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Buchrezension
Klassenkampf auf dem Fußballfeld

Eine klassenlose Gesellschaft - sie war Ziel im Arbeitersport, auch auf manchen Fußballplätzen. Der Sporthistoriker Christian Wolter widmet sich in seinem Buch dem Berliner Arbeiterfußball in der Weimarer Republik, einem vergessenen Kapitel deutscher Fußballgeschichte. Ein sportliches Phänomen, das zu seiner Zeit zahlreichen Konflikten ausgesetzt war.

Von Erik Eggers | 01.05.2015
    Das undatierte Foto zeigt einen Torwart in Aktion während eines Fußballspiels in den zwanziger Jahren.
    Das undatierte Foto zeigt einen Torwart in Aktion während eines Fußballspiels in den zwanziger Jahren. (picture alliance/dpa - Ullstein Bild)
    Ein großes Fest hatte der deutsche Arbeitersport im Herbst 1923 feiern wollen. Während die Inflation ihrem Höhepunkt zustrebte, sollte eine sowjetrussische Auswahl, die durch ganz Europa tourte, auch in Berlin die Überlegenheit des Arbeiterfußballs demonstrieren. Sportlich erfüllten die Sowjets die Erwartungen der Vereine aus dem Arbeiter-, Turn- und Sportbund (ATSB) vollends, indem sie zwei Kantersiege gegen ihre Auswahlteams landeten.
    Nur mit dem Klassenbewusstsein der osteuropäischen Genossen haperte es. Die Klassenbrüder bestanden auf Logis in Grandhotels und stellten auch eher bourgeoise Ansprüche an das Essen, weshalb ihnen die deutschen Beobachter eine verheerende moralische Verfassung attestierten. Durch ihre Tournee hätten die Sowjets offensichtlich ihren "rein proletarischen Charakter verloren", echauffierte sich die Zeitschrift Arbeiter-Sport: "Berlin atmete auf, sie loszuwerden."
    Diese Preziose der Fußballgeschichte findet sich in dem neuen Buch des Sporthistorikers Christian Wolter, der in einer lokalen Studie den Berliner Arbeiterfußball der Weimarer Zeit in den Blick nimmt. Wolter illustriert nicht nur mit diesem Gastauftritt auf sehr anschauliche Weise die großen Konflikte, mit denen sich der Arbeiterfußball der 1920er Jahre auseinanderzusetzen hatte.
    Meisterschaft nicht nur durch Tore und Punkte, auch Disziplin und Fair-Play
    Der Arbeiterfußball hatte ohnehin schon sehr unter dem Startnachteil gelitten. Der Klassenfeind aus dem bürgerlichen Lager, der Deutsche Fußballbund (DFB), organisierte sich seit 1900, die sozialdemokratischen und kommunistischen Fußballgenossen in letzter Konsequenz erst seit 1919. Vor allem aber ließ sich die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft, wie sich bald zeigte, auf dem Fußballfeld nur schwer realisieren.
    Die 1922 formulierte Idee der Zeitschrift Arbeiter-Sport, den Meister des Arbeiterfußballs nicht durch schnöde Tore und Punkte zu küren, sondern durch sportliche Disziplin, schönes Spiel und eine Fair-Play-Wertung, stieß jedenfalls nicht auf Zustimmung. Der ATSB, der 1928 mit rund 130 000 Fußballern etwa zehn Prozent der organisierten deutschen Fußballer stellte, ermittelte auch weiterhin seine Meister durch eine K.o.-Runde.
    Kaum Zuspruch beim Publikum
    Das gravierendste Problem des klassenbewussten Fußballs aber bestand wohl darin, dass die Resonanz auf den Rängen viel geringer als im bürgerlichen Fußball war. Während zu den Endrundenspielen des DFB bis zu 50 000 Fans strömten, verloren sich bei den Endspielen des Arbeiterfußballs manchmal nur einige Hundert. Wer wollte da begabten Kickern wie Willi Kirsei den Wechsel auf die große Bühne des Fußballs verdenken? Der Stürmer von Nordiska Berlin, 1921 Vizemeister im ATSB, ging 1924 zur Hertha, schoss diese 1930 und 1931 zu zwei DFB-Meistertiteln und kassierte auch ein paar Reichsmark für seine Schusskünste.
    Wolter beschreibt all dies in seiner Chronik, wie auch die Spaltung des Arbeiterfußballs 1928 und die Auflösung des gesamten Arbeitersports 1933 durch die Nazis, auf unterhaltsame wie seriöse Weise. Das ist sehr verdienstvoll, weil dieser Teil der Fußballgeschichte nach 1945, als der DFB alle Mitglieder in sich vereinigte, schnell in Vergessenheit geriet.
    Wolter, Christian: Arbeiterfußball in Berlin und Brandenburg 1910-1933, Arete-Verlag, 228 Seiten, broschiert, Hildesheim 2015, 19,95 Euro.