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Buddhismus in Frankreich
Die Sehnsucht nach Erleuchtung

Frankreich ist laizistisch - und multireligiös. Hier leben mehr Buddhisten als in jedem anderen Land der EU. Die Tempel und Pagoden müssen die Gläubigen selbst finanzieren. Ein Besuch bei den Nonnen und Mönchen des Klosters Khanh-Anh in Evry.

Von Margit Hillmann | 03.07.2019
Lehre der buddhistischen Schule des Mahayana: Gebetsraum mit dem goldenen Buddha im Lotussitz auf einem farbenprächtig geschmückten Altar
Hier wird die buddhistische Schule des Mahayana gelehrt: Gebetsraum mit dem goldenen Buddha im Lotussitz auf einem farbenprächtig geschmückten Altar (Deutschlandradio/Margit Hillmann)
Samstagmorgen um kurz nach sechs Uhr: Kim Ngon Ong – graues Haar, grauer langer Kittel, Regenschirm in der Hand - trabt durch den strömenden Regen zum Gittertor, schließt auf.
Monsieur Ong ist Sekretär des buddhistischen Trägervereins der großen Pagode von Evry, hat mich zum Morgengebet eingeladen. Er geht voraus, eine Anhöhe hinauf. Das 4.000 Quadratmeter große Terrain der Pagode liegt auf einem Hügel an der Nationalstraße. Umgeben von üppigen Grün steht dort ein mehrstöckiger, orangegelber Schachtelbau mit lauter großen und kleinen Dächern - asiatisch geschwungene Dächer aus lackierten Ziegeln. Links und rechts überragen das Gebäude zwei Stupa: schmale buddhistische Kult-Türme mit überdachten Rundum-Balkonen.
Gebet täglich um sechs Uhr morgens
Wir gehen ins Hauptgebäudes, hoch zum Gebetsraum. Das Gebet hat bereits begonnen – wie jeden Morgen um Punkt sechs. Pagode und Kloster sind in vietnamesischer Tradition gebaut, erklärt Monsieur Ong. Praktiziert und gelehrt wird hier die buddhistische Schule des Mahayana – übersetzt: "großes Fahrzeug" oder "großer Weg". Die Pagode ist Sitz der "Kongregation vereinter vietnamesischer Buddhisten Europa", der allein im Pariser Raum rund 40.000 Gläubige angehören.
"Die Hälfte der Menschen, die zu uns kommen, sind Vietnamesen, die andere Europäer, die den Buddhismus häufig als Philosophie betrachten. Sie kommen hierher, um zu diskutieren", sagt Ong.
Monsieur Ong ist Vorsitzender des buddhistischen Trägervereins der großen Pagode von Evry.
Der Gebetsraum ist ein weitläufiger Saal mit vielen Fenstern. Auf dem großen farbenprächtig geschmückten Altar thront ein enormer goldener Buddha im Lotussitz. Davor sitzen sieben Mönche und Nonnen auf kleinen Bodenkissen: gelbe Gewänder, die Köpfe kahlgeschoren. Einige Gläubige in grauen Kitteln beten in der zweiten Reihe. Monsieur Ong stellt sich diskret hinter sie, faltet die Hände, verneigt sich. Schließlich lotst er mich in einen angrenzenden Raum, in dem zwei kleine Altäre aufgebaut sind.
Schokolade für die Toten
"Toten-Altäre", sagt er, zeigt auf die große Tafel, die auf dem ersten Altar zwischen vollen Obstschalen und duftenden Lilien steht. Mehrere Dutzend Schwarzweiß- und Farbfotos sind auf der Tafel angebracht. Portraits Verstorbener: asiatische und europäische Gesichter, Frauen und Männer. Auch das Bild eines französischen Militärs in Uniform.
Monsieur Ong erklärt: "Jeder darf hier das Foto eines verstorbenen Familienmitglieds aufstellen: Buddhisten unserer Gemeinde, aber zum Beispiel auch französische Katholiken. Oft sind es Leute, die Mühe haben, den Tod eines nahen Menschen zu akzeptieren. Sie stellen die Bilder auf, weil sie daran glauben, dass die Person hier weiterlebt. Sie kommen sie regelmäßig besuchen, beten, bringen ihnen Obst, Kuchen, Schokolade und solche Dinge. Opfergaben für die Toten."
Auf dem zweiten, noch reicher verzierten und geschmückten Altar steht nur ein einziges Portrait. Das eines betagten buddhistischen Mönchs mit einer Kopfbedeckung, die der Mitra katholischer Bischöfe ähnelt: Thich Minh Tâm, buddhistischer Priester und Gründer der Pagode in Evry.
"Le très vénerable" - der Hochehrwürdige - nennt ihn Monsieur Ong. Der spirituelle Führer aus Vietnam, der seit Mitte der 70er Jahre im französischen Exil gelebt hat, ist 2013 gestorben - vor der endgültigen Einweihung der Pagode mit ihrem Kloster.
Über 20 Jahre hat der Bau gedauert und 22 Millionen Euro verschlungen, gespendet von Gläubigen und Anhängern in Frankreich, Europa und Übersee, sagt Monsieur Ong, der sich auch um die Finanzen der Pagode kümmert.
Innere Ruhe, innerer Frieden
Nebenan beenden die Mönche und Nonnen ihr einstündiges Morgengebet. Unter ihnen Thich Nhuan Huong. "Der Ehrwürdige", stellt ihn Mr Ong vor. Sein Mönchsgewand unterscheidet sich in der Farbe, hat ein leuchtenderes helleres Gelb. Der buddhistische Mönch – junges Gesicht, mildes Lächeln - ist vor einigen Jahren aus Vietnam gekommen, lebt und lehrt seither im Kloster der Pagode von Evry. Ist Frankreich ein guter Ort für gläubige Buddhisten, für ein buddhistisches Kloster?
Mönche und Nonnen in der Pagode von Evry. Der Mönch mit dem hellgelben Gewand wird "der Ehrwürdige" genannt.
Mönche und Nonnen in der Pagode von Evry. Der Mönch mit dem hellgelben (Deutschlandradio/Margit Hillmann)
Er schätze Frankreich – übersetzt Monsieur Ong die Antwort des Ehrwürdigen, der nur Vietnamesisch spricht. Anders als in seiner Heimat und vielen anderen Ländern der Welt könnten die Menschen hier frei diskutieren, ihre Meinung äußern und Gläubige ihre Religion frei praktizieren.
Wie erklärt er sich das Interesse vieler Europäer am Buddhismus, wie erlebt er es? Der Ehrwürdige überlegt, dreht die hölzerne Perlen seiner Gebetskette.
Er sagt: "Sie sind in der christlichen Tradition Europas aufgewachsen. Aber sie sind geistig offen und neugierig, wollen lernen. Wenn sie zu uns kommen, stellen sie viele Fragen, wollen ihr Wissen über den Buddhismus und seine Lehre vertiefen. Es ist nicht Ziel der Pagode, die Europäer zur Konversion zu bewegen. Vielen Europäern geht es um den Buddhismus als Weltanschauung oder Philosophie. Sie interessieren sich häufig sehr für die Lehre des Dalai Lama. Und auch zu uns in die Pagode kommen sie, weil sie nach mehr innerer Ruhe und innerem Frieden in ihrem Lebensalltag suchen."
Die Boatpeople machten den Anfang
Der Dalai Lama - ergänzt Mr Ong nicht ohne Stolz - ist 2008 in die Pagode nach Evry gekommen, um die Buddha-Statue im großen Gebetssaal zu segnen. Auch große religiöse Treffen und Seminare werden hier jährlich organisiert, zu denen jedes Mal über hundert buddhistische Gelehrte und Mönche aus Europa und der ganzen Welt anreisen.
Gegründet wurde die Pagode Khanh-Anh jedoch für die vielen vietnamesischen Buddhisten, die als Boatpeople in den 1970er- und 80er-Jahren nach Frankreich gekommen sind. Damit sie den in Vietnam vorherrschenden Mahayana-Buddhismus in ihrer neuen Heimat praktizieren können, religiöse Traditionen an Kinder und Enkelkinder weitergegeben, sagt Mr Ong. An diesem Morgen sind denn auch nur Buddhisten vietnamesischer Herkunft in der Pagode.
Wie Monsieur Thanh aus Paris, der unten im Esssaal den Frühstücktisch deckt. Der Mittvierziger, er arbeitet in der französischen Verpackungsindustrie - kommt jedes Wochenende nach Evry, zum Beten und um bei der Arbeit zu helfen:
"Ich bleibe den ganzen Tag, um in der Pagode zu helfen. Weil in den Pagoden hier in Europa nicht so viele Mönche und Nonnen leben. Also helfen wir Gläubigen ihnen bei der Arbeit: Die Gebäude in Ordnung halten, das Grundstück oder in der Küche und bei den Vorbereitungen der Gebetszeremonien mit den Mönchen am Sonntag."
In der angrenzenden Küche bereiten Frauen das Frühstück vor: einfache Gläubige und eine Nonne, die ihren rasierten Kopf mit einer kleinen Strickmütze bedeckt hat. Sie gießt Öl in einen großen Wok.
Sie ist Anfang der 1950er-Jahre in Vietnam geboren, Tochter eines Franzosen und einer Vietnamesin. Mit knapp dreißig ist sie nach Frankreich gekommen, hat geheiratet und vier Kinder bekommen. Sie hat sich von ihrem Mann wieder scheiden lassen, erzählt die 64-Jährige. Und als die Kinder erwachsen waren, hat sie beschlossen ins Kloster zu gehen.
"Zurück zur Pagode, weil ich schon als Kind Buddhistin und oft dort war. Als noch ich klein war, hat meine Mutter bei einer Zeremonie versprochen, mich zum Buddhismus zu erziehen."
Sie steckt noch in der zweijährigen Probezeit. Eine Phase zwischen Noviziat und Ordination, die nur den Nonnen abverlangt wird. Erst wenn sie die bestanden hat, wird sie voll ordiniert. Dann wird sie sich – wie alle buddhistischen Nonnen - bei ihrem Gelübde verpflichten, sich auch an die zusätzlichen Regeln zu halten, die nur für die Frauen im Kloster gelten. Knapp ein Drittel mehr Regeln als die Mönche.
Drei Nonnen leben im Kloster Khan Anh, sagt sie, auch sie sind am rasierten Kopf zu erkennen. Wie zum Beweis, dass sie dazugehört, zieht die Nonne ihre kleine Mütze vom Kopf.
"Ich liebe sie alle"
Alle vierzehn Tage rasieren sie ihren Kopf. Ein symbolischer Akt der Entsagung und religiöser Hingabe. Das Klosterleben mit seinem Verzicht auf das Weltliche, die Suche nach Erleuchtung als Lebenszweck – für sie ist es kein Opfer. Es sei ein tiefes Bedürfnis, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Herkunft.
Die Nonne erzählt: "Der Buddhismus ist die Sehnsucht nach Erleuchtung. Und ich lebe hier mit den anderen wie in einer Familie. Ich liebe sie alle. Weil ich glaube, sie sind wie ich und ich bin wie sie. Wir leben hier alle ganz natürlich zusammen."
Ganz anders sähe es in der nachfolgenden Generation aus: Die Kinder der vietnamesischen Boatpeople, die in Frankreich geboren und aufgewachsen sind, hätten ein distanzierteres Verhältnis zum Buddhismus, stellt die Nonne und Mutter fest. - Auch ihre eigenen erwachsenen Kinder. Obwohl sie hin und wieder kämen, um in der Pagode zu helfen oder zum Vesak-Fest, dem Jahrestag von Buddhas Geburt.
"Meine Kinder können zwar noch auf Vietnamesisch beten, aber ohne es zu verstehen. In Europa ist es auch rar, das junge Buddhisten ins Kloster gehen. Sie haben nicht den Sinn dafür, sind weniger bereit, zu verzichten. Sie sind anders als die Jugendlichen in Vietnam."
Im Esssaal haben sich Nonnen und Mönche mit den anderen Gläubigen an den Frühstückstisch gesetzt. Ein kurzes Gebet – dann wird gegessen: der Ehrwürdige und ein junger Mönch aus Vietnam bekommen asiatische Suppe serviert; alle anderen frühstücken Baguette, Camembert, Konfitüre, Kaffee und Milch.
Monsieur Ong lacht. Nein, ein typisch vietnamesisches Frühstück sei das nicht. Aber den traditionellen Buddhismus ihrer alten Heimat praktizieren und weitergeben, schließe auch nicht aus, dass sie in ihrem neuen Land angekommen seien.