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Budapest als Chiffre

Dieser schmale 200-Seiten-Roman irritiert schon, bevor wir ihn zu einer Lektuere voll von verwirrenden Überraschungen aufschlagen: ein sepiafarbener Umschlag, als sei die Neuerscheinung schon jetzt verblichene Antiquariatsware. Und was verbindet den karmesinrot leuchtenden Titel Budapest mit der Statue von Christus dem Erlöser, der auf dem berühmten Zuckerhut, die brasilianische Wolkenkratzermetropole Rio de Janeiro vorm Ozean segnend umarmt?

Von Christian Doering |
    Budapest liegt in Brasilien, der Klang der Konsonanten führt die Kontinente zusammen, die Imaginationskraft eines brasilianischen Erzählers die Sprachen, Städte, Länder, Frauen, Vanda in Rio und Kriska in Budapest - oder alles ist nur Zufall in einem lustvoll verspiegelten Roman, in dem der Titel Budapest als Chiffre für die Fremdheit eines fast imaginären Ortes steht?

    " Nach Budapest bin ich dank einer ungeplanten Zwischenlandung geraten, als ich von Istanbul nach Frankfurt flog und von dort weiter nach Rio wollte. Die Fluggesellschaft quartierte uns für die Nacht in einem Hotel am Flughafen ein, und erst am Morgen teilte man uns mit, dass das technische Problem, der Grund für unsere Zwischenlandung, in Wirklichkeit eine anonyme Warnung gewesen war, wir hätten eine Bombe an Bord. Allerdings war ich schon hellhörig geworden, als ich um Mitternacht die Nachrichten im Fernsehen mit halbem Auge verfolgte und die Maschine der deutschen Gesellschaft auf dem örtlichen Flughafen erkannte ; ich stellte den Ton lauter, doch es wurde auf Ungarisch gesprochen, bösen Zungen zufolge die einzige Sprache der Welt, vor der der Teufel Respekt hat. "

    Der Autor, der diesem von der teuflischen Klangfülle ungarischer Laute faszinierten Erzähler seine portugiesische Muttersprache leiht, heißt mit vollem väterlichen Namen Francisco Buarque de Hollanda.

    Chico - auf deutsch: kleiner Junge, so nennen ihn seine Freunde und Bewunderer. Chico Buarque ist selber eine schillernde Figur und war schon eine brasilianische Berühmtheit, bevor er zum Romancier mit bisher drei Büchern wurde, in seiner Heimat Bestsellererfolge: 1944 in Rio als Sohn eines bekannten brasilianischen Historikers und Kritikers geboren, in dessen angesehener Familie die Künstler des Landes ein- und ausgingen, ist Chico Buarque auch mit seinem zweiten in Deutschland veröffentlichten Buch noch immer allenfalls den Kennern der 'Musica Popular Brasileira' bekannt - vielleicht auch als Komponist der Musik zu Bye-Bye-Brasil. In seiner Heimat ist der jugendlich wirkende elegante Mann mit dem elektrisierenden Blick ein Monument, der sechzigste Geburtstag von Chico Buarque vor zwei Jahren geriet zum nationalen Ereignis und schon seit den sechziger Jahren ist Chico Buarque als Sänger, Texter, Komponist und Schauspieler ein Klassiker, 'A banda' sein Hit, nicht zuletzt weil er die Diktatur der Militärmachthaber herausforderte und zwei Jahre im selbst gewählten italienischen Exil verbrachte .

    Das berühmte Idol des Bossa Nova , dieser Spielart des brasilianischen Jazz mit dem dezenten Sound, war aber auch schon von Jugend an ein leidenschaftlicher Liebhaber der Literatur und des Schreibens .

    So wirkt es weniger erstaunlich, dass nun im dritten Roman Budapest der Bossa Nova und die offenkundig anregenden Lektüren von Jorge Luis Borges, diesem gewaltigen Klassiker aus dem benachbarten Argentinien, zusammenfinden. Cico Buarque stellt sich in eine große moderne Tradition, in der beispielsweise auch Italo Calvino aus Italien grüsst.

    Das Siegel des magischen Realismus , das so oft allem Literarischen aus lateinamerikanischen Ländern klischeehaft anklebt, entfaltet bei Chico Buarque eine eigene 'Magie' und sollte ein Leser von Budapest tatsächlich brasilianische Exotik mit Sonne und Samba, Karneval und Caipirinha erwarten - er würde enttäuscht .

    Allerdings: Tauschung des Lesers ist Kern des literarischen Verfahrens, der verspielten Kunstfertigkeit, die den Reiz von Budapest und die Klasse des Autors Chico Buarque ausmachen.

    Seine 'Magie', in präziser und schnörkelloser Prosa, mit Szenen-, Zeit- und Ortssprüngen, bizarren und komödiantischen Effekten, unterläuft allen literarischen Realismus, ohne das wir es sogleich bemerken. So wie Chico Buarques populäre Lieder vom Existenziellen sprechen, so sucht seine Literatur das Wesentliche. Erst diese erzählerische Passion macht seine Prosa abgründig.

    Denn wo überhaupt beginnt die Geschichte von Budapest , fragen wir uns zunehmend verwundert: Vor dem Budapester Hotelfernseher oder als im heimischen Rio die Ehefrau Vanda ihrem seltsamen José erklärt, dass der nachts den Schlaf brabbelnd störende Sohn nur den Vater imitiere und Träume ans Tageslicht befördere:

    " Er macht dich doch nur nach. Was macht er nach? Dich, du redest neuerdings im Schlaf. Ich? Ja. Seit wann? Seit du von dieser Reise zurück bist. Na prima . In dem Augenblick wurde mir klar, dass ich in meinen Träumen Ungarisch sprach. Der Aufenthalt in Budapest hatte sich in meinem Kopf verflüchtigt (...), ein Photogramm, das in dem Film der Erinnerungen wackelte. Ein eingebildetes Ereignis vielleicht."

    Die Erzählerstimme gehört José Costa, einem Brasilianer in seinen dreißiger Jahren, von dem wir so wenig erfahren, wie es sich für eine verschwiegene Profession mit dem Gelübde der Anonymität gehört. José Costa, der mit seinem Kompagnon Alvaro die florierende Cunha & Costa Agencia Cultural , eine Textfabrik mit Copacabana Strandlage betreibt, leiht seine literarische Ghostwriter- Genialität den anderen - für ihn sind diese verschwiegenen Phantomautorschaften nur

    " Stilübungen, die Monographien und Dissertationen, Prüfungsarbeiten von Medizinstudenten, Gesuche von Anwälten, Liebesbriefe, Abschiedsbriefe, Briefe voller Verzweiflung, Erpressungen, Selbstmorddrohungen. "

    Zur Anonymität dieses gesichtslosen Antihelden gehört auch ein glanzlos gelangweiltes Leben . José Costa heiratet zwar Vanda, aber 'live' begegnet er dieser vor allem dann, wenn sie als Sprecherin die Fernsehnachrichten verliest - papageienhaft, so ohne zu wissen, wovon sie spreche, wie Costa ihr einmal mitteilt: schließlich weiß er, der die Sprache herstellt, was sie im Innersten zusammenhält.

    José Costa schwängert zwar, jede Selbstachtung vergessend, diese Vanda, aber ihr bald fettleibiger Sohn Joaquinzinho bleibt auch als Fünfjähriger bis auf die Worte Mama, Papa und Pipi erst einmal sprachlos stumm, um Jahre später als tätowierter Skinhead den fremd gebliebenen sprachartistischen Vater zu bedrohen.

    Und in der unscheinbaren Alltäglichkeit gibt auch das tropische Brasilien nur die Kulisse ab - Strand, Sprachfetzen wie aus dem Fernseher, das Plaza Hotel, in dem Costa sowohl in Rio wie auch in Budapest wohnen wird . Ein Statist, im Städtedekor wie im eigenen Leben, der von sich sagt, er habe gelernt,

    " dass man, um eine Stadt kennen zu lernen, statt eine Tour im Doppeldeckerbus zu machen, sich besser in einem Raum in der Stadt einschließt. "

    Vielleicht, so spricht der Buda und dann Pest auf dem Stadtplan studierende Costa mit sich,

    " weil ich seit jeher das vage Gefühl habe, dass auch ich der Wegeplan einer Person sei. "
    José Costa, dem berühmtesten unter den Schattenautoren, die einmal im Jahr zum Welttreffen anonymer Autoren zusammenfinden, fehlt nur wirklich eines: seine Schöpfungen, die schon von den Musen geküsst sind, mit seinem Namen zu zeichnen. Und ihm bleibt: Wort für Wort zu unverwechselbarer Originalität zu finden. Was macht Autorschaft anderes aus?

    Gewiss die Erkundung der Geheimnisse von Sprache - was José Costa während jener erzwungenen Zwischenlandung in Budapest aufgeht, als er vor dem Hotelfernseher die Nacht hindurch mit seinem leicht die Sprachen aufnehmenden Kindergehör dem Magyarischen nachhorcht, dann den Ton abstellt

    " und als ich da zum ersten Mal ungarische Wörter in Buchstabenform betrachtete, hatte ich das Gefühl, ihre Skelette zu sehen: Oe az alom eloetti taljan tancol. "

    Dieser Roman Budapest hat mehr als einen Anfang zwischen der brasilianischen und der ungarischen Metropole - es ist ein Roman des 'dazwischen', literarisches Crossover, das in Vorwegnahmen und Rückgriffen, von vorne nach hinten und hinten nach vorne, zwischen Zeiten und Orten, sich ausspannt.

    Budapest endet mit einer Überraschung - und die Suche nach Bedeutung nicht zuletzt mit der Frage: Wer hat dieses Buch eigentlich geschrieben?

    Es ist Chico Buarques dritter Roman, darin ähnlich aber radikaler als seine beiden Vorgänger, der Roman Estorvo, veröffentlicht von ihm als 46-jaehriger und auf deutsch 1994 - längst vergessen natürlich - unter dem Titel Der Gejagte erschienen ; und der Roman Benjamin, der gar nicht erst ins Deutsche übertragen wurde. In schönster antirealistischer Tradition sind Chico Buarques Romane nur einem erzählerischen Gesetz verpflichtet:

    Der Allmächtigkeit des Imaginären.

    Wie wirklich die Wirklichkeit des Realen angesichts der Macht des Fiktiven ist, was geschieht, wenn eine andere Sprache sich unserer bemächtigt, und wie vital es sich in der Sprache Ausdruck verschafft - das erfährt José Costa bei seiner Rückkehr nach Rio - obwohl es richtiger heißen müsste: als er wieder einmal aus Budapest nach Rio zurückkehrt, denn José Costa ist in ständiger Bewegung - zwischen Verlassen und Ankommen.

    In seiner eigenen Agentur trifft er auf einen jungen Redakteur, geschult

    " nicht in der Art von anderen zu schreiben, sondern in der Art, wie ich für andere schrieb, was mir unrecht vorkam. Denn meine Hand war und blieb meine Hand, alle, die für andere schrieben, waren gleichsam Handschuhe von mir, so wie ein Schauspieler sich in tausend Personen verwandelt, um tausend mal er selbst sein zu können. "

    Was ist angesichts der Vervielfältigungen seiner selbst die Identität dieses Autors José Costa? Der muss sich eitel-eifersüchtig eingestehen:


    " Ich selbst hätte den Artikel mit keinen anderen als eben diesen Worten einleiten können. Ich schloss die Augen, ich meinte, den folgenden Satz erraten zu können, da stand er, ganz genau so, (...) es waren haargenau die Wörter, die ich erwartete. (...) Es war beängstigend, es war, als hätte ich einen Gesprächspartner, der mir unablässig Wörter aus dem Mund nimmt, es war eine Qual. Es war, als hätte ich einen Plagiator, der mir zuvorkäme, einen Spion im Gehirn, ein Leck in der Phantasie. "

    Wir dürfen dieses delirierende Bekenntnis zur allmächtigen Autorschaft übersetzen in: ich könnte es schreiben, also habe ich es geschrieben ! Die Welt und ihre Bibliothek ist in meinem Kopf, ihm entstammt sie.

    So wie auch wir Leser immer unsere Version lesen, uns unsere Welt lesend im Kopf erschaffen. Der Leser schreibt das Buch. Die Welt des Lesens und die Welt des Schreibens verwischen sich.

    Als José Costa sich bereits von sieben Plagiatoren seiner Autorenphantasie umstellt sieht, schreibt er fortan zur Vervollkommnung seiner Originalität die Geschichte übersteigerter Egos, die ihr Leben erst mit Geschichten füllen müssen.

    " Künstler, Politiker und prominente Hochstapler (...) .Typen wie der alte Zebuzüchter aus der tiefen Provinz, dessen Erinnerungen ich mit viel Sex, Überseedampfern, Kokain und Opium aufpeppte, was ihm in einem Krankenhausbett einigen Trost bereitete. "

    Einer dieser 'Typen' ist ein Hamburger Kaufmann mit dem viel sagenden Namen Kaspar Krabbe. Seine Memoiren brasilianischer Abenteuerjahre werden den nicht minder metaphorischen Titel Der Frauenschreiber tragen, als Bestseller gefeiert werden und Vanda zum ersten Mal, wenn auch nicht für Costa, zum Schwärmen bringen . Der Deutsche tritt an seine Stelle:

    " Sie trat so strahlend in Szene, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Sie reckte sich in ganzer Länge, um mit Kaspar Krabbe Kuesschen, Kuesschen zu tauschen, und ich konnte von ihren Lippen ablesen: Absolut bewundernswert. Sie schüttelte den Kopf und sagte noch einmal: Absolut bewundernswert."

    Mit seinem bewundernswerten Erfolg kulminiert die anonyme Karriere des José Costa. Er schreibt den 'Frauenschreiber', er ist der 'Frauenschreiber', sein Schreiben wird von den Körpern der Frauen so spracherotisch erweckt, wie alle Literatur dem Körper entstammt - und auch die Prosa von Cico Buarque poetische Kraft gewinnt.

    " Der Text floss spontan aus mir heraus, in einem mir fremden Rhythmus, und die ersten Wörter, die ich in der Landessprache schrieb, "

    schreibt er auf den Waden der Freundin dieses Deutschen, auf deutsch, auf ihrem Körper. Und als sie ihn verlässt, nehmen seine Sprachkenntnisse wieder ab.

    " Also fuhr ich nach Copacabana zu den Huren. Ich bezahlte dafür, dass ich auf ihnen schreiben durfte, und vielleicht habe ich ihnen zuviel gezahlt, denn sie simulierten Orgasmen, sodass ich mich gar nicht mehr konzentrieren konnte. "

    Mädchen, die weiblichen Körper kommen und gehen, bis eine Frau auftaucht, die ihm auch das von hinten nach vorne schreiben beibringt, eifersüchtig über alles Geschriebene wacht, bis sie schwanger von ihm wird,

    " und auf ihrem Leib nahm das Buch neue Formen an (...), bis ich, am Ende meiner Kräfte, den letzten Satz formulierte: Und die geliebte Frau, deren Milch ich schon gesaugt hatte, gab mir von dem Wasser zu trinken, in dem sie ihre Bluse gewaschen hatte. "

    Mit diesem Satz, dem der Leser noch einmal wieder begegnen wird, verabschiedet sich José Costa nicht nur von seinem Bestseller, sondern vorläufig auch von Rio und von Vanda, für Monate, für Jahre - aber das spielt keine Rolle -, um angezogen von der geheimnisvollen Lautmelodie des Ungarischen nach Budapest zu gehen, wo er ausgerechnet in einer Buchhandlung auf eine junge Frau, seine künftige Geliebte und Sprachlehrerin, trifft. Und aus José Costa wird der Schriftsteller, der Poet Zsoze Kosta.

    " Und auf dem Weg zum Hotel (Plaza) erhielt ich meine erste peripatetische Ungarischstunde, und die bestand darin, dass sie die Dinge benannte, auf die ich wies: Straße, Rollschuhe, Wassertropfen, Pfütze, Abend (...) und Kriska. "

    Kriska mit der weißen Haut .

    "Weiß, weiß, weiß, sagte ich, schön, schön, schön, mein Wortschatz war sehr dürftig. "

    Wie eine weiße Seite, auf der Costa eines Tages ein Buch, sein Buch schreiben könnte. Bei Kriska verbringt Costa Jahre - er verlässt sie, um nach Rio zurückzukehren, um dort Vanda zu verlassen, um das Leben in einer anderen Sprache mit Kriska weiterzuführen.

    " Die Wirklichkeit Kosta, komm zurück in die Wirklichkeit,"

    ruft ihm Kriska zu . Aber was ist die Wirklichkeit, könnte unser Autor Chico Buarque ihr antworten .

    José - Zsoze lebt zwischen den Frauen, zwischen den Erotismen der Sprache, als begänne das Leben jeweils wieder bei Null: wie in einer Versuchsanordnung, wie in einem literaturtheoretischen Exerzitium. Aus dem Bedeutungsspiel aber zaubert die Erzählkunst von Chico Buarque lebendig unterhaltsame Literatur.

    Kriska verschafft Zsoze eine Anstellung als Tontechniker im 'Literaturklub' von Budapest, und der hört und schreibt nachts heimlich die Bänder mit den Aufnahmen der ungarischen Literaten ab, auf der Suche nach Sprachperfektion.

    So wird Zsoze wieder Ghostwriter, dieses Mal anonymer Autor der 'Geheimen Terzette' des berühmten unter Schreibhemmung leidenden Poeten Kocsis Ferenc. Zsoze Kosta macht ihn wieder zum Dichter und wird dabei selbst zum Poeten, der es in seiner portugiesischen Muttersprache nur bis zum prosaischen Autobiographen gebracht hat.

    Folgt die letzte und entscheidende Kehrtwende im Parallelleben des José - Zsoze C(K)osta - und für uns Leser die abschließende Überraschung:

    " Der schillernde Einband, ich verstand nicht die Farbe des Einbands, der Titel Budapest, ich verstand den aufgedruckten Namen Zsoze Kosta nicht, ich hatte dieses Buch nicht geschrieben."

    Mit anderen Worten: Wer schreibt?

    Chico Buarque
    Budapest. Roman. 207 Seiten. Erschienen im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006 . Übersetzt aus dem Brasilianischen von Karin von Schweder-Schreiner