Donnerstag, 28. März 2024

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Bücher des Jahres (10): Große Fragen

Viel, vielleicht zu viel schon, ist gedacht, gesagt und geschrieben worden über die unmögliche Form des Romans. Die einen begreifen ihn als optisches Instrument, in dem das Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft einen Blick auf sich selbst erhascht oder jedenfalls die Möglichkeit dazu erhält – kleinere Retuschen, wie bei allen handelsüblichen Bildbearbeitungsprogrammen gang und gäbe, eingeschlossen: smile, you are on camera. Wie ein Kanarienvogel vor dem im Käfig aufgehängten Spiegel dürfe sich das Individuum darin gehörig aufplustern, Ich-Konstitution nach tausend Jahren Knechtschaft durch Thron und Altar einüben, Bilanz ziehen über das, was bleibt nach der Auflösung aller ideologischen Bindungskräfte, dem Ende der Utopien. Wäre es denn wirklich so, Romane besäßen nicht mehr Faszinationskraft als die Wackeldackel auf Autorückbänken - oder deren mittlerweile erstaunlicherweise aufs Armaturenbrett der Gesellschaft avancierten Vorbilder in der Wirklichkeit: Elvis Presley, Dieter Bohlen und Osama bin Laden.

Denis Scheck | 02.01.2004
    Die anderen behaupten schlicht, der Roman erzähle von Liebe und Tod, und das bitteschön auf nicht weniger als einhundertfünfzig Seiten, alles andere sei im Vergleich dazu von zweitem Rang. Stimmt nicht, wenden wieder andere ein, der Roman, ja das Epos überhaupt, sei nichts als die Geschichte des Geldes, handele weniger von Menschen und ihren Sehnsüchten als vielmehr von Immobilien und deren Eigentümerwechseln: vom Kampf um Troja bis zu Vom Winde verweht , was bleibt sei real estate , der Rest Schnickschnack um schöne Helenen. Das Land, das Land hingegen währe ewig, und eines wissen wir inzwischen immerhin tatsächlich: Entstanden ist die Schrift nicht, um Todesangst zu bannen oder junge Körper im flinken Spiel miteinander zu preisen, sondern um festzuhalten, wie viele Schafe und Ziegen wem gehörten und wer wann wie viele Garben Korn auf Kamelrücken expedierte.

    Ärmliche Herkünfte, bescheidene Ursprünge haben noch stets zu verklärenden Camouflagemanövern gereizt, und entsprechend liest sich denn auch die Romantheorie des 20. Jahrhunderts. Neuere Stimmen wollen den Roman schon nurmehr in den Bereich der legalen Rauschmittel verweisen, als billigen Trost über Liebe, Tod und Geld. Was aber wäre dann der Unterschied zwischen Romanen und Rotwein? Wieder andere gehen spitzfindiger vor und modifizieren die Theorie vom Roman als Erzählung von Liebe und Tod in einem entscheidenden Punkt. Während der Tod immer schon da gewesen sei und der Sex natürlich sowieso, sei die Liebe weniger Thema, als vielmehr Produkt des Romans, seine Erfindung - eine Erfindung, die nicht anders als die Vaterlandsliebe, das dulce et decorum est pro patria mori , vor der ersten, unsicher-tastenden Anwendung erst fleißig eingebimst werden muss. Demnach liefe die Lektüre von Romanen auf einen Konditionierungsprozess hinaus. Doch zu welchem Ende? Um so wie der Hollywoodfilm wieder und wieder das Hohelied der Kernfamilie zu singen, die alte Weise von Mama, Papa, Kind und sicherem Rentenanspruch, mit der subtilen Varianz einer Spieluhr repetiert, bis noch der letzte Hobbit nach überstandenem Abenteuer seine Frau knuddelt und seine Kinderchen herzt? Die schöne Kunst des Romans also ein Trick nur, um die Kontinuität der Fortpflanzung zu gewährleisten, Sinnkrisen der Brutpflege zu kalmieren? Und dafür der ganze Aufwand?

    Große Theorien über den Roman sind eigentlich immer nur möglich, wenn man … ungefähr ein Viertel bis ein Drittel der Romane weglässt, für die sie gelten sollen, oder andersherum: wenn man genug Romane kennt, dann sieht man, wie viele davon jeder Theorie zum Opfer gefallen sind; und man kann darum gegen Theorien, je globaler sie sein wollen, immer nur alle die Romane ins Feld führen, die ihr zum Opfer gebracht worden sind. Theorien sind meisten auch nur das Spielzeug derer, die nicht gern lesen.

    So Rolf Vollmann, Autor eines großen Romanführers. Wir aber, wir Leser, fügen hinzu, dass allem Gerede vom Verlust der Stellung der Literatur als Leitmedium zum Trotz der Roman auch im 21. Jahrhundert noch ein einzigartiges Forum der gesellschaftlicher Selbstvergewisserung und Selbstverständigung ist, einzigartig, einfach weil er komplexere Fragen behandeln kann als jede Talkshow, jedes Gemälde und auch jeder Film. Merkwürdig erscheint vor diesem Hintergrund, wie bemerkenswert gering der Anteil des Romans an den großen Emanzipationsbewegungen der letzten 200 Jahre veranschlagt wird, also an denen der Arbeiter und Bauern, der Frauen, der Juden, der Schwarzen und der Homosexuellen. Über all den Klagen über die vermeintliche Wirkungslosigkeit der Literatur, den längst in Serie abgelieferten Selbstbescheidungsstatements der Autoren werden ihre heimlichen Triumphe, ihre im Zeitlupentempo erfochtenen Siege fast übersehen. So ein Triumph ist Jeffrey Eugenides Roman Middlesex , ein Roman über Liebe und Tod natürlich, ein Roman über Geld, Geschichte und Geschlecht.

    Ich wurde zweimal geboren: zuerst, als kleines Mädchen, an einem bemerkenswert smogfreien Januartag 1960 in Detroit und dann, als halbwüchsiger Junge, in einer Notfallambulanz in der Nähe von Petoskey, Michigan, im August 1974. Fachleute unter den Lesern könnten mir in der Studie "Geschlechtliche Identität bei 5-alpha-Reduktase-Pseudohermaphroditen" von Dr. Peter Luce, 1975 erschienen im Journal of Pediatric Endocrinilogy, schon einmal begegnet sein. Oder vielleicht haben Sie mein Foto im sechzehnten Kapitel des heute arg veralteten Standardwerks Genetik und Vererbung gesehen. Ich bin das Kind auf Seite 578, das nackt, mit einem schwarzen Balken vor den Augen, neben einer Messlatte steht.

    Auf meiner Geburtsurkunde lautet mein Name Calliope Helen Stephanides. Mein neuester Führerschein (ausgestellt von der Bundesrepublik Deutschland) nennt als meinen Vornamen schlicht Cal. Ich bin ehemaliger Feldhockeyspieler, langjähriges Mitglied der Rettet-die-Manatis-Stiftung, seltener Besucher der griechisch-orthodoxen Messe und, den Großteil meines Erwachsenenlebens, in Diensten des US-amerikanischen Außenministeriums. Wie Teiresias war ich erst das eine und dann das andere. Ich wurde von Mitschülern gehänselt, von Ärzten als Versuchskaninchen benutzt, von Spezialisten abgetastet und von wissenschaftlichen Institutionen erforscht. Ein rothaariges Mädchen aus Grosse Pointe verliebte sich in mich, ohne zu wissen, was ich war. (Auch ihr Bruder mochte mich.) Einmal führte mich ein Armeepanzer in eine Straßenschlacht; ein Swimmingpool machte aus mir einen Mythos; ich habe meinen Körper verlassen, um andere zu bewohnen – und das alles geschah, bevor ich sechzehn war.

    Nun aber, mit einundvierzig, spüre ich, dass mir noch eine weitere Geburt bevorsteht. Nachdem ich sie jahrzehntelang vernachlässigt habe, denke ich auf einmal an verstorbene Großtanten und –onkel, verloren geglaubte Großväter, unbekannte Cousinen fünften Grades oder, im Falle einer aus Inzucht hervorgegangenen Familie wie der meinen, an all das zugleich. Und daher möchte ich, bevor es zu spät ist, etwas endgültig niederschreiben: die Achterbahnfahrt eines Gens durch die Zeit.

    Diese ersten drei Absätze von Middlesex enthalten so etwas wie den genetischen Code dieses Romans, ein Programm, das minutiös, doch nie mechanisch abgearbeitet wird: tatsächlich folgt auf den nachfolgenden gut 700 Seiten ein Roman über die Frage von biologischem und sozialem Geschlecht, eine drei Generationen umspannende Familiensaga, ein Entwicklungsroman, ein Roman über griechische Einwanderer in den USA und nicht zuletzt ein Roman über Detroit, die schwelende Rassenproblematik, Sonderangebote im göttlichen Supermarkt der USA, Richard Nixon und den Aufstieg eines Hotdog-Imperiums. Gleichzeitig etabliert dieser Romananfang eine Erzählerstimme - auch in der glanzvollen Übersetzung von Eike Schönfeld, die mühelos mit dem Original in all seinen weitausladenden Satzperioden und überraschenden Tempiwechseln Schritt hält -, eine Erzählerstimme, die zu den originellsten und betörendsten der amerikanischen Gegenwartsliteratur zählt.

    Schon in seinem Debüt von 1993, dem Roman Die Selbstmordschwestern , fiel Eugenides Faible für ungewöhnliche Erzähler auf. "Die Selbstmord-Schwestern", die Geschichte der fünf Schwestern Bonnie, Cecilia, Lux, Mary und Therese Lisbon, erzählt im Abstand von zwei Jahrzehnten vom kollektiven Wir ihres einstigen Verehrerkreises, hatte alle Züge einer rabenschwarzen Märchenoper. Ihren Reiz bezog sie gerade aus dem eigenartigen Widerspruch zwischem dem aus der zeitgenössischen amerikanischen Literatur geläufigen Siebziger-Jahre-Suburb-Setting und der raffiniert chorischen Erzählweise, in der wie in der Oper selbst ein fernes Echo der griechischen Tragödie mitschwang. Es ist diese im wahrsten Sinne des Wortes unerhörte Erzählweise der mal verschmelzenden, mal einander unmerklich ablösenden Stimmen, die amerikanische Kritiker an den Kollektiverzähler von William Faulkners A Rose for Emily erinnert hat - als Deutscher darf man Gert Hofmann und seine Kollektiverzähler in Veilchenfeld und Unsere Eroberung denken -, eine also nicht vorbildlose, gleichwohl aber genuin originelle Erzählweise, die dafür sorgte, den Roman gerade in Kenntnis seiner gewiss sensationalistischen Handlung immer wieder zur Hand zu nehmen, einfach weil man dieses schön suggestive, suggestiv schöne Erlebnis während der Lektüre wiederholen möchte.

    In der griechischen Tragödie war der Chorus das auch formal konservative Element, ein Überbleibsel aus früheren Zeiten, als die Bindung zwischen Spiel und Kult noch enger waren, was auf der antiken Bühne zum einen durch den militärischen Drill seines Agierens, zum anderen durch seine fremde, weil altertümelnde Sprechweise zum Ausdruck kam, die schon bei Aischylos und Sophokles in scharfem Kontrast zu den kolloquialeren Dialogen stand. Der eigentümliche Reiz der Erzählweise in Die Selbstmord-Schwestern erklärte sich aus einer ganz ähnlichen Fallhöhe zwischen Sprache und Beschriebenem, Sprecher und Besprochenem, etwa in den exakt kalkulierten Satzperioden der Schilderung des ersten Selbstmords:

    Cecilia, die jüngste, erst dreizehn, war die erste gewesen. Sie hatte sich wie eine Stoikerin im Bad die Pulsadern aufgeschlitzt. Und als die Sanitäter sie im rosafarbenen Wasser liegen sahen, mit den gelben Augen, die aussahen wie die einer Besessenen, und dem kleinen Körper, von dem der Geruch einer reifen Frau ausging, waren sie über ihre tiefe Gelöstheit so erschrocken, dass sie erst einmal wie hypnotisiert stehen blieben. Aber dann stürzte schreiend Mrs. Lisbon herein, und die Realität des Raums setzte sich wieder durch: Blut auf der Badematte; Mr. Lisbons Rasierapparat im rot marmorierten Wasser in der Toilettenschüssel.

    Die Realität des Erzählraums von Die Selbstmord-Schwestern konstituiert sich keineswegs nur aus den wie auf Gerichtsfotographien hyperpräzis erfassten Realien Badematte, Rasierapparat oder Toilettenschüssel. Gegenläufig zu dem dadurch eingegrenzten Spielfeld arbeiten Erzählduktus und Bildprogramm des Romans, der in der Schilderung einer Jugend in einer Schlafstadt von Detroit ("unser Städtchen") ein Arsenal antiker Mythen aufruft, das schon in Cecialias Vergleich mit einer "Stoikerin" anklingt.

    Auch in Middlesex , seinem zweiten Roman greift Eugenides auf die Antike zurück und transponiert einen mythologischen Stoff ins 21. Jahrhundert, in diesem Fall die Figur des Hermaphroditen, für die lange Zeit Tiresias das Urbild war. Wie seiner Figur Callie/Cal Stephanides scheint es auch dem Schriftsteller Jeffrey Eugenides in den Genen zu stecken, zwei scheinbar unvereinbare Eigenschaften in sich zu tragen: die des formenzerschmetternden Erneuerers und des traditionsbewussten Bewahrers. Anders aber als sein Ich-Erzähler, der als Mädchen erzogen wird und sich für ein Leben als Mann entscheidet, ist der Schriftsteller Jeffrey Eugenides in seinen Texten immer Hüter und Zerstörer in einem. Denn indem er etwa die Figur des Hermpahroditen aus dem Mythos in die naturwissenschaftliche Begriffe des 21. Jahrhundert übersetzt, sie mit einer modernen Psychologie ausstattet und im Grunde zu einem Menschen wie du und ich macht, entzaubert und vernichtet er sie natürlich zugleich. "Middlesex" erzählt vor allem von sexuellen, sozialen, religiösen und historischen Transformationen, und wie in Ovids Metamorphosen finden diese Verwandlungen immer erst statt, wenn der Leidensdruck unerträglich wird.

    Singe jetzt, o Muse, die Geschichte der rezessiven Mutation auf meinem Chromosom fünf! Singe, wie es sich vor zweieinhalb Jahrhunderten auf den Hängen des Olymp ausbildete, während die Ziegen meckerten und die Oliven zu Boden plumpsten. Singe, wie es über neun Generationen hinweg weitergegeben wurde und sich unsichtbar in dem verseuchten Pool der Familie Stephanides einnistete. Und singe, wie die Vorsehung in Gestalt eines Massakers das Gen weiterfliegen ließ, wie es einem Samen gleich über den Atlantik nach Amerika wehte, wo es durch sauren Regen trieb, bis es zur Erde fiel, auf den fruchtbaren Bodes des mittelwestlichen Schoßes meiner Mutter.

    Tut mir leid, wenn ich manchmal ein wenig homerisch werde. Aber auch das steckt mir in den Genen.

    Bei Homer wird der blinde Seher Tiresias im zehnten Gesang der Odyssee von Kirke als der einzige Tote beschrieben, der im Hades seinen vollen Verstand gebrauchen darf. Erst Ovid erzählt im dritten Buch der Metamorphosen , wie Tiresias sein Augenlicht verlor und zum Ausgleich seine Sehergabe erhielt: er wurde von Hera mit Blindheit geschlagen, weil er, der in seinem Leben erst Mann, dann Frau und schließlich wieder ein Mann war, ihrem Gatten recht gab, der behauptet hatte, Frauen empfänden beim Sex größere Lust als Männer. Für Tiresias geht sein Schiedsspruch bei Ovid zunächst schlecht aus:.

    So verurteilte sie die Augen ihres Richters zu ewiger Nacht. Doch der allmächtige Vater – darf doch kein Gott die Handlungen eines Gottes rückgängig machen – gab ihm anstelle des verlorenen Augenlichtes das Wissen um die Zukunft und milderte die Strafe durch diese Ehre.

    Bei Eugenides ist der Geschlechtswechsel selbst Strafe und Ehre zugleich, die Erfahrung, erst eine Frau, dann ein Mann zu sein, ein Privileg, und je länger der Leser dem Roman folgt, desto überzeugender erscheint diese Darstellung. The Portrait of a Lady von Henry James nannte Jeffrey Eugenides einmal im amerikanischen Internetmagazin salon.com auf die Frage nach seinem Lieblingsbuch. Er lobte den ciceronianischen Schwung von James' Sätzen, der durch seine Musikalität die Leser auf emotionale Weise berühre und ihnen gleichzeitig eine Erziehung der Gefühle zuteil werden ließe, eine Lektion in Zartgefühl und Zurückhaltung.

    Dieses Lob auf Jeffrey Eugenides' Bildnis einer Dame in Middlesex zu übertragen, muss kühn erscheinen. Ist diese vielschichtige Geschichte einer genetischen Mutation nicht reichlich grell und durch seinen von einem Leben als Frau zu einem Leben als Mann wechselnden Erzähler fast ein wenig sensationslüstern? Doch war nicht jede Literatur, von Homers militärtechnischen Nachrichten über die Belagerung einer Stadt über die blutrünstigen "maeren wunders vil" des Nibelungenlieds bis hin zum zaudernden Prinzen Hamlet, am schrill Außergewöhnlichen mehr interessiert als am landläufig Normalen? Und besteht Eugenides Kunst nicht gerade darin, das Bizarre, Extreme, Außergewöhnliche normal und selbstverständlich erschienen zu lassen.

    Jeffrey Eugenides interessiert sich für beides, für das Abgründige im Vertrauten genauso wie für das Vertraute im Abgründigen. Seine Bücher sind Expeditionen eines Grenzgängers zwischen Genres, Stillagen, Motivketten. Seinen Schreibansatz erläuterte Eugenides unlängst in einem Interview so:

    Ich habe mir überlegt, wenn ich etwas Neues und Originelles schaffen will, dann ist es unwahrscheinlich, dass ich dieses Ziel nur durch formale Spielereien erreiche, indem ich Sätze ändere, mit Satzzeichen jongliere oder alles mögliche mit der Syntax anstelle. Ein anderer Schriftsteller mag ja mit diesem rein experimentellen Ansatz noch wirklich einen neuen Weg finden, aber mir schien es, dass für mich das Neue eher durch die Verbindung von postmodernen und eher altmodischen Elementen in einem Prozess der Hybridisierung zu finden sein würde.

    Jeffrey Eugenides ist in der Tat ein Hybridkünstler. Die beharrliche Rekombination von Altem mit Neuem verbindet ihn mit seinen amerikanischen Generationsgenossen Jonathan Franzen und David Foster Wallace, die in Deutschland fast zeitgleich mit ihm entdeckt wurden. Postpostmoderne hat man zur Beschreibung dieses Ansatzes vorgeschlagen: wie alle Romantheorien erfasst diese Vokabel nur einen Teil dessen, was Eugenides in "Middlesex" macht. Fest steht: Die Erzählerstimme ist das Entscheidende in diesem Roman: an ihr, mit ihr, durch sie müsste sich die uralte Frage entscheiden, was stärker ist, nature oder nurture , also Vererbung oder Erziehung, biologische Natur oder gelernte soziale Rolle. Doch Eugenides ist souverän genug, diese Frage natürlich dem Leser wieder vor die Füße zu legen. Entscheiden Sie also selbst: ist dies nun ein weiblicher Tonfall?

    Ich begann, mir die Beine und Unterarme zu rasieren. Ich zupfte mir die Augenbrauen. Die Kleiderordnung meiner Schule untersagte Kosmetika. Aber an den Wochenenden experimentierte ich, in gewissen Grenzen. Reetika und ich malten uns in ihrem Zimmer das Gesicht an, reichten einen Handspiegel hin und her. Besonders verfallen war ich theatralischen Kajalstiften. Hierbei war mein Vorbild Maria Callas, vielleicht auch Barbra Streisand in Funny Girl. Die triumphalen, langnasigen Diven. Zu Hause schnüffelte ich in Tessies Bad herum. Ich liebte die amulettartigen Fläschchen, die wunderbar riechenden, scheinbar essbaren Cremes. Auch ihren Gesichtsbefeuchter probierte ich aus. Man hielt das Gesicht an den Plastikkegel und wurde von Wärme angeblasen. Von den fettigen Feuchtigkeitscremes ließ ich aus Angst, Ausschlag zu bekommen, die Finger. Seit [mein Bruder] auf dem College war, hatte ich das Badezimmer für mich. Das sah man schon am Arzneischränkchen. In einem kleinen Zahnputzbecher standen aufrecht zwei rosa Daisy-Rasierier, daneben eine Spraydose Pssssssst-Fertigshampoo. Eine Tube Dr. Pepper Lip Smacker, das wie Limonade schmeckte, küsste eine Flasche "Gee, Your Hair Smells Terrific". (…) Zwischen diesen totemischen Gegenständen verstreut lagen einzelne Q-Tips und Wattebäusche, Lippenkonturstifte, Max-Factor-Augen-Make-up, Maskara, Rouge und alles andere, was ich in dem aussichtslosen Kampf um Schönheit anwandte. Schließlich, ganz hinten in dem Schränkchen, war die Schachtel Kodex-Binden, die meine Mutter mir eines Tages mal gegeben hatte. "Die sollten einfach bereitliegen", hatte sie gesagt und mich damit völlig erstaunt. Mehr an Erklärung gab es nicht.

    Oder dies ein männlicher?

    Von allen meinen Kindheitserinnerungen besitzt keine den traumartigen Zauber jenes Abends, als wir es vor dem Haus hupen hörten, worauf wir ans Fenster traten und sahen, dass in unserer Einfahrt ein Raumschiff gelandet war. Es hatte sich lautlos neben dem Kombi meiner Mutter niedergelassen. Die Scheinwerfer gingen an und aus. Das Heck verströmte einen roten Schein. Eine halbe Minute lang geschah nichts weiter. Aber dann sank das Fenster des Raumschiffs langsam und offenbarte dahinter keinen Marsmenschen, sondern Milton. Er hatte sich den Bart abrasiert. "Holt eure Mutter", rief er lächelnd. "Wir machen eine kleine Tour." Kein Raumschiff also, aber beinahe: ein 1967er Cadillac Fleetwood, einer der intergalaktischsten Autos, die je in Detroit gebaut wurden. (Bis zum Mondflug war es nur noch ein Jahr hin.) Er war schwarz wie der Weltraum selbst und hatte die Form einer auf der Seite liegenden Rakete. Die lang gezogene Front verjüngte sich, wie eine Raketenspitze, und von dort schwang sich das Fahrzeug in länglicher, schöner, ominös vollendeter Form entlang der Einfahrt zurück. Es hatte einen silbernen Kühlergrill mit zahlreichen Kästchen, wie um kosmischen Staub zu filtern. Chromleisten, Kabelverkleidungen ähnlich, führten von gelben konischen Blinkleuchten über die gerundeten Seiten des Wagens bis zum Heck, wo das Fahrzeug sich wie zu Antriebsaggregaten auswölbte, zu Düsenflossen und Schubtriebwerken. Innen war der Cadillac mit üppigen Teppichen ausgelegt und gedämpft illuminiert wie die Bar im Ritz. Die Armlehnen waren mit Aschenbecher und Zigarettenanzündern versehen. Die Innenausstattung selbst war aus schwarzem Leder und roch neu und intensiv. Es war, als stiege man in eine Brieftasche.

    Den Erzähler von Middlesex treibt im Grunde eine einzige Frage um, die Frage, die seit jeher im Zentrum der gesamten amerikanischen Literatur steht, die mehr, viel mehr als jede europäische zur Stiftung einer nationalen Identität beitragen muss: er will verstehen, wer er wirklich ist. Dafür muss er zurück in seine Familiengeschichte, dafür muss er medizinische Fachbücher wälzen und dafür muss er Erfahrungen sammeln. Die Fragen von Callie/Cal Stephanides sind die Fragen des 21. Jahrhunderts: was macht den Unterschied zwischen Frauen und Männern aus, was daran ist biologisch und was sozial determiniert, und welche Konsequenzen hat diese Differenz für die Einrichtung unserer Gesellschaft? Man findet in diesem Roman natürlich keine abschließenden Antworten, darum kann es in Literatur nicht gehen.

    "Es gibt da etwas, was du über mich wissen solltest", lautet der letzte Satz in der in Berlin spielenden Rahmenhandlung, jener einst geteilten Stadt, die den Erzähler an seinen persönlichen "Kampf um Vereinigung, um Einheit" erinnert. Es gibt da etwas, was wir über uns wissen sollten. In Middlesex kann man es nachlesen.