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Buchkunst aus einer Hand

Während die meisten großen Verlage auf Masse setzen, setzt Ulrich Keicher auf Klasse: Sein Verlag veröffentlicht schön gestaltete Bände in kleinen Auflagen. Er verlegt Originalausgaben der Gegenwartsliteratur, aber auch unbekannte oder zu unrecht vergessene ältere Texte. Aber was heißt: sein Verlag? Keicher ist Lektor, Grafiker, Setzer, Drucker und Binder, zudem Presseabteilung und Vertrieb - in Personalunion.

Von Matthias Kußmann |
    "Diese neun Blätter von Brigitte Kronauer, die liegen schon in der richtigen Reihenfolge. Dann kommt das Vorsatzpapier dazu und dann muss ich es kniffen. Das geschieht so: Dann ist der Buchblock so wie er sein soll. Jetzt muss ich ihn beschneiden, das hat sich alles so ziemlich automatisiert. Deswegen reicht mir auch die kleine Schneidemaschine, da geht es grade runter. Und dann muss es gebunden werden."

    Ulrich Keicher in seiner Werkstatt. Hier entstehen Bücher großer Autoren wie Sarah Kirsch oder Wulf Kirsten. Allerdings ist das, was andre Verlage "Herstellung" nennen, eine Scheune hinter einem alten Bauernhaus, im schwäbischen Warmbronn. Und die vielen Arbeitsgänge, die ein Buch vom Manuskript bis zur Auslieferung braucht, erledigt der Verleger selbst. Keicher ist Lektor, Grafiker, Setzer, Drucker und Binder, zudem Presseabteilung und Vertrieb - in Personalunion. Gerade stellt er ein Buch von Brigitte Kronauer fertig: sechs Texte über Kunst mit dem schönen Titel "Die Sprache von Zungen- und Sockenspitze". Um die Büchner-Preisträgerin hat er lang geworben. Doch das ist die Ausnahme. Die meisten Autoren fragen von sich aus, ob er sie verlegt:

    "Oder dass ein Autor, der schon da ist, auch ein Wulf Kirsten oder so, sagt: "Ich hab mal mit dem und dem gesprochen, der würde auch. Passt der?" Das sind dann Situationen, wo ich auch ablehnen kann, wenn es nicht passt oder vom Volumen her nicht geht."

    Während die großen Verlage meist auf Masse setzen, setzt Keicher auf Klasse: schön gestaltete Bände in kleinen Auflagen. Er verlegt Originalausgaben der Gegenwartsliteratur, aber auch unbekannte oder zu unrecht vergessene ältere Texte. So kam Helmut Heintel zu ihm, ein Stuttgarter Chefarzt, der sich mit Gottfried Benns Werk beschäftigte.

    ""Er hat sich schon von früh an literarisch interessiert, hatte auch einen guten Stil, wenn auch ein bisschen altertümlich. Von ihm hab ich 12, 14 Titel über Benn - oder Texte von Benn, die er irgendwo gefunden hat. Er war einer der besten Kenner in so kleinen Teilen und hat sehr penibel recherchiert. Und es waren immer Dinge, die man bis dato nicht kannte! Ich hatte plötzlich eine ganze Gemeinde, die die ganzen Heintel-Titel und Benn-Titel bestellt hat. Es ist so: Die Tendenz bei mir hat sich vom rein Lyrischen oder Poetischen ein bisschen weg ins Essayistische und ins "Habhafte" entwickelt."

    Vor einigen Jahren erhielt Keicher den Preis des Landes Baden-Württemberg für Kleinverlage. Jetzt gab es gleich ein doppeltes Jubiläum: der Verlag -wurde 25, der Verleger 65 Jahre - wozu auch eine schön gestaltete Festgabe erschien. Sie heißt "Brotschrift", und 40 seiner Autoren gratulieren - etwa Wilhelm Genazino:

    Viele Autoren haben kurze Arbeiten in den Schubladen, die sie bei ihren Hausverlagen nicht unterbringen können, weil sich aus diesen Texten keine groß angelegten Buchprojekte machen lassen. Der Kleinverlag ist heute ein Fluchtpunkt für Texte geworden, die nicht unbedingt gewinnmaximierend kalkuliert werden können, aber trotzdem ihre Leser finden sollen. Unter den Gründen, bei Ulrich Keicher zu publizieren, darf einer nicht ungenannt bleiben, nämlich die Sympathie nicht nur für den Verlag und seinen Verleger, sondern auch für beider Existenzweise. Das heißt Sympathie für den Alltag eines Buchherstellers, der von der Annahme eines Manuskripts bis zu persönlich ausgeführten Klebearbeiten die Herstellung eines Büchleins ganz auf seine Person konzentriert. Diese Bündelung des Buchwissens sieht man den Büchern dann auch an. Bis heute erinnern Keichers Hefte daran, dass Literatur eine schnell wirkende Belebung ist, so ähnlich wie das plötzliche Öffnen eines Fensters.

    Ulrich Keicher stammt aus einer schwäbischen Bauernfamilie. Als Exot der Sippe ging er nach Freiburg und lernte bei dem legendären Buchhändler Fritz Werner. Daneben studierte er ein paar Semester und gründete in Warmbronn ein Antiquariat. Früh lernte er so illustre Leute wie den Philosoph Martin Heidegger und den früheren Expressionist Kurt Heynicke kennen. Der war schon über 80, im literarischen Leben vergessen. Keicher druckte seine späten Texte in einer 100er-Auflage - und zwar zusammen mit Schülern eines Gymnasiums, im Siebdruck. Als Heynicke die Bände signierte, erzählte ihm Keicher von dem Druckverfahren, bei dem man einen sogenannten "Rakel" braucht. Und Heynicke war so beeindruckt, dass er plötzlich begann, mit "Heynickel" zu signieren... Derlei Geschichten hat Keicher viele parat - kleine Bruchstücke gelebter Literatur. Der Siebdruck geriet übrigens eher laienhaft, doch der Band ist heute ein gesuchtes Sammlerstück.

    Keicher: "So hat sich das dann entwickelt, dass ich, bevor ich die Verlegerei anfing, schon privat Kleindrucke gemacht hab für Lesungen, die ich mit einer Galerie in Leonberg zusammen machte. Da sind die Autoren, die ich später in den Verlag übernommen hab, schon aufgetaucht."

    25 Jahre sind eine lange Zeit für einen Klein-Verlag im Haifischbecken Buchmarkt - zumal Keicher zu keiner großen Kette gehört und keine Sponsoren hat:

    "Ich hab nie die Ambition gehabt, einen großen Verlag zu machen. Ich hab früh erkannt, dass ein Drei-, Vier-Mann-Verlag sich großen Risiken aussetzt, schon in den 70er Jahren. Als ich anfing, war mir ganz klar: Ich werde die Schwelle nie überschreiten in das richtige Verlagsgeschäft. Ich wusste, dass man Verlagsvertreter braucht, dass man Auslieferungen braucht, dass es den Zwischenbuchhandel gibt - und, wenn man Verleger ist, die Dinge eigentlich alle benützen müsste. Da hab ich gesagt: Wenn ich es mach, muss es auch anders funktionieren."

    Es funktionierte. Schnell wurde die Reihe "Roter Faden" bei Autoren und Sammlern bekannt: bibliophile Hefte mit Lyrik und Prosa, alles Original-Ausgaben, in Bleisatz, Auflage 200. Autoren waren Manfred Peter Hein, Johannes Poethen oder Christoph Meckel.
    "Mit der hab ich ganz konsequent zehn Jahre später, 1996, aufgehört. Der letzte Band ist noch im Bleisatz gemacht. Wo ich gesehen hab, dass der Bleisatz nicht mehr funktioniert, weil die Voraussetzungen nicht mehr da sind, den Setzer gabs nicht mehr - war das ein Einschnitt. Ich hatte auch genug von dem "Roten Faden". Das waren diese schwarzen Hefte, obwohl ich am Anfang wirklich nicht dran gedacht hatte, ähnlich des "Jüngsten Tags" von Kurt Wolff. Es sind 44 Titel in der Reihe erschienen."

    Von da an setzt Keicher selbst, am Computer - und druckt auf gutes Papier, Achtung!, mit dem Laserdrucker. Wenn man die Hefte oder Bücher sieht, staunt man über die Qualität: kein Unterschied zu den großen Verlagen, im Gegenteil, sie sind viel schöner - selbst Grafik-Reproduktionen gelingen:

    "Diese Bände hier: Das ist eine Auswahl aus allen drei Büchern von Dante, von der "Göttlichen Komödie". Dazu hat Anselm Röhr, knapp 70-jähriger Künstler in München, er wohnt in Italien, Zeichnungen gemacht. Das sieht aus wie lithografiert! Selbst diese Struktur von dem Büttenpapier gibt der Drucker her! Ich bin selbst frappiert von den Sachen, dass das so toll rauskommt. Und wenn Sie´s vergleichen mit dem Original, kommt es ziemlich nah."

    Dantes "Göttliche Komödie", zweisprachig, in drei großformatigen Bänden im Schuber - eine Augenweide, allerdings für 180 Euro. Bedenkt man freilich, dass Keicher einige Tage für Druck, Schneiden und Bindung jedes Exemplares braucht, ist das nicht zu viel. - Im Zentrum des Verlagsprogramms stehen aber die schön gemachten Hefte. Die Auflage liegt meist bei 300, sie haben um die 32 Seiten, kosten etwa 10 Euro - und sind kleine Kunstwerke, oft sogar mit eingeklebten Fotos oder Faksimiles. Damit hat Keicher eine Markt-Nische gefunden - zwischen den großen Verlagen mit ihrer Standart-Produktion und teuren bibliophilen Drucken für Sammler. Wobei Nischen nicht immer klein und marginal sein müssen. In der Festschrift meint der Philosoph Dieter Henrich:

    Nischen waren in der römischen Baukunst der Platz für die Statuen von Göttern, Herrschern und Würdenträgern. Eine Nische kann, selbst wenn sie unscheinbar ist, als Mihrab die Richtung angeben, die den Augenblick zum Absoluten und zu dem letztlich Maßgebenden leitet. In der Nische, die sich Ulrich Keicher erschlossen hat, ist - wie in einer klug gestalteten Klausur - die höchste Idee einer Beziehung zwischen Text und Buch, zwischen Einband und Druckbogen und zwischen Autor und Verleger verwirklicht - ihrer eigentlichen, unserer Zeit zumeist ganz versagten Gestalt nach, als Ausnahme also, aber ebenso als beschwingter Trost in der wirklichen Welt der maschinellen Buchproduktion und siech gewordenen Buchkunst.

    Am Markt hat sich Keicher nie orientiert:

    "Nein. Da hab ich eigentlich auch nie dran gedacht. Es waren immer die eigenen Vorstellungen und Vorlieben für Literatur."

    Er verlegt viele hochklassige, aber leise Autoren, die leider nur wenige Leser finden, wie Hermann Lenz oder Johannes Kühn - da sind kleine Auflagen gerade richtig. Doch manchmal kommt es auch anders, und der Ein-Mann-Betrieb stößt an seine Grenzen. So entsteht die absurde Lage, dass Keicher gar nicht will, dass sich ein Buch zu schnell zu gut verkauft - wie gerade bei Prosa von W. G. Sebald geschehen. Da musste Keicher innerhalb von sechs Wochen 500 Hefte herstellen; alle andern Projekte blieben liegen:

    "Deshalb bin ich jetzt durch den relativen Erfolg, was ja schön ist, wirklich ein bisschen in die Bredouille geraten: dass ich zu viele Bücher machen muss im Moment - also in der Auflage, nicht zu viele Titel. Was sich jetzt gerade mit dem Sebald ereignet hat, möchte ich eigentlich nicht mehr, weils mich einfach total blockiert, wenn es noch mehr wird. Aber bei Brigitte Kronauer kann ich eine 300er-Auflage ein Jahr oder anderthalb Jahre verkaufen. Wenn dann eine zweite Auflage kommt, bewältige ich das in meinem normalen Ablauf. Deswegen kann ich heute sagen: Die 300er-Auflage hat sich sowohl von daher, dass es ein Reiz für Sammler ist, aber auch von der realistischen Einschätzung her bewährt."

    Ulrich Keicher ist jetzt 65 - ans Aufhören denkt er glücklicherweise nicht. Begeistert erzählt er von Gesprächen mit Autoren und neuen Projekten: Gerade wurden Essays von Wilhelm Genazino fertig, geplant sind Hefte über unbekannte Texte von Paul Celan und Gottfried Benn - die garantiert wieder Aufsehen erregen.
    Die Neuerscheinungen:
    - Brigitte Kronauer: Die Sprache von Zungen- und Sockenspitze. Sechs Texte zu Bildern. 32 Seiten, 12 Euro

    - W. G. Sebald: Zerstreute Reminiszenzen. Gedanken zur Eröffnung eines Stuttgarter Hauses. 32 Seiten mit 16-seitiger Beilage, 16 Euro

    - Wilhelm Genazino: Die Tugend die Trauer das Warten die Komik. 32 Seiten, 12 Euro

    - Brotschrift. Festschrift für Ulrich Keicher. Hrsg. Von Friedrich Pfäfflin, Joachim Kalka und Matthias Bormuth. 200 Seiten, 15 Euro, erhältlich über die Christian Wagner Gesellschaft, Warmbronn