürzlich dem 24-jährigen Muchid passiert ist, der auf einer Großbaustelle arbeitet.

    "Zwei oder drei Monatsgehälter habe ich nicht ausbezahlt bekommen: 50.000 Rubel, das sind über 1000 Euro! Ich haben in der Schlange um meinen Lohn angestanden. Doch als ich an der Reihe war, da ist der Subunternehmer, der mich angestellt hat, plötzlich aufgestanden und weggegangen. Ich habe mich beim Bauherren beschwert, aber der sagte nur: Was willst du, von unserer Seite sind die Lohnkosten korrekt ausgezahlt - fertig, aus! Da stehst du dann, und kannst nichts machen!"

    Wer illegal in Russland lebt, hat keine Rechte - und ein bisschen illegal verhält sich hier jeder, sei es, weil das Visum abgelaufen oder die Arbeitserlaubnis gefälscht ist, sei es, weil die städtische Registrierung über eine andere Adresse läuft. Sarina ist noch nie betrogen worden - illegale Jobs aber kennt sie auch. Einmal hat sie in einer U-Bahn-Station Bananen verkauft: täglich 18 Stunden von sechs Uhr morgens bis Mitternacht, ohne Recht auf Mittagspause und mit einem einzigen freien Tag im Monat. Heute arbeitet sie als Kindermädchen, da hat sie sonntags frei. Dann sitzt sie in der Küche und denkt an Kirgisien. Wenn sie mit ihrer Tochter telefoniert, dann passiert es, dass beide weinen müssen. Wiedersehen werden sie sich im April. Dann läuft Sarinas russisches Visum ab.