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Britten den Briten

Es waren die Anfeindungen des Londoner Musiklebens, vor denen der Komponist Benjamin Britten Ende der 40er-Jahre floh – aufs englische Land nach Aldeburgh. Das Städtchen widmet dem Künstler, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, nun ein zwei Wochen dauerndes Festival.

Von Frieder Reininghaus |
    Benjamin Britten bei einer Aufführung der Johannes-Passion von Bach in der Royal Albert Hall (1967).
    Benjamin Britten bei einer Aufführung der Johannes-Passion von Bach in der Royal Albert Hall (1967). (picture alliance / akg-images)
    Britten, die scheinbar mühelos sich durchsetzende "Begabung" aus Suffolk, verfolgte ein Kunst- und Lebenskonzept, das nahe der ‘Natur’ angesiedelt wurde und in dem unter anderem die herbe Landesnatur am Nordseestrand ein großes Thema ist. "I am native. Rooted here", singt Peter Grimes, der zwielichtige Held der Oper.

    Bei der 1945 in London uraufgeführten Arme-Leute-Oper "Peter Grimes" mit ihrem Libretto aus dem Milieu der Fischer und der borniert-rückständigen Kleinstadt an der englischen Ostküste findet sich das musikhistorische Schleppnetz Benjamin Brittens bereits voll entwickelt.

    In eklektizistischer Weise entwickelt die Partitur auf der Basis eines keineswegs unbeschwert wirkenden Neoklassizismus einen eigenwilligen Strich der tonalen Skizzierungen und eine eigentümliche Palette der Farben. Das Quniquilieren der Flöte als Kennzeichnung der Morgenstimmung und die Dramatik der Turba-Chöre nach der Art des 17. oder 18. Jahrhunderts – überhaupt mancherlei Spolien aus der guten alten Zeit von Byrd und Bach haben da Eingang gefunden.

    Weit hat sich das Meer im Lauf der Zeit ins flache Land hineingenagt. Es verschlang die östliche Hälfte von Aldeburgh. An der Strandpromenade wurden jetzt vor einer Zuschauertribüne malerisch Fischerboote drapiert. Ab der kommenden Woche soll "Peter Grimes" gleichsam am Originalschauplatz stattfinden – wenn das Wetter mitspielt. Zur Eröffnung des Festivals gab es ein paar Meilen weiter landeinwärts in Snape Malting konzertante Aufführungen – hoch konzentriert unter der Leitung von Steuart Bedford, mit Alan Oke in der Titelpartie und Giselle Allen als Lehrerin, die zum Außenseiter hält, als die Dorfgemeinschaft ihn verdächtigt, ein Knabenschänder und Mörder zu sein. Zumindest ein Kinderschinder, der seine Lehrjungen über jeden zulässigen Grad der Belastbarkeit hinaus ausbeutet.

    Eine Inszenierung der Handlung wurde als theatraler Spaziergang durch den Borough, den Kern von Aldeburgh, angeboten. Mit "Peter Grimes"-Musik auf den Ohren wurde man, weitgehend isoliert von der Außenwelt durch die Kopfhörer, einzeln losgeschickt zu verschiedenen Zielen: zum mittelalterlichen Stadthaus, in dem die Verhandlung gegen Grimes stattfand; zu einer elenden Hütte, in der er gelebt haben könnte; zur kleinen Wohnung der Lehrerein, in der noch ein Brief an Grimes liegt, aber auch zu ganz unheimlichen Zielen im Röhricht oder der wüsten Kneipe, wo einem wilde Kerle begegnen. Ziemlich heftig – und doch theaterpädagogisch gut betreut. Die Separierung der Beschäftigung mit den Lebensumständen der armen Fischer und deren hartem Leben vom musikalischen Ereignis bewies durchaus ihre Vorzüge.

    "Britten lives here – 1913 - 2013", verkündet der Button auf den Plakaten und Programmbüchern. Die Sprachform des Präsens ist erkennbar absichtsvoll gewählt. Sie umreißt jedoch zugleich das Problem: Der Komponist lebte hier knapp drei Jahrzehnte lang. Aber das dauerhafte oder gar ewige Leben ist keine Konstante im internationalen Musikbetrieb. Daher gilt es neben der Erbepflege in Aldeburgh und Snape sowie mehreren steinalten Kirchen im Umland der Auffrischung dessen, wofür er in den wechselhaft wahrnehmenden Ohren der Nachfahren steht. Einzelne Britten-Werke wurden also mit denen anderer britischer Komponisten, oft mit Arbeiten jüngeren Datums, zusammengekoppelt oder kontrastiert.

    Auch mit Uraufführungen. Zu den Auftragswerken gehörte das für Streichorchester gesetzte dreisätzige "I give you the end of a golden string" von Judith Weir – tatsächlich so etwas wie der Kulminationspunkt einer neoneoklassizistischen Schreibweise. Dass sich das Vermächtnis Brittens auch ziemlich anders promovieren ließe, steht außer Frage. Es wäre eine Frage des kulturpolitischen und des ästhetisch innovativen Willens.