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Broadway-Premiere
Im gleißenden Licht der Wahrheit

Der US-amerikanische Filmemacher Steven Soderbergh interessiert sich auch für die Brechung des schönen Scheins: "The Library" nach einer Romanvorlage von Scott Burns handelt von einer tödlichen Schießerei an einer Schule in den USA und den psychischen Problemen einer Überlebenden.

Von Andreas Robertz | 28.03.2014
    Der US-amerikanische Filmemacher Steven Soderbergh interessiert sich auch für die Brechung des schönen Scheins: "The Library" nach einer Romanvorlage von Scott Burns handelt von einer tödlichen Schießerei an einer Schule in den USA und den psychischen Problemen einer Überlebenden.
    Der Boden, die Wände und die Decke glänzen wie ein polierter Spiegel, als hätte Bühnenbildner Ricardo Hernandez die Bühne aus pechschwarzem Marmor bauen lassen. Die Rückwand erstrahlt je nach Szene in satten Komplementärfarben mal rot, mal weiß, mal dunkel-violett. Diese Bühne, die nur mit ein paar Tischen und Stühlen möbliert ist, bietet keinen Raum zum Verstecken.
    Mit präzisem und zuweilen gleißend klarem Licht, versucht Regisseur Steven Soderbergh jeden Moment und jede Nuance seiner Darsteller unter das Mikroskop zu legen, als wären im Theater Großaufnahmen ohne Videoprojektion möglich. Die Frage, die Soderbergh und Autor Scott Burns interessiert, ist die nach der Wahrheit. Beide, die bereits sehr erfolgreich in Filmen wie "Side Effects", "Contagious" und "The Informant" zusammengearbeitet haben, entwickeln ihre Skripts gern zusammen.
    Auf das Wesentliche reduzierte Dialoge
    "The Library" handelt von einem Schulmassaker in einer amerikanischen Kleinstadt. Caitlin, eine der schwer verletzten Überlebenden, wird von einem anderen Schüler beschuldigt, dem Amokläufer das Versteck anderer Schüler verraten zu haben. Ihre Eltern, ihr Pfarrer, die Mutter eines Opfers versichern ihr, dass dies angesichts der Bedrohung und des Schocks mehr als verständlich ist, doch Caitlin, die sich genau erinnert, bestreitet dies.
    Sie beschuldigt die von der christlichen Gemeinde sehr geschätzte Mitschülerin Joy, die bei dem Amoklauf starb. Doch sie kann sich weder bei ihren Eltern noch bei der Polizei gegen die von den Medien verbreitete Version durchsetzen. Sie wird im Internet als feige Verräterin gemobbt, während Joy als Heilige stilisiert wird, die sich betend gegen den Mörder gestellt habe. Die Familie wird von dem Hilfsfonds für Opfer ausgeschlossen und die christlichen Schüler versuchen mit einer Petition, Caitlins Verbleiben auf der Schule zu verhindern. Der einzige Ausweg scheint ihr Widerruf zu sein. In kurzen und prägnanten Szenen erzählt "The Library" vom Schmerz und den schnellen und bequemen Lügen angesichts der Unfassbarkeit einer solchen Katastrophe.
    Zwischen den sehr kurzen, auf das Wesentliche reduzierten Dialogen hört man Chirurgen während verschiedener Nachfolgeoperationen über Caitlin sprechen, während sie sie operieren: die Wahrheit unterm Skalpell. Caitlins Vater sagt: "Es gibt Tatsachen und es gibt die Wahrheit." Als der Polizeibericht veröffentlicht wird, stellt sich heraus, dass Caitlin die Wahrheit gesagt hat. Ausführlich werden die verschiedenen Waffen und die Munition aufgeführt, die der Amokläufer zwei Wochen zuvor bei Walmart gekauft hat.
    Autor Scott Burns zeichnet komplexe Figuren, deren moralisches Kostüm sehr unterschiedlich gestrickt ist. Damit benennt er einen fatalen blinden Fleck der amerikanischen Öffentlichkeit und ihrer Medien. Sie kann keine komplexeren Wahrheiten zulassen. Passt etwas ins Weltbild, ist es so gut wie wahr. Schuld und Konsequenzen werden eingefordert, eine differenzierende Ursachensuche findet nicht mehr statt.
    Verzicht auf Figurenklischees
    So war es im Fall der Bostoner Bombenattentäter. Und so ist es bei den Amokläufen an Schulen und Universitäten - wenig Fakten und viel "Wahrheit". Dabei spielt für Scott Burns und Steven Soderbergh gerade die vereinfachende Weltsicht der Religion eine verheerende Rolle. Das provozierende Poster zur Aufführung in der Lobby des Public Theaters zeigt eine aus einer Bibel geschnitzte Pistole.
    Als Caitlin am Ende Joys Mutter in der Kirche konfrontiert, zeigt sie auf den am Kreuz Hängenden und schreit: "Du willst die Wahrheit? Das ist unsere Wahrheit, unsere einzige Wahrheit." Man spürt deren Schmerz über den Verlust ihrer Tochter und den blind-machenden Glauben zur selben Zeit.
    "The Library" ist ein Theaterabend, der ernste Fragen stellt, auf Figurenklischees verzichtet und dabei ästhetisch von der Erfahrung eines großen Filmregisseurs lebt.