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Bücher des Jahres (2)

Campo Santo heißt das Buch, das der Hanser Verlag nun aus dem Nachlass des vor knapp zwei Jahren tödlich verunglückten W. G. Sebald herausbringt, und der Name scheint Programm. Nicht nur widmet sich der titelgebende der vier Prosa-Texte über Korsika, mit denen der Band eröffnet, Totenkult und Sepulchralkultur der Mittelmeerinsel. Insgesamt erinnert die Zusammenstellung dieser Prosa mit verstreut erschienenen wissenschaftlichen Aufsätzen, Essays und Reden aus 25 Jahren in ihrer zu Tage liegenden Zufälligkeit an die posthume Kontingenz, die uns alle mit denen, die uns vorausgingen, und denen, die nach uns kommen, irgendwann vereinen wird auf dem Feld, das hierzulande Friedhof heißt.

Von Julia Schröder | 25.12.2003
    Was von einem Schriftsteller- und Gelehrtenleben übrig blieb, füllt hier die 270 Seiten zwischen den Buchdeckeln. Von Vollständigkeit ist allerdings nicht die Rede, ist doch der sebaldsche Nachlass, wie der Herausgeber Sven Meyer einräumt, "noch nicht gesichtet und ediert". Literarisches scheint dort aber nicht mehr auf Ausgrabung zu warten, jedenfalls nichts aus jüngerer Zeit: Das Korsika-Projekt sei, so Meyer, "das letzte, nie abgeschlossene Werk eines früh beendeten Dichterlebens". Insofern wirken Susan Sontags große Worte, die der rückwärtige Umschlag zitiert, in diesem Zusammenhang etwas unangebracht. Von einem "würdigen literarischen Unternehmen" ist da die Rede. Das bekommt der Leser in Campo Santo nicht, für den Einsteiger ist das Buch deshalb auch nicht zu empfehlen. Der Sebald-Geübte jedoch wird die Gelegenheit gern wahrnehmen, dem verehrten trauernden Geist bei der Arbeit zuzusehen und dabei, wie sich diese Arbeit über die Jahrzehnte verändert.

    Ein Drittes nährt die Vermutung, der Titel Campo Santo benenne den intellektuellen Ort dieser Texte, ja, fasse die Richtung all dessen zusammen, was von Sebald auf uns gekommmen ist. Wieder einmal geht es um die Zerstörung, das Verschwinden, den Verlust - in allen Bereichen unseres Daseins.

    Interessant zu beobachten ist dabei, wie sich die noch ganz wissenschaftlich begründete Benennungskompetenz der früheren Beiträge zurückzieht und fast verflüchtigt zugunsten des essayistischen, zuweilen feuilletonistischen Schilderns und Umschreibens, mit dem Sebald sich in den letzten Jahren seinen Gegenständen zu nähern pflegte. Das hat nicht nur damit zu tun, dass die Arbeiten der siebziger und achtziger Jahre für wissenschaftliche Organe verfasst wurden und die späteren für Tageszeitungen und Kulturzeitschriften. Es liegt auch an einer spezifischen Verschiebung in der Aufmerksamkeit des Verfassers.

    Sebald gilt spätestens seit seinen großen Prosawerken Die Ringe des Saturn und Austerlitz als Steinmetz am literarischen Mahnmal der Katastrophengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts - und als Meister der Zusammenschau, der von ihm selbst so genannten Synopse, welche die Einheit allen Verhängnisses wahrzunehmen und zu schildern vermag, das im Grunde die Dialektik der Aufklärung ist. Das verheerte Gedächtnis und die zerstörte innere und äußere Natur, Heimatverlust und Fortschrittsirrtum, die Furie des Verschwindens und der Engel der Geschichte - diese Topoi kulturkritischen Denkens sind Fundament, Anlass und Gegenstand von Sebalds Schreiben gewesen, und inmitten dieses unendlich in der Erzählung aufzugliedernden Unglückszusammenhangs wirkt der industrialisierte Judenmord, wie verdrängt auch immer, als Epizentrum des allgegenwärtigen und zugleich verleugneten Schmerzes.

    Die Einsicht, alles sei schrecklich im Innern verwandt, um Brentanos Wort auf das Jahrhundert des Tötens umzumünzen, hat W. G. Sebald früh ereilt. Sein erster veröffentlichter literarischer Text, das Elementargedicht "Nach der Natur" von 1988, legt bereits Zeugnis davon ab. In der nachfolgenden erzählenden Prosa mit ihrer ständigen Neigung ins Essayistische, die Sebald namentlich in Schwindel. Gefühle versammelte, verstärkt sich diese Tendenz zur erwähnten Synopse, schweift der Blick von der unscheinbaren Detailbeobachtung über des Erzählers wechselnde, oft niederdrückende Selbsterfahrungen ins große Ganze der Geschichte. Dieses wiederum manifestiert sich in Zufallsfunden wie Zeitungsausschnitten, Fotos, Eintrittskarten, Programmblättern. Auch in den Korsika-Texten von Campo Santo ist dieses Verfahren zu beobachten. So kommt der Erzähler unter dem Titel "Die Alpen im Meer" vom einstmals undurchdringlichen korsischen Wald, der schon vor Jahrhunderten abgeholzt wurde und bis heute wird, auf die mittlerweile sinnentleerten, nichtsdestoweniger gründlich durchgeführten Jagdriten der korsischen Männergesellschaft und von da auf Kindheitsreminiszenzen an getötete Hirschkühe beim heimischen Metzger im Allgäu.

    In England habe ich später kleine, kaum einen Zoll hohe Plastikbäumchen gesehen, mit denen die in den Schaufenstern der sogenannten family butchers ausgestellten Fleischteile und Innereien umrandet waren. Die unabweisbare Einsicht, dass dieser immergrüne Plastikzierat irgendwo fabrikmäßig hergestellt werden musste zu dem einzigen Zweck, unsere Schuldgefühle zu lindern angesichts des vergossenen Bluts, war mir, gerade in ihrer völligen Absurdität, ein Zeichen dafür, wie stark der Wunsch nach Versöhnung in uns ist und wie billig wir sie von jeher erkauften.

    Dort angelangt, braucht es nur den Griff ins Hotelnachtschränkchen zu einem vergessenen Pleiades-Bändchen, um auf die von Flaubert nacherzählte Legende vom Heiligen Julian zu geraten. Der läutert sich vom argen Nimrod zum Umarmer eines Aussätzigen und erlangt erst dadurch Erlösung.

    Das Korsika-Projekt, in dem sich diese charakteristische Verknüpfung scheinbar weit auseinander liegender Tatsachen zu einem durchaus melancholischen Gesamtbild fügt, hat der Autor in den neunziger Jahren angefangen und wegen der Arbeit am Großwerk Austerlitz aufgegeben. Mag sein, Sebald, der in seinem Schreiben irdische Schönheit allenfalls als gefährdete, höchstens als Vorschein der Utopie gelten lassen mochte, empfand die eigenen Bilder von der Insel als allzu betörend, als sei ihm da etwas unterlaufen, das den "Sebald-Sound", der ihm in den letzten Lebensjahren nicht wenige Anhänger bescherte, jenes unwiderstehlich ruhig hinmäandernde, hypotaktische Abschreiten des zu Beschreibenden nun auch noch mit verführerischsten Inhalten anreichert.

    Die Abenddämmerung verdunkelte schon zur Hälfte das Zimmer. Draußen aber hing noch die untergehende Sonne über dem Meer, und in dem gleißenden, in Wellen von ihr ausgehenden Licht stand zitternd die ganze von meinem Fenster aus sichtbare und in diesem Abschnitt weder von einer Staßentrasse noch von der kleinsten Ansiedlung entstellte Welt. Die im Verlauf von Jahrmillionen von Wind, Salznebel und Regen aus dem Granit geschliffenen, dreihundert Meter aus der Tiefe emporragenden monströsen Felsformationen der Calanches leuchteten in feurigem Kupferrot, als stünde das Gestein selber in Flammen und glühe aus seinem Inneren heraus. Manchmal glaubte ich in dem Geflacker die Umrisse brennender Pflanzen und Tiere zu erkennen oder die eines zu einem großen Scheiterhaufen geschichteten Volks. Sogar das Wasser drunten schien in Flammen zu stehen.

    Erst wie die Sonne hinter den Horizont sich senkte, erlosch der Meeresspiegel, verblasste das Feuer in den Felsen, wurde fliederfarben und blau.

    Vielleicht hat Sebald gespürt, dass hier die berüchtigte Süße des in diesen Landstrichen gereichten Gebäcks seine Arbeit am Gedächtnis des Schreckens zu ereilen droht. Als Johann Peter Hebel, den Sebald in seiner vor fünf Jahren erschienenen Essaysammlung "Logis in einem Landhaus" gewürdigt hat, in seinem ungeheuren Gedicht "Die Vergänglichkeit" die Vision des Weltenbrandes in Worte fasste, stand das ganz große Feuer, worin Völker zu Scheiterhaufen geschichtet wurden, noch bevor. Im Unterschied dazu scheint Sebalds Vorsatz, noch in der Feier der Natur die Erinnerung an die Katastrophe zu dokumentieren, in diesen Sätzen einem Sentiment zu verfallen, dessen zweifellos gut gemachte Versprachlichung ein wenig zu souverän über die poetische Einsicht gebietet, das Schöne sei stets des Schrecklichen Anfang.

    Die Korsika-Stücke markieren also in gewisser Hinsicht ein poetologisches Dilemma. Sebald enging ihm durch die Arbeit an "Austerlitz", durch die Recherche der Transporte, die Kinder aus jüdischen Familien nach Großbritannien brachten und so vorm Zugriff der Nazis retteten.

    Die Lektüre der korsischen Etüden über Bestattungsgepflogenheiten und Landschaftsverheerung lohnt dennoch; selten erlebt man Sebalds zumeist leicht bis schwer verschatteten Erzähler so gut aufgelegt wie im ersten Text des Bandes, "Kleine Exkursion nach Ajaccio", wo ihm beim Besuch der Casa Bonaparte zwei drollige Wiedergängerinnen des großen Korsen begegnen, bevor er, von der Explosion "einer der auf Korsika ja nicht selten hochgehenden Bomben" wenig beunruhigt, in seinem Hotelzimmer einschläft.

    Es nimmt nicht Wunder, dass Herausgeber und Verlag sich entschieden haben, die Prosa an den Anfang zu stellen, in der uns der gerechtsame Chronist, der feinfühlige Beobachter W. G. Sebald begegnet, wie man ihn seit Anfang der neunziger Jahre kennt und schätzt. Dahinter, in der Abteilung Essay, werden die Brocken zunächst deutlich härter, weniger leicht konsumierbar.

    Sebald hatte, bevor seine literarische Karriere nennenswerte Formen annahm, zwei Sammelbände mit seinen Untersuchungen zur österreichischen Literatur des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts herausgebracht, unter den programmatischen Titeln "Die Beschreibung des Unglücks" und "Unheimliche Heimat". Die Aufsätze in Campo Santo knüpfen daran an oder deuten darauf voraus; der erste der versammelten Aufsätze ist von 1975 und beschäftigt sich mit Peter Handkes Stück "Kaspar". Der junge Literaturwissenschaftler Sebald zeigt sich dort bereits deutlich von ideologiekritischer Empathie geleitet. Seine Befunde zu "Fremdheit, Integration und Krise", wie sie sich in Kaspars Spracherwerb, Sprachassimilation und Sprachrevolte zeigen, geben gerade im Kontrast zur virtuosen Handhabung der erzählerischen Mittel in den Korsika-Texten nicht wenig zu denken.

    Die Sprache hat (Kaspar), sozusagen, schamlos gemacht, ihn angeleitet, sich an Identitäten zu gewöhnen. Dass er sich dessen noch erinnert, ist der Beginn der Geschichte, die er gegen Ende des Stücks von sich selber erzählt. Es ist diese Geschichte das deutliche Anzeichen dafür, dass mit ihm noch nicht alles in Ordnung ist, denn nur ‘jener Gegenstand ist in Ordnung, von dem du nicht erst eine Geschichte erzählen musst'. Kaspars Erziehung erscheint demnach fehlgeschlagen. Er erinnert sich, aber zu gut. Er weiß nicht nur um sich selbst, sondern auch noch um seine Herkunft und Entwicklung, um die Indoktrination, das Vorspiel seiner Verzweiflung. Indem Kaspar Reflexionen anstellt über die Veränderungen, die an ihm vorgegangen sind, durchbricht er die Rolle, die ihm zugeteilt war. Seine Untersuchungen führen ihn rückwärts, an einen Punkt, da er, das Paradies durch das Tor des Nachdenkens betretend, die Naivität seiner Präexistenz wiedergewinnt.

    Man vergisst das zuweilen: Winfried Georg Sebald ist Literaturwissenschaftler gewesen, und er ist als Autor W. G., genannt Max Sebald ohne die Literaturgeschichte nicht denkbar. Die Aufsätze der achtziger Jahre heißen "Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung", über "Konstruktion der Trauer"; sie beschäftigen sich mit Kasacks, Nossacks und Kluges literarischer Bearbeitung des Bombenkriegs - was man getrost als Nucleus der Zürcher Vorlesungen von 1997 über Luftkrieg und Literatur verstehen darf -, sie beschäftigen sich mit Grass' und Hildesheimers Auseinandersetzung mit der Shoah. Sebald findet hier nicht nur seine Themen, formuliert nicht nur den Antrieb seines eigenen Schreibens - er kommt auch zu seiner Form, oder jedenfalls zu deren theoretischer Begründung.

    Hermann Kasacks Stadt hinter dem Strom , 1947 veröffentlicht, fällt Sebald auf als misslingender Versuch, die Zerstörung der deutschen Städte durch das Area Bombing britischer Luftstreitkräfte und deren Folgen in die Form eines Romans in den Fußstapfen des Expressionismus zu gießen. Positive Gegenbeispiele im Aufsatz von 1982 sind Hans Georg Nossaks Beschreibung des Untergangs von Hamburg, die bereits unmittelbar nach den schweren Angriffen und dem Feuersturm des Sommers 1943 aufgezeichnet wurden, und Alexander Kluges erst in den siebziger Jahren entstandene Geschichte über die Zerstörung von Halberstadt.

    Obschon also der Text Nossacks in einigen seiner Amplituden über die schiere Faktizität des Geschehens hinausgeht und umschlägt in persönliches Bekenntnis und mythisch-allegorische Strukturen, versteht er sich doch, seiner ganzen Anlage nach, als der bewusste Versuch möglichst neutraler Aufzeichnung einer alle künstlerische Imagination übersteigenden Erfahrung. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1961, in dem Nossack auf die Einflüsse zu sprechen kommt, die seine schriftstellerische Arbeit prägten, schreibt er, dass es ihm, seit der Lektüre von Stendhal, darum ging, sich ‘so schlicht wie möglich auszudrücken, ohne kunstgewerbliche Adjektive, ohne berauschende Bilder und ohne Bluff, mehr wie ein Briefschreiber und beinahe im Alltagsjargon'. (...) In diametralem Gegensatz zur tradierten fiktionalen Komposition experimentiert Nossack mit dem prosaischen Genre des Berichts, der Aufzeichnung und der Untersuchung, um Platz zu schaffen für die den Bereich der Romankultur sprengende historische Kontingenz.

    Genau dies wird Sebald als Prosaautor zum Programm. Seine jedes Pathos vermeidende Erzählweise, die eben dadurch oft die berührendste Wirkung hat, will nicht besonders kunstvoll sein. Sie soll hauptsächlich Untersuchungen anstellen und Bericht geben, um dem Leid, das sich hinter der "historischen Kontigenz" verbirgt, gerecht zu werden. Beispielhaft ist das in den vier Erzählungen des Bandes "Die Ausgewanderten" von 1993 gelungen. Diese Versuche, sich auf Menschen zu besinnen, die in die Fremde mussten und dort nicht glücklich wurden, leisten eben die "Restitution", die besondere Art von Wiedergutmachung, die Sebald in seiner Stuttgarter Rede zu Eröffnung des Literaturhauses von 2001 als Aufgabe der Literatur skizziert hat. Diese Rede ist der vorletzte Aufsatz in Campo Santo .

    Susan Sontag hat Sebalds Stil einmal als "erlesen" bezeichnet, wozu beigetragen haben mag, dass sie Sebald nicht im deutschen Original, sondern in der Übersetzung ins Englische gelesen hat. Und unübersehbar schreibt da kein Erbe des "Kahlschlags", der rigiden Nüchternheit, auf die sich viele deutsche Autoren nach dem Krieg verpflichtet hatten. In Wahrheit zieht eine Sprache den Leser in ihren viel beschworenen "Sog", der ihre Vorbilder nicht peinlich sind, eine Sprache, die nicht antimodern ist, aber dem Modischen - eigensinnig und selten auch ein wenig selbstverliebt - den Klang des Hergebrachten vorzieht.

    Wie sich über die Jahre der notorische Sebald-"Sound" entwickelt: auch dies ist in Campo Santo zu beobachten. Noch in den Aufsätzen aus den achtziger Jahren über Peter Weiss und Jean Améry, über zwei Überlebende, die an der unabweisbar empfundenen Schuld des Überlebt-Habens letztlich zerbrachen, bannt Sebald seine eigene innere Beteiligung in Sätze, die der Form des wissenschaftlichen Beitrags voll und ganz entsprachen - wenn auch im zünftigen Vergleich auffallend durch dialektische Eleganz der Gedankenführung und entschiedene Ökonomie des Ausdrucks. Adorno grüßt von fern. Über Amérys Umgang mit den Erinnerungen an Folter und Todesangst, die ihm die Schergen der Nazis zugefügt hatten, schreibt Sebald:

    Eine Erzählung in irgendeinem herkömmlichen Sinn konnte aus dieser mémoire nicht werden; sie verzichtet darum auf jede Form der Literarisierung, die so etwas wie Komplizität zwischen dem Schreibenden und seinen Lesern befördert hätte. Améry bedient sich einer durchgängigen Strategie des understatements, die sowohl Mitleid als auch Selbstmitleid unterbindet und die (...) bezeichnend ist für sämtliche Opfer der Verfolgung. Noch Amérys Bericht über die an ihm vollzogene Folter ist in einem Tonfall gehalten, der eher den monumentalen Irrsinn der an ihm vorgenommenen Prozedur als das Pathos des Leidens unterstreicht.

    Was es zu verhindern gilt, ist also die Komplizenschaft zwischen dem Schreibenden und seinen Lesern, ein allzu inniges Einverständnis. Deshalb hat auch Sebald sich des Understatements bedient. Gerade, um sich den Hauptfiguren und ihren zumindest beschädigten oder zerstörten Biografien so behutsam wie möglich nähern zu können, hebt seine Erzählung zumeist mit dem Erzähler selbst an, der sich - oft unglücklich, oft in die Formel gefasst "als ich einmal..." - in einer Gegend wiederfindet, wo ihm die Reminiszenzen und die Hinweise für die anstehende Untersuchung begegnen können.

    Paradoxerweise legt gerade dieses Verfahren ein grobes Missverständnis nahe, dem vermutlich nicht wenige Sebald-Adepten verfallen sind. Man könnte nämlich den Eindruck gewinnen, Sebalds Zusammenschau hebe den Unterschied auf zwischen den Verschonten, zu denen er, der melancholische Spurensucher, jedenfalls zu zählen wäre, und den Opfern, die diese Spuren hinterlassen haben. Damit wäre auch dem Leser die Möglichkeit eröffnet, sich selbst zumindest empathisch verbunden zu fühlen mit dem Unglück der anderen - und sich dadurch zu retten vor jeder Frage nach den wahren Verhältnissen, in denen der sensibel mitempfindende Leser sich zum geschilderten Leiden befindet. Auch in der Melancholie, die Sebald in Campo Santo als Suchhund der Erkenntnis würdigt, kann man sich gemütlich einrichten. Aber W. G. Sebald ist nicht nur "the mind in grief", der trauernde Geist, wie Susan Sontag ihn genannt hat.


    Im Jahr 1976 sei er, berichtet Sebald in der erwähnten Rede über "Restitution", nach Stuttgart gekommen, um den Maler Jan Peter Tripp wiederzufinden, den er nach gemeinsamer Schulzeit in Oberstdorf aus den Augen verloren hatte. Damals habe ihn erstmals der Gedanke gestreift, dass er "auch gern einmal etwas anderes tun würde als Vorlesungen zu halten und Seminare". Dem solcherart zum Ermunterer eigener künstlerischer Betätigung gewordenen Künstler hat Sebald zahlreiche Aufsätze gewidmet, auch in Campo Santo gibt es einen. In einem anderen, nachzulesen in "Logis in einem Landhaus", schrieb Sebald, dass die das Abgestorbene aufbewahrende Kunst Jan Peter Tripps sich vom bloßen "Leichengeschäft" dadurch unterscheide, "dass die Todesnähe des Lebens ihr Thema ist und nicht ihre Sucht". Sebald sagt es noch deutlicher, als es um Améry geht:


    Zu keiner Zeit aber war der Todeswunsch, dieser Inbegriff der acedia cordis, für Améry Grund zur Resignation. Er motivierte ihn vielmehr zur Aufrechterhaltung des Protestes.

    Die Lücke zwischen der Resignation, der Todessucht hie und dem vielleicht nutzlosen Protest da, das ist die entzündliche Stelle im Denken und Schreiben des W. G. Sebald. Auf dem Friedhof, und sei es der schönste Campo Santo, ist so etwas nicht gut aufgehoben.