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Buch der Woche
Im Schatten junger Mädchenblüte

Sechzig Jahre nachdem die erste deutsche Übersetzung von Marcel Prousts Großwerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" erschien, kommt nun nach und nach eine Neuauflage auf den Markt. In zehnjähriger Arbeit hat der Linguist Bernd-Jürgen Fischer seine Übersetzung angefertigt. Der Band "Im Schatten junger Mädchenblüte" liest sich mitunter geschmeidig.

Von Wolfgang Schneider | 07.09.2014
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    Der französische Schriftsteller Marcel Proust schuf mit seinem siebenteiligen Werk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ein monumentales Meisterwerk des Romans des 20. Jahrhunderts. (picture-alliance / dpa / Ullstein )
    Mit "Im Schatten junger Mädchenblüte", dem zweiten Band des Zyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", erschienen 1919, begann Prousts Erfolgsgeschichte. Ihm wurde der renommierte Prix Goncourt verliehen, Auflage folgte nun auf Auflage, und die Publikation der weiteren Bände war gesichert: Das Werk war in der Welt.
    Das Buch bietet die Wiederkehr vertrauter Figuren, etwa des feinen Herrn Swann mit seiner vormals halbweltlichen Gattin Odette und der Tochter Gilberte, der ersten komplizierten Liebe im Leben des Erzählers Marcel. Prousts Analyse der menschlichen Empfindungen wird bestimmt durch das Wechselspiel von Illusion und Ernüchterung. Von Zeit zu Zeit wird für seinen jungen Helden ein Traum Wirklichkeit; aber er erfüllt sich dabei nicht. Das gilt für die Liebe ebenso wie für den sozialen Ehrgeiz und leider oft auch die Kunst. Zu Beginn dieses Bandes gelingt es Marcel endlich, die hochverehrte Schauspielerin Berma in einer Aufführung von „Phädra" zu sehen. Nur leider, der Kunstgenuss bleibt verhalten; die Begeisterung wächst erst mit dem Applaus:
    "In dem Maße, in dem ich Beifall spendete, schien mir auch die Berma besser gespielt zu haben. 'Wenigstens', sagte eine ziemlich gewöhnliche Frau neben mir, 'verausgabt die sich, die treibt sich an, bis sie umfällt, die bringt ihre Sache an den Mann, da können Sie sagen, was Sie wollen, das nenne ich Spielen!' Und glücklich, diese Gründe für die Überlegenheit der Berma zu finden, auch wenn ich ahnte, dass sie diese so wenig erklärten wie der Ausruf eines Bauern 'das ist schon gut gemacht!, ganz gediegen, und tadellos!, was für eine Arbeit!', jene der Mona Lisa oder des Perseus von Benvenuto, hatte ich doch berauscht teil am kruden Wein dieser öffentlichen Begeisterung. Ich empfand dennoch, als der Vorhang gefallen war, Enttäuschung darüber, dass das Vergnügen, das ich so sehr herbeigesehnt hatte, nicht größer gewesen war."
    Großwerk des 20. Jahrhunderts
    Das ist der Klang der Neuübersetzung von Bernd-Jürgen Fischer. Sehr geschmeidig, bis auf eine Stelle: "kruder Wein" – das klingt selbst ein wenig krude. "Vin grossier" steht bei Proust. "So berauschte ich mich doch am derben Landwein dieser Volksbegeisterung", heißt es plausibler in der alten Übersetzung.
    Ein literarisches Initiationserlebnis für Marcel ist die Begegnung mit dem Schriftsteller Bergotte. Allein der Name "Bergotte" wird zu einem symbolischen Gefäß, in dem ein ganzer Erwartungscocktail schäumt, zumal die geliebte Gilberte mit dem Dichter persönlich bekannt ist. Als Marcel ihn nun erstmals bei den Swanns trifft, wird wiederum effektvoll der Zusammenprall von Erwartung und Wirklichkeit, Illusionierung und Ernüchterung inszeniert.
    "Madame Swann verkündete ganz plötzlich, gleich nach meinem Namen, in derselben Weise, in der sie ihn gerade ausgesprochen hatte, den Namen des sanften Sängers im schlohweißen Haar. Der Name Bergotte ließ mich zusammenfahren, als ob man einen Revolver auf mich abgefeuert hätte, aber instinktiv, um Haltung zu bewahren, verbeugte ich mich; wie es einem bei diesen Illusionisten ergeht, die man unversehrt und mit Gehrock im Pulverdampf eines Schusses stehen sieht, dem dann eine Taube entflattert, erwiderte meinen Gruß ein junger, grobschlächtiger, kleiner, stämmiger und kurzsichtiger Mann mit einer roten Nase wie ein Schneckenhaus und einem schwarzen Spitzbart. Ich war zu Tode betrübt, denn das, was hier gerade restlos zu Staub zerfallen war, war nicht allein der gefühlvolle Greis, von dem nichts mehr übrigblieb, sondern auch die Schönheit eines ungeheuren Werks, die ich in dem hinfälligen und geheiligten Organismus, wie in einem eigens für sie von mir erbauten Tempel, hatte einquartieren können, für die jedoch kein Platz vorgesehen war in dem gedrungenen, mit Gefäßen, Knochen Lymphknoten angefüllten Körper des kleinen Mannes mit krummer Nase und schwarzem Spitzbart, der da vor mir stand."
    "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ist ein Großwerk des 20. Jahrhunderts. Deshalb kann die spärliche Übersetzungsgeschichte verwundern. Das Monopol hat bisher die verdienstvolle Übersetzung von Eva Rechel-Mertens, original oder in der Überarbeitung von Luzius Keller. Zwar gab es bereits in den Zwanzigerjahren einige Übersetzungsversuche, sie blieben aber unzulänglich oder unvollständig, wie die Walter Benjamins. Eine angemessene deutsche Fassung ließ mehr als drei Jahrzehnte auf sich warten. Erst die vollständige Übertragung von Rechel-Mertens, entstanden in den Fünfzigerjahren, gab Proust die deutsche Stimme. Angesichts der heute üblichen Geschwindigkeit, mit der wichtige Werke anderer Literaturen auf Deutsch zu lesen sind, erscheint das erklärungsbedürftig. Zum einen konnte im Literaturklima des "Dritten Reichs" keine Proust-Übersetzung gedeihen. Zum anderen liegt es an den schieren Dimensionen und sprachlichen Herausforderungen der "Recherche".
    Neuübersetzung beendet Alternativlosigkeit
    Sehr erfreulich deshalb, dass die Zeit der Alternativlosigkeit nun vorbei ist. Der Linguist Bernd-Jürgen Fischer hat in zehnjähriger Arbeit die ganze "Recherche" in aller Stille übersetzt. Seine Fassung erscheint etappenweise seit dem vergangen Jahr. Das Echo der Kritik blieb bisher allerdings verhalten. Manche scheinen Fischers Überraschungscoup als eine Art ungebührliche Bemächtigung zu empfinden. Suhrkamps Lufthoheit über Proust gefährdet!
    "Im Schatten junger Mädchenblüte" ist der sommerlichste Band des Romanzyklus. In der zweiten Hälfte reist Marcel mit seiner unendlich sanftmütigen Großmutter an die normannische Küste, in das mondäne Badestädtchen Balbec. Es ist ein Ort des Luxus und der Moden, insbesondere das Hotel...
    "...wo die elektrischen Quellen Fluten von Licht durch den großen Esssaal branden ließen, der wie zu einem riesigen, wundersamen Aquarium wurde, vor dessen gläserner Wand sich die arbeitende Bevölkerung von Balbec, die Fischer und auch die Kleinbürgerfamilien, unsichtbar im Dunkel an die Scheiben drückte, um das langsam von den goldenen Strömen gewiegte Luxusleben dieser Leute zu betrachten, das für die Armen ebenso fremdartig war wie exotische Fische oder Mollusken (eine bedeutende soziale Frage, ob die gläserne Wand auf Dauer das Gelage der wundersamen Bestien schützen wird)."
    Prousts Sätze sind lang und labyrinthisch, voller Differenzierungen und Einschübe, Vergleiche und Analogien. Sätze, die unterwegs sind, als wären sie selbst kleine Geschichten, an deren Ende nach einer Reihe von Verwicklungen eine überraschende Auflösung steht. Eva Rechel-Mertens hat mit ihren manchmal geradezu lateinisch anmutenden Konstruktionen in den weitausschwingenden Satzbögen für Übersicht gesorgt. Sie hat mittels des Semikolons aus einer langen Nebensatzkonstruktion oft mehrere Hauptsätze gebaut, manchmal aus einem Satz zwei oder drei gemacht. Fischer dagegen bemüht sich den langen Atem der Proust-Sätze auch im Deutschen wehen zu lassen. Über weite Strecken gelingt ihm das erstaunlich gut. Dadurch bekommt der deutsche Proust einen neuen Ton, der dem Original näher ist als die bisherige Aufgeräumtheit. Vorzüge entwickelt Fischers Fassung vor allem bei den Beschreibungen, auch die lyrisch-poetischen Passagen gelingen ihm gut.
    In Balbec zieht eine Gruppe blühender Mädchen um die kapriziöse Albertine Marcel in den Bann. Die "kleine Bande", wie die legendäre "kleine Schar" der alten Übersetzung nun heißt, vereinigt Frechheit mit Anmut. Jugend triumphiert:
    "Die Frau eines alten Bankiers hatte für ihren Mann einen Faltstuhl ausgesucht, der zum Deich hin ausgerichtet und durch den Musikpavillon vor Wind und Sonne geschützt war. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass er gut untergebracht war, ließ sie ihn allein, um wie gewohnt eine Zeitung für ihn zu kaufen, aus der sie ihm vorlesen wollte... Die Tribüne des Pavillons bildete über ihm ein natürliches, verlockendes Sprungbrett, auf dem die älteste der kleinen Bande ohne Zögern Anlauf nahm; und sie sprang über den zu Tode erschrockenen Greis hinweg, dessen Strandhut ihre flinken Füße streiften, zum großen Jubel der anderen. 'Der alte Knabe, der tut mir aber echt leid, der ist ja schon halb verreckt', sagte eines der Mädchen mit heiserer Stimme und halb ironischer Betonung.'"
    Marcels Denken jedenfalls kreist fortan um die kleine Bande, um die Momente des Sehens und Gesehenwerdens, um jede Chance der Begegnung. Die Aussicht, den geschätzten Maler Elstir kennenzulernen, gilt ihm nichts, solange die "Mädchenblüte" sein Hirn berauscht. Dabei ist Elstir die bedeutendste Künstlergestalt der "Recherche"; Proust vertraut dem Genie die eigene Poetik an: das Aufbrechen von Wahrnehmungsgewohnheiten, das Fixieren flüchtigster Eindrücke, der Mut zur radikalen Subjektivität. Eine Ironie besteht darin, dass Marcel gerade bei Elstir den Kontakt zur "kleinen Bande" bekommen wird; die Mädchen gehen bei dem Maler ein und aus.
    Die wandlungsfähigen Gesichter der Mädchen werden so minutiös beschrieben wie die Stimmungen des Meeres. Trotzdem verschwimmen sie ineinander, ihre Züge sind noch unausgeprägt, ihr Fleisch erscheint bisweilen formbar wie ein Pastetenteig, geknetet von den Eindrücken des Augenblicks. Täuschungen, Irritationen, trügerische Ähnlichkeiten, bis hin zur Auflösung einer Physiognomie und Gestalt in reinem Impressionismus, wie bei der chimärischen Albertine, deren existenzielle Flüchtigkeit sich in der Liebe zu rasanten Rad- und Autofahrten niederschlägt.
    Die archetypische Anfangsszene der Versagung, der von der Mutter verweigerte Gutenachtkuss, findet im zweiten Band ein Echo, als Marcel mit rauschhafter Vorfreude und dem Vollgefühl der Grandiosität zu einem abendlichen Besuch in Albertines Hotelzimmer aufbricht und sich dort von ihrem Lächeln zunächst noch stimuliert fühlt. Doch es kommt anders:
    "'Hören Sie auf, oder ich läute', schrie Albertine, als sie sah, dass ich mich über sie werfen wollte, um sie zu küssen. Aber ich sagte mir, dass nicht umsonst ein junges Mädchen heimlich einen jungen Mann kommen lässt, dafür sorgt, dass die Tante nichts erfährt, und dass im Übrigen der Wagemut denen zum Erfolg verhilft, die eine Gelegenheit zu nutzen verstehen. (...) Ich würde den Geruch, den Geschmack dieser unbekannten rosigen Frucht kennenlernen. Ich hörte einen schrillen, anhaltenden Ton losbrechen. Albertine hatte mit aller Kraft geläutet."
    Schon hier ist Albertine, was sie in späteren Exzessen der Eifersucht sein wird: eine, die sich entzieht. Man liebt niemanden mehr, wenn man liebt – so könnte man Prousts Analyse der Leidenschaft und ihrer Verheerungen zusammenfassen. Liebe als Passion ist für ihn eine Art Erkrankung, ein böser Bann, fast nie gegenseitig. Rettung bringt nur die Zeit, indem sie irgendwann Gleichgültigkeit schafft.
    Unterhaltsamer versnobter Widersacher Bloch
    Immer ein Vergnügen sind die Auftritte Blochs, des Jugendfreundes und Widersacher Marcels. Mit seinen miesen Manieren, seiner Aufsässigkeit und Aufdringlichkeit, seiner Neigung zu hochgestochenen Redeweisen und Rundum-Ironisierung repräsentiert er jene Persönlichkeitsanteile, die der gute Sohn Marcel unterdrückt. Der offenkundige Snobismus Blochs ist das Spiegelbild seines eigenen, verhohlenen. Im Zusammenhang mit dieser Figur kommt immer wieder ein zentrales Motiv ins Spiel: der Antisemitismus der Ära Dreyfus. Viele Figuren haben antijüdische Ressentiments. Albertine meint nach einer kurzen Begegnung auf der Strandpromenade: "Ich hätte wetten mögen, dass das ein Itzig war. Typisch deren Tour, hängen sich dran an einen wie die Zecken." Das klingt nicht schön; nicht nur durch den bösen Zecken-Vergleich, sondern auch die Bezeichnung "Itzig", die für deutsche Leser heute einen nationalsozialistischen Unterton hat. "Jude" aber wäre zu schwach für den abwertenden französischen Ausdruck "youpin". Bei Rechel-Mertens ist die Stelle entschärft im Stil der Fünfzigerjahre: "Das habe ich mir doch gedacht, dass das ein Judenjüngling ist. Die öden einen immer so an." Von Zecken keine Rede.
    Es folgt eine Passage, die Albertines Verdruss über Bloch begründet. Der geschwätzige Bursche hat sie bloßgestellt. Albertine hat einen verstauchten Fuß als Vorwand genutzt, um eine lästige Einladung abzusagen. Manches Sportereignis lässt sie sich aber trotzdem nicht entgehen. Bloch plaudert es scherzhaft aus: "Sie liegt auf der Chaiselongue, aber dank der Gabe der Ubiquität taucht sie gleichzeitig hier und da beim Golf auf." So jedenfalls Rechel-Mertens; der theologische Begriff der "Ubiquität", der auch bei Proust steht und die Omnipräsenz Gottes meint, trifft wunderbar die ironisch-hochgestochene Redeweise Blochs. In Fischers Eindeutschung ist Blochs Pointe leider verwässert: "Sie befindet sich auf der Chaiselongue, doch im Wege der Allgegenwart besucht sie dennoch zugleich so manches Golfspiel."
    Kurios ist der erste Auftritt des Baron Charlus, der bizarrsten Figur des Romanzyklus, gefürchtet für schroffe, hochfahrende Auftritte.Marcel weiß nicht, mir wem er es zu tun hat, als er eines Morgens von einem Mann mit ungemein intensiven und sehr unruhigen Blicken fixiert wird, Blicke wie die eines Spions oder Irren, denkt er. Bevor aber Charlus erstmals in Erscheinung tritt, hat schon die Legendenbildung begonnen. Marcels Freund Robert de Saint-Loup berichtet von der stilbildenden Wirkung, die sein kluger und kunstsinniger Onkel einmal hatte.
    "Heute kann man sich wohl kaum noch vorstellen, wie tonangebend, wie bestimmend er in seiner Jugend für die ganze Gesellschaft war. Er selbst tat immer nur das, was ihm gerade am angenehmsten, am bequemsten erschien, aber das wurde sofort von den Snobs nachgemacht. Wenn er im Theater Durst bekam und sich etwas zu trinken in den hinteren Teil der Loge bringen ließ, waren in der Woche darauf die kleinen Salons, die sich hinter jeder Loge befanden, allesamt vollgestopft mit Erfrischungen."
    Übersetzung so wortgetreu wie möglich
    Bernd-Jürgen Fischer hat das Ethos der meisten heutigen Übersetzer: so wortgetreu wie nur möglich zu übertragen. Das war früher nicht selbstverständlich; alte Übersetzungen Dostojewskis, Tolstois oder Svevos klangen im Deutschen oft glatter als die ungebürsteteren Originale. Bisweilen erscheint das Dogma der Wörtlichkeit jedoch fragwürdig. In Balbec begegnet Marcel Octave, einem smarten Burschen und Mädchenschwarm, immer mit Golf- und Tennisschläger unterwegs, bestens bewandert in allen Stil- und Kleidungsfragen, ein Kenner von Pferden, Zigarren und Bargetränken; nebenbei, eine Karikatur des jungen Jean Cocteau. Marcel jedenfalls ist von Octave beeindruckt und bedauert es, dass Albertine ihn nicht vorgestellt hat. "Aber woher", ruft Albertine in Fischers Neuübersetzung darauf aus, "ich kann sie doch nicht so einem Gigolo vorstellen! Hier wimmelt das nur so von Gigolos!"
    Gigolo? Das Wort irritiert. "Ich kann Sie doch nicht mit so einem Laffen bekannt machen", hieß es bei Rechel-Mertens, und der "Laffe" scheint Albertines Verachtung treffender ausdrücken. Und was steht bei Proust? Tatsächlich "Gigolo"; das Problem liegt aber darin, dass "Gigolo" heute im Deutschen einen ganz anderen Klang hat als in Frankreich 1919. Es ist ein abgelebtes Illustriertenwort aus der Gunter-Sachs-Epoche. In der Abweichung vom Wörtlichen wäre das Geckenhafte, auf das Proust zielt, deutlicher geworden.
    Zu den Hauptreizen des Riesen-Romans gehören die plastischen, komplexen, oft auch komischen Charaktere, wie der mit selbstherrlicher Souveränität auftretende Diplomat Norpois. Madame Bergotte meint an einer Stelle abschätzig über ihn:
    "Ich wollte mich mit ihm nach dem Essen unterhalten, ich weiß nicht, liegt das am Alter oder an der Verdauung, aber ich fand ihn ziemlich schlüpfrig. Ich glaube, man müsste ihn mal dopen!"
    Fischer verfehlt teilweise Geist des Originals
    Auch dies eine Stolperstelle. Wieso wird Norpois "schlüpfrig" durch Alter oder Verdauung? Und warum soll der Diplomat "gedopt" werden – ist er denn unter die Leistungssportler gegangen? "Vaseux", was Fischer mit "schlüpfrig" übersetzt, bedeutet eher "duselig" – Herr Norpois, sonst ein Mann geschliffener Worte, ist nach dem Essen müde und wortkarg. Deshalb könnte er etwas Stimulierendes vertragen, aber muss man das mit dem heutigen Anglizismus "dopen" übersetzen, nur weil im Original das Wort "doper" steht?
    Fischer befleißigt sich der Wörtlichkeit, verfehlt aber dann den Geist des Originals, wenn dieser sich nur mit etwas lockerer Leine auch im Deutschen entfalten könnte. Von der Schauspielerin Léa sei bekannt, "dass ihre Neigungen nicht nach der Seite der Herren gingen", heißt es schlicht und witzig bei Rechel-Mertens. Bei Fischer ist nun die Rede von einer Frau, "deren Neigungen nicht in dem Ruf standen, sie hauptsächlich zum Herrenufer zu tragen." Das klingt verstolpert. In solchen Momenten wird klar: Auf Rechel-Mertens können wir noch nicht verzichten. Denn sie verfügt über Esprit, Bernd-Jürgen Fischer eher nicht. Bei den beschreibenden und poetischen Passagen fällt das kaum auf, umso mehr jedoch in den oft der Gesellschaftskomödie dienenden Dialogen. Das Wörterbuch reicht dann oft nicht aus, um den Geist, den feinen Witz oder den maliziösen Unterton einer Bemerkung auszuloten.
    Proust war im Übrigen kein buchstabengläubiger Anhänger des perfekten Textes. Wenn er seinen Roman wieder und wieder überarbeitete und ergänzte, dann weniger, weil er ihm eine endgültige Gestalt geben wollte, sondern weil er Texte prinzipiell als vorläufig ansah. Hätte er mehr Zeit gehabt, wäre der Roman weiter gewuchert, wie ein Baum, dem seitlich immer neue Triebe ausbrechen. Proust ist kein Snob gegenüber dem Leser. Er weiß: Literatur verwirklicht sich erst in der Lektüre.
    Marcel Proust: "Im Schatten junger Mädchenblüte. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit",
    2. Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer. Reclam Verlag. 844 Seiten. 32,95 Euro.