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Britische Band Shame
Vom Überleben des Punk-Geistes

Fröhlich-wütend ignoriert die Londoner Band Shame den angeblichen Popularitätsverlust der elektrischen Gitarre: Ihr Debütalbum "Songs of Praise" prahlt mit hohem Songwritingniveau, sozialbewussten Botschaften - und natürlich aggressiven Gitarren. Junger Post-Punk in alter Tradition.

Von Paul Baskerville | 26.08.2018
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    Charlie Steen und Sean Coyle Smith live beim End of the Road Festival 2017 (imago stock&poeple)
    Musik: "The Lick"
    Shame ist immer noch eine sehr junge Band, aber sie wird mit jedem Jahr weiser. Der Albumtitel ist ein Insiderwitz, der über die britischen Inseln hinaus, kaum nachvollziehbar ist. "Songs of Praise" heißt das Werk, "Lobgesänge". "Songs of praise" ist eine Gottesdienstsendung im britischen Fernsehen, die seit 1961 bei der BBC läuft. Doch die Punkattitüde von Shame ist von der traditionellen religiösen Zeremonie einer Kirche weit entfernt. Das Debütalbum ist ein Dokument ihres gemeinsamen Übergangs vom Jugend- zum Erwachsenenalter, finden Sänger Charlie Steen und Gitarrist Sean Coyle Smith.
    Charlie Steen: "Das Album entstand über einen Zeitraum von drei Jahren, zwischen unserem sechzehnten und neunzehntem Lebensjahr. "One Rizla" war der erste Song, den wie jemals schrieben. Das war auch die erste Singleauskopplung des Albums. Es kommt mir so vor, als ob man unbegrenzte Zeit hat, um die erste Platte zu machen, aber nur zehn Minuten, die zweite fertigzustellen."
    Selbstbewuste Musiker
    Sean Coyle Smith: "Wir fühlen uns aber nicht wirklich unter Druck... wir schreiben, wenn wir können...wir sind halt so viel auf Tour, das ist momentan unser Schwerpunkt."
    Musik: "One Rizla"
    Mit Sechzehn können die meisten Jugendlichen nicht einschätzen, ob sie wirklich als Musiker Karriere machen können, aber Shame waren schon immer sehr selbstbewusst. Rockmusik ist, global gesehen, nicht mehr so erfolgreich wie früher, aber das hat die Band nicht abgeschreckt. Die Zeiten sind vorbei, als Gruppen wie Fleetwood Mac eine Million Dollar für eine Produktion ausgaben, und sich ein Jahr im Studio aufhielten. Trotz eines für Rockbands kommerziell schwierigen Marktes sind Shame von sich und ihrer Musik generell überzeugt.
    Charlie Steen: "Wir nahmen uns schon ernst, bevor andere Leute uns ernst nahmen (lacht)."
    Sean Coyle Smith: "Dennoch sind wir augenzwinkernd dabei. Das Ganze ist schon irgendwie lustig..."
    Charlie Stehen: "Es stimmt schon: es gibt nicht genug Geld, um das Ganze zu ernst zu nehmen... man kann nicht so größenwahnsinnig werden."
    Sean Coyle Smith: "Wer weiß, vielleicht werden Charlie und ich uns verloben, sowie es bei Fleetwood Mac damals ablief, und dann können wir ein ganzes Album über die Trennung schreiben..(lacht und singt) "You can go your own way...."
    Variable Live Auftritte
    Charlie Stehen: "Seit Januar haben wir jetzt schon über 100 Gigs gespielt. Aber sie waren alle irgendwie verschieden. Es ist immer ein anderer Club, ein anderes Publikum, eine andere Stadt oder sogar ein anderes Land, und daher ist es immer ein frisches, stimmungsvolles Erlebnis. Eigentlich könnten wir die Songs im Schlaf spielen, aber gerade weil wir sie in und auswendig kennen, finden wir immer neue Wege um die Live Performance ein bisschen zu variieren, damit die Stücke für uns interessant bleiben. Wir haben die Lieder tausendmal gespielt, aber das neue Publikum und die neue Umgebung sind ausschlaggebend."
    Musik: "Concrete"
    Es ist eine Frage der Perspektive: ist die Band Shame die Zukunft des Rock’n’Roll oder handelt es sich bloß um junge Rowdys, die Musik machen, die hoffnungslos veraltet ist? Shame hat auf jeden Fall die Qualitäten der besten Punkbands: sie klingen zornig, gleichzeitig hässlich und schön, brutal aber mit einer friedlichen Botschaft. Wie The Clash. Und sie schreiben viele gute Songs. Ihre Konzerte sind stürmische und verschwitzte Ereignisse in der Punktradition. Charlie Steen singt aus vollem Halse und spuckt sogar mal ins Publikum, aber nicht aus Verachtung: er ist schlicht und einfach in Übereifer verfallen. Das ist der wahre Punkgeist. Aber sie sind dennoch keine Punks im klassischen Sinne. Sie sehen nicht aus wie Kollegen der 70er Jahre, auch nicht wie Hardcore Punks der 80er Jahre. Sie verzichten bewusst auf die äußere Punk-Ästhetik und wollen nicht auf eindimensionale Weise ihre Wut loslassen.
    Charlie Stehen: "Als Journalisten damals anfingen, über uns zu schreiben, herrschte eine feste Vorstellung, dass wir aggressiv und zornig seien. Es gibt durchaus solche Aspekte in unserer Musik, aber Humor war uns auch immer wichtig. Das ist eine sehr britische Herangehensweise. Da ist viel Satire und Ironie dabei. Der Unterhaltungsfaktor wird von uns groß geschrieben. Letztendlich haben wir eine Menge Spaß. Wir sind nur zwanzig und lernen schon die ganze Welt kennen. Es muss natürlich einen gewissen Grad an Ernsthaftigkeit geben, damit wir nicht als Leichtgewichte ‚ruberkommen, aber alles in allem ist es Vergnügen für uns."
    Musik: "Gold Hole"
    Ganz bewusst haben die jungen Musiker erfahrene Produzenten ausgesucht. Dan Foat und Nathan Boddy haben dafür gesorgt, dass Shame nicht wie Anfänger klingen. Die Produktion hat stellenweise den Hochglanzsound von weltbekanntem Mainstream-Rock.
    Ein Mann steht vor einem Mikrofon auf einer Bühne. Er wird von hinten mit Licht angestrahlt.
    Charlie Steen von der Band Shame (imago stock&poeple)
    Lobgesänge der Medien
    Charlie Stehen: "Wir fingen an live zu spielen, als wir nur vier Songs auf Lager hatten. Das war erst ein Monat nachdem die Band gegründet wurde. Da hatten wir im Schnitt schon drei Gigs wöchentlich. Seitdem haben wir im Grunde nicht aufgehört, live zu spielen. Wir probierten sieben oder acht verschiedene Produzenten aus, bis wir auf Dan Foat und Nathan Boddy gestoßen sind. Sie haben den Sound hinbekommen, den wir angestrebt haben. Aber unabhängig davon, entstand, wie gesagt, die Platte über drei Jahre: Zwischen dem sechzehnten und dem neunzehnten Lebensjahr eines Menschen passiert sehr viel und man wird viel von anderen Bands und Musikern und von neuen Orten geprägt."
    Sean Coyle Smith: "Wir haben mehr Zeit auf der Bühne, als im Proberaum verbracht. Dadurch haben die Bandmitglieder ihr Handwerk gelernt. Wenn man ein Lied dreißigmal vor einem Publikum spielt, dann ist der Reifungsprozess schnell. Das ist der Schlüssel zum Ganzen... wir haben ständig live gespielt."
    Musik: "Donk"
    Es ist nicht ohne Ironie, dass das Album "Songs of praise" heißt" "Lobgesänge". Genau die haben sie in ihrem Heimatland bekommen. Sie sind in den englischen Medien so gelobt worden, dass sie inzwischen ganz eitel sein könnten.
    Sean Coyle Smith: "Die britische Presse neigt dazu, fast jede neue Gitarrenband als der Retter der Gitarrenmusik zu bezeichnen. Wir versuchen uns deshalb nicht zu viel darauf einzubilden. So ein Medienrummel kann sehr flüchtig sein. Wir denken einfach: "Lasst uns weiter spielen, hoffentlich bringt es uns nicht um, und vielleicht schreiben wir mal irgendwann neue Songs!" "
    Musik: "Angie"
    Das Lied "Angie" ist das Ausnahmestück auf dem Album, und vielleicht ein Hinweis, wie der Sound von Shame in der Zukunft eine größere Bandbreite bekommen könnte. Es fängt bescheiden mit einem einfachen Intro von drei Noten an. Die doppelte Gitarre erzeugt zusammen mit dem Chorgesang eine gewisse Dramatik."
    Charlie Stehen: "Das Lied hat eine sentimentale Bedeutung für uns als Musiker, weil wir es gemeinsam im Studio geschrieben haben. Das Lied wurde immer wieder neu liebevoll bearbeitet, und es bedeutet uns deshalb viel. Es wurde viel daran geschuftet. "
    Sean Coyle Smith: "Es war auch das einzige Mal, dass ich ein Gitarrensolo spielen durfte."
    Eine Lebensgeschichte geschrieben
    Charlie Stehen: "Angie ist eine Person, die uns sehr nah stand, die wir von der Queen’s Head Kneipe in Brixton, London kennen, wo wir früher immer abhingen. Das Lied beschreibt Angie’s Lebensgeschichte. Ob diese Darstellung genau der Wahrheit entspricht, bleibt dahingestellt. Sie war auf jeden Fall ein interessanter Mensch: wir waren 17, als wir sie kennenlernten. Das Lied handelt von ihrem Suizid. "
    Musik: "Angie"
    Die Gruppe steht nicht allein da. Bei Bands wie Iceage und Savages, die auch nur ein paar Jahr älter sind als sie, kann man schon von geistiger Verwandtschaft sprechen: eine vergleichbare gitarren-orientierte Dringlichkeit. Bands, die darum bemüht sind, ein neues leidenschaftliches, intensives Kapitel für Post-Punkmusik zu schreiben.
    Sean Coyle Smith: "Das neue Iceage Album ist umwerfend. Ich war schon immer ein Fan, habe sie aber noch nie live gesehen. Es gibt, unter uns und unter unseren Zeitgenossen, ein gesundes Konkurrenzdenken. Es ist eher freundschaftlich, und nicht so feindselig und verbittert, wie die Rivalitäten der Britpop Vergangenheit. Ich glaube, wir sind nicht ehrfurchteinflößend genug, um eine Rivalität hervorrufen zu können."
    Produkt seiner Umgebung
    Charlie Stehen: "Das einzige wirklich Konkurrenzdenken, dass wir kennen, betrifft die Gegend, wo wir herkommen, nämlich Südlondon. Da gibt es sehr viele Bands, die in die Welt hinaus wollen. Wir haben aber keine globale Perspektive zum Ganzen. Wir gucken nicht, ob wir eine größere Halle in Houston Texas füllen können, als Iceage. Das müssen wir noch ein paar Jahre warten, bis wir solche Maßstäbe anlegen können. "
    Musik: "Iceage/Catch it"
    Man ist ein Produkt seiner Umgebung. Shame kommen aus Brixton in Südlondon und gingen bereits im zarten Alter regelmäßig in die beiden hippesten Kneipen der Gegend the Queens Head und Spinning Wheel. Dort waren sie sehr bald bekannt wie bunte und junge Hunde. Sie haben dieser Szene in Brixton viel zu verdanken.
    Charlie Stehen: "Wir waren schon sehr von der Umgebung in der Queens Head Kneipe und der Windmill Kneipe beeinflusst, und waren zu dem Zeitpunkt noch Teenager. Es war eine künstlerische Oase. The Fat White Family, The Alabama 3, sind Beispiele von jungen Bands, die dort ins Leben gerufen wurden. Die Läden haben eine lange Geschichte...sie sind schon sehr lange eine große Inspiration gewesen. The Ruts und Stiff little Fingers sind zum Beispiel dort bekannt geworden. Die Szene ist immer noch ziemlich inzestuös im Südlondon."
    Musik: "Dust on Trial"
    Die beiden Bars bzw. Clubs The Queens Head und The Spinning Wheel haben durchaus eine wichtige kulturelle Bedeutung in London.
    Charlie Stehen: "In den beiden Locations The Windmill und the Queens Head, gibt es ein Riesenspektrum von Menschen die als Stammkunden dahingehen. Von den alten Einheimischen aus den Sozialwohnungen bis hin zu den Kunststudenten und Techno DJs und Rockbands. Es sind Leute aus einem unterschiedlichen Umfeld, die aber eine gemeinsame Politik bestreiten, nämlich auf eigensinnige Weise Kunst zu schaffen. Das sind Zustände, die leider nur noch sehr selten in London vorzufinden sind. Die Gentrifizierung in vielen Stadtteilen führt dazu, dass die Menschen aus ihren Vierteln vertrieben werden, und Hassgefühle werden geschürt. Es geht nicht nur um die Bands, die in The Windmill und The Queens Head auftreten. Die Promoter, die Fotografen, die Filmregisseure, die Toningenieure spielen alle eine Rolle und tragen zur kreativen Stimmung bei. Wir empfinden eine starke Verbundenheit mit der Gegend, und deren Gemeinschaftsgefühl."
    Musik: "Tasteless"
    Die Band ist offensichtlich von ihrem eigenen Potenzial überzeugt, und hat keine Angst vor einer ungewissen Zukunft.
    Charlie Stehen: "Reibungen wird es immer geben. Das entspricht halt der Realität. Wir sind alle sehr offenherzig und vorlaut, und verstecken oder unterdrücken unsere Gefühle nicht. Wir haben immer an unsere Langlebigkeit geglaubt, aber haben uns keine Ziele gesetzt. Bis auf den Wunsch eines Tages Brixton Academy zu füllen. Das war immer der Wunschtraum. "
    Sean Coyle Smith: "Es gab früher mehr Reibungen innerhalb der Band. Inzwischen kennen wir uns so gut. Es ist insgesamt harmonischer geworden, und wir haben kaum noch Streit. Solange wir uns nicht durch anstrengende Tournee total kaputt machen, und solange wir uns die Zeit für ein neues Album lassen, wird es schon gut gehen. "
    Musik: "Lampoon"
    Die Musik von Shame ist bewusst schlicht und bodenständig und die Band vertritt die klassische Punkattitüde von Ehrlichkeit und Unaffektiertheit. Innovation in der Gitarrenmusik ist 2018 nicht sonderlich leicht. Man kann nur von der Vergangenheit lernen, und hoffen, ein wenig Neues hinzuzufügen.
    Sean Coyle Smith: "Ich glaube nicht, dass man einen bestimmten Künstler hört, und denkt, man will unbedingt wie er klingen. Man ist sich auch nicht darüber bewusst, dass Einflüsse eine Rolle spielen, bis man was fertiggestellt hat. Dann merkt man es nachträglich. Neue und alte Musik macht Eindruck auf uns und inspiriert uns, aber wir denken über die Auswirkungen nicht so viel nach. Wir möchten schon erfinderisch sein, aber es ist heutzutage nicht leicht, nicht irgendwie wie jemand anders zu klingen. An Besten denkt man nicht zu viel darüber nach, und man schreibt einfach weiter."
    Charlie Stehen: "Die guten Schreiber schreiben, und die großen Schreiber stehlen." hat der Dichter einmal T. S. Eliot gesagt. "
    In diesem Sinne: Das Debütalbum von Shame ist leidenschaftlich, und schlägt eine Brücke zwischen der gnadenlosen Härte von amerikanischen Post-Hardcore Bands wie Fugazi, oder The Jesus Lizard mit der melodischen Sensibilität von britischen Punk Bands wie The Clash oder Stiff little Fingers, Shame hat stellenweise sogar die sphärische, dissonante Qualität von englischen Postpunk Bands wie Echo & the Bunnymen. Das Album steckt auch voller politischer und sozialbewusster Botschaften. Wie Charlie im Lied "Friction" schon singt. "In a time of such injustice, how can you not want to be heard.?" " In solchen ungerechten Zeiten, kann man nur den Wunsch haben, gehört zu werden." Das Werk ist draufgängerisch, beständig und vermittelt die ungeschminkte Aggression der klassischen Punkmusik.
    Musik: "Friction"