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Brückenbauer zwischen Deutschland und Frankreich

1927 ist für die deutsche Literatur ein wichtiges Jahr. Nicht nur Martin Walser und Günter Grass sind 1927 geboren, sondern auch Ludwig Harig. Das Werk des Autors ist vielseitig: experimentelle Hörspiele, Gedichte, Reiseerzählungen und literarische Collagen. Mittlerweile hat er sich wieder traditionellen Erzählformen zugewandt. Sein neuestes autobiografisches Werk "Kalahari" erzählt die Geschichte einer deutsch-französischen Freundschaft.

Von Ulrich Rüdenauer |
    Ludwig Harigs literarische Selbsterkundungen, seine Reisen in die Vergangenheit, die Kindheit und Jugend, sind Bildungsromane nach dem klassischen Bildungsroman – kritisch und hoch reflektiert: Seit über zwanzig Jahren beschäftigt sich Harig als Erzähler mit seinem eigenen Leben: Keineswegs als naiver Memoirenschreiber, sondern als gewiefter Fabulier- und Montage-Künstler, als aufmerksamer Zeitbeschauer.

    Von seinem Vater, seiner Familie und der kleinbürgerlichen Herkunft im Saarland erzählte Harig im Roman "Ordnung ist das ganze Leben" (1986); in "Weh dem, der aus der Reihe tanzt" (1990) standen die Nazizeit, der Hitlerjunge Harig und die Verstrickungen des Jugendlichen in die Ideologie des Dritten Reichs im Mittelpunkt; und schließlich schilderte Harig in "Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf", wie er zum Lehrer, vor allem aber zum Schriftsteller wurde.

    Nun ist ein weiterer Teil seiner autobiografischen Erzählungen erschienen, der "wahre Roman" "Kalahari" – pünktlich zum 80. Geburtstag am 18. Juli. "Kalahari" ist die Geschichte einer Freundschaft zu dem Franzosen Roland Cazet, den Harig 1949 während seiner Zeit als Student in Lyon kennenlernt. Und dem er Zeit seines Lebens verbunden bleibt, an dem er sich intellektuell reibt
    und seine eigene Entwicklung als Autor spiegelt.

    Harig: "Es ist natürlich ein Freundschaftsdienst meinem Freund Roland gegenüber, der ja jetzt schon vor acht Jahren gestorben ist, mit dem ich aber eine lebenslange Freundschaft unterhalten habe, die nicht abgerissen ist seit 1949. Es ist ja eine kuriose Ausgangssituation in diesem Roman über Roland Cazet und mich selbst, nämlich ich erzähle ja etwas, damit man die gesamte Geschichte versteht, auch von seinem Vater Leon und seinem Großvater Isidor, die beide auch Lehrer gewesen sind wie er selbst, und auch von meinem Vater, der ein ganz einfacher Handwerker gewesen ist, und der Unterschied zwischen dieser französischen Familie und meiner Familie ist ja der gewesen, dass die Franzosen sehr sehr deutschfreundlich waren – sowohl Vater als auch Großvater von Roland, während mein Vater die Franzosen noch als einen Erbfeind angesehen hat."

    "Kalahari" erzählt anhand von zwei Individuen die Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich nach 1945 und ist zugleich auch ein Entwicklungsroman. Der Titel beschreibt das Fernweh des Freundes Roland Cazet – und zugleich den poetischen Sehnsuchtsort des Ich-Erzählers. Was ist Ludwig Harigs "Kalahari" als Schriftsteller?

    "Mein Kalahari ist, dass ich von Kalahari und der Sehnsucht erzählen kann. Und das ist eigentlich von vornherein, als ich zu schreiben begonnen habe nach dem Krieg, meine Arbeitshypothese gewesen, nämlich zu erzählen. Und zwar in der Weise zu erzählen, dass etwas heraufbeschworen wird, was eine Art und Weise von Ereignissen durch das Erzählen hervorruft, die auch als solche übergehen in Erinnerungen und Gedanken und Wünsche anderer, nämlich derer, die dieses erzählte Leben von mir lesen."

    Harig erzählt in schönen Bögen, weit ausschweifend, fast ein wenig umständlich, umwegig, humorvoll und detailgetreu taucht er ein in seine Milieus und dehnt dabei doch die formalen Begrenztheiten des Bildungsromans. Man spürt zuweilen auch heute noch seine Herkunft als Sprachspieler und Experimentator im Geiste der 50er Jahre. Damals ist Harig ein braver Gefolgsmann der Stuttgarter Schule um Max Bense gewesen, und der Philosoph und Theoretiker der Konkreten Poesie soll einmal zu Harig gesagt haben: "Ludwig, lass das Narrative!" Zum Glück hat er nicht darauf gehört. Das Erzählen auch der eigenen Lebenswelt aber war schon von Anfang an als Möglichkeit der Welterfassung da.

    "Wenn man [nämlich] gerade die sehr frühen, sprachexperimentellen Erzählungen und Romane von mir jetzt noch mal in der Werkausgabe, die ja jetzt gerade entsteht, nachliest, stellt man fest, es ist auch von der Ich-Form des Erzählens her immer autobiographisch. In ‚Reise nach Bordeaux’ erzähle ich – natürlich ganz auf experimentelle Sprachart – [erzähle ich] etwas, was tatsächlich geschehen ist, eine Reise nach Bordeaux, die mich zu den Gedanken, zu den Ideen von Montaigne geführt hat, und das darauf folgende umfangreiche Buch ‚Sprechstunden für deutsch-französische Verständigung’ ist ja auch schon ein deutsch-französischer experimenteller Roman."

    Die "Reise nach Bourdeaux" erschien 1965. Davor war es darum gegangen, die Wirklichkeit mit geradezu naturwissenschaftlicher Präzision sprachlich zu fassen – und dabei zugleich der herkömmlichen, auch durch die Lingua Tertia Imperii verdorbenen Sprache neue Facetten zu öffnen. Experimentelle Hörspiele entstande. Harig verwandelte – wie seinerzeit auch Ror Wolf – Fußballspiele zu literarischen Spielereien, er arrangiert eine Collage aus Rousseaus Leben und glaubte früh an die weltschöpferische Macht der Sprache.

    "Ich bin der Meinung, ich bin der Auffassung, ich bin tatsächlich ganz ganz tief davon überzeugt, dass nur das, was erzählt wird, vorhanden gewesen ist. Wovon nicht erzählt wird und wovon nicht erzählt werden kann, ist keine Realität [da]."

    Zwischen den Anfängen als Sprachspieler und Wortalchimist im Geiste Raymond Queneaus und den späteren, konventionelleren Erzähltexten scheint ein unüberbrückbarer Graben zu liegen. Was würde der junge Ludwig Harig über den Ludwig Harig des Jahres 2007 sagen?

    "Es gibt keine Brüche, und ich kann auch überhaupt gar nie einen Bruch bemerkt haben, denn es ist ein Übergang von einem Lernprozess, den ich in den 50er Jahren in der Stuttgarter Schule von Max Bense durchgemacht habe, und dieser Lernprozess hat mich zu dieser Radikalität der experimentellen Literatur geführt. Das hängt zusammen mit meinem Leben, das hängt zusammen mit meiner weltanschaulichen Herkunft. Ich bin während des Krieges in einer nationalsozialistischen Lehrerbildungsanstalt gewesen, und was die Literatur, die Sprache, die Poesie anbelangt, bin ich vollkommen verdorben worden von diesem hohlen Pathos des Nationalsozialismus und von allen diesen Romanen, die im Grunde genommen erstunken und erlogen waren und Ideen widergespiegelt haben, die so falsch sind wie nur irgendetwas falsch sein kann. Deshalb hat mich nach dem Krieg, ich bin ja noch nicht 18 gewesen, als der Krieg zu Ende war, hat mich der tiefe Wunsch beseelt, mich mal mit einer deutschen Literatur zu beschäftigen, die ich in meinen Schuljahren nie kennengelernt habe. Und also mit dem Expressionismus und mit allen diesen Dingen. Und als dann Max Bense kam und gesagt hat in seiner Zeitschrift ‚Augenblick’: Lasst uns doch ausgehen von ganz ganz mathematischen, geradezu objektiven Methoden, die Sprache zu behandeln, was natürlich auch eine Ideologie gewesen ist, was ich aber damals als junger Mensch gar nicht bemerkt habe, aber das ist das, was mich mehr beeinflusst und mehr beeindruckt hat, es selber zu versuchen, als dass ich sozusagen diesem Kahlschlag gefolgt wäre, in eine mehr oder weniger doch auch traditionelle Art und Weise der Literatur."

    Zwischen Bense und Harig ist eine Freundschaft entstanden – und eine intensive Arbeitsbeziehung. In Lesungen und Gesprächen hat man gemeinsam neue Prinzipien des Schreibens entwickelt. Experiment und Konvention aber waren dann für Harig doch nicht gar zu große Gegensätze.

    "Beide haben sich im Laufe der Jahrzehnte so stark angenähert, was ich bei mir selber feststellen kann. Ich bin ja nicht mehr der nach mathematischen Methoden schreibende Romancier, sondern einer, der diese Methoden gelernt hat, aber auch gelernt hat, dass nebenher eine solche wunderbare Prosa entstanden ist von Koeppen und von Hermann Lenz und von diesen Leuten."

    Mit Hermann Lenz hat Ludwig Harig gemein, minutiös und kunstvoll über das eigene Leben und seine Zeit Rechenschaft abzulegen. "Mein Erzählplan ist ein Lebensplan", heißt es einmal in "Kalahari". Das ist zugleich eine Paradoxie: Nämlich das Leben zu empfinden als Erzählung.

    "”Der Untertitel lautet: 'Ein wahrer Roman’. Und eines der drei Motti lautet ja: 'Literatur ist immer Erfindung. Alles Erdichtete ist etwas Erdachtes. Wer eine Geschichte wahr nennt, beleidigt Kunst und Wahrheit zugleich.’ Das scheint sich zu widersprechen, ist aber gar nicht der Fall. Flaubert hat doch so wunderbar gesagt: ‚Madame Bovary, das bin ich’. Und nicht, weil er sich in sie hineinversetzt, meine ich, sondern weil sie das wahrhaftige Alter ego, das andere Ich von ihm selber ist. Und so kann ich auch von meinen autobiographischen Romanen sagen: Ich bin mein Roman. Ich lebe in allen Personen, und zwar nicht indem ich ihr Wesen widerspiegelte, sondern ich versuche es ja suggestiv so zu erzählen, als seien sie tatsächlich Lebewesen, die meinem Gehirn entsprungen sind.""

    Wie sich die biografische Erfahrung in Literatur wendet, wie Distanz bei gleichzeitiger Nähe hergestellt wird, das kann man so in Harigs Büchern immer wieder beobachten: Das Material durchläuft einen Prozess der subjektiven Objektivierung, das eigene Leben wird zu einem erdachten, es scheint wider im Text oder wird "nachgeschaffen", wie es Peter Kurzeck einmal ausgedrückt hat. Diese Poetisierung der eigenen, gespiegelten Existenz findet Harig auch bei einem seiner großen Vorbilder, bei Jean Paul.

    "Wenn er etwas erzählt, dann erzählt er etwas aus seinem Leben selbst, ob es also dieses ‚Schulmeisterlein Wutz’ ist, oder ob es der Luftschiffer Giannozzo ist. Sie erzählen von sich selbst, und was ihre Sprache des Erzählens anbelangt, ist es eine ganz ganz andere Sprache als die Sprache, als der zu Jeans Pauls Zeit lebenden erzählenden Autoren. Das ist eine Sprache, die alle diese Brüche im Satzbau und alle diese nicht streng beachtenden Vorschriften der deutschen Grammatik darauf beruht."

    "Luftschifferei", so nannte Ludwig Harig einmal sein poetisches Verfahren. Seine literarische Fantasie erzeugt eine "Aufhebung der Schwerkraft". Dass das auch mit der Nähe zum Französischen zu tun hat, verwundert nicht: Harig ist im saarländischen Sulzbach geboren. Er studierte am Lehrerbildungsseminar, war "assistant d’Allemand" am Collège Moderne in Lyon und sog früh die französische Sprache und Literatur auf. Er hat Raymond Queneau übersetzt und dabei freie, offene, spielerische Formen kennengelernt. Ludwig Harig ist kein Autor der Provinz, wenn er ihr auch zeitlebens treu geblieben ist. Zusammen mit seiner Frau lebt er noch immer im Geburtsort Sulzbach nahe Saarbrücken.

    "Da sind wir beide, meine Frau und ich – wir sind gleichaltrig – und wir kennen uns ja jetzt schon über viele viele Jahrzehnte und sind auch schon seit unserer Zeit aus dem Lehrerseminar nach dem Krieg zusammen – wir sind beide hier in Sulzbach geboren, wo auch schon unsere Eltern und Großeltern geboren sind, und wir bleiben auch hier. Aber wir hatten, muss ich ehrlich gestehen, großes großes Glück, dass wir längere Zeiten im Ausland gelebt haben: ein halbes Jahr haben wir in Paris, ein halbes Jahr in Berlin, ein halbes Jahr in Texas, ein halbes Jahr in England gelebt, und haben die Welt schon kennengelernt. Aber wir sind immer nach Hause zurückgekehrt."

    Sulzbach ist so der Mittelpunkt der Welt – und das Haus, in dem Harig wohnt, wird zum literarischen Labor, wo im Mischen von Lebensmaterial, von persönlicher und literarischer Erinnerung kontinuierlich neue Texte entstehen.

    "Ich stehe morgens sehr früh auf, nicht nach halb sieben, und um etwa halb acht, acht fange ich an zu schreiben. Ich sitze an meinem Schreibtisch, vier oder fünf Stunden, und schreibe dann während des ganzen Tages nichts mehr als nur meine Zettelchen, die eine richtige Zettelwirtschaft herstellen, beim Spazierengehen mit meiner Frau – ich gehe jeden Tag anderthalb bis zwei Stunden nach dem Mittagsschläfchen mit ihr Spazieren - , aber es wird nicht mehr geschrieben. Es wird lediglich darüber gesprochen, wenn ich also mit meiner Frau diesen Spaziergang mache, dann erzähle ich ihr woran ich gerade am Laborieren bin, und dann fällt mir etwas ein, eine Formulierung oder ein Begriff, dann schreibe ich das sofort auf ein Zettelchen. Es ist also eine fürchterliche Zettelwirtschaft, aus der mein erzählendes Schreiben hervorgeht."

    Und was wünscht sich Ludwig Harig zum Geburtstag?

    "Ich würde mir am liebsten das ewige Leben wünschen, aber das geht gar nicht. Ich wäre schon sehr glücklich, wenn ich zusammen mit meiner Frau über das 80. Lebensjahr hinaus noch eine längere Zeit zusammen leben könnte."