Sonntag, 05. Mai 2024

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Bücher über Polen, Tschechien und Ungarn

Die Menschen sind fähig zum Kompromiss. Diese These, die zum Beispiel Martin Greiffenhagen vor ein paar Jahren in seinem Werk "Kulturen des Kompromisses" historisch belegte, scheint heute angesichts brutalen Terrors und der Kriege in Nahost, Afrika, auf dem Balkan und in der arabischen Welt eher widerlegt. Man braucht wohl den langen Atem der Geschichte, um an diese These zu glauben. Das gilt auch für Europa, denn der letzte Gipfel endete bekanntlich ohne Kompromiss, Europa bleibt also vorläufig ohne Verfassung. Aber die Erweiterung kommt und sie wird neue historische Fakten schaffen. Die neuen Länder bringen ihre zum Teil lange Geschichte mit, die etwa im Fall Polen den ganzen Kontinent beeinflusste. So war Polen das erste Land Kontinentaleuropas, das noch vor Frankreich eine liberale Verfassung verabschiedete, auch wenn sie nicht lange hielt. Was bringen die Neuen mit, was könnte sich ändern? Istvan Romhanyi hat Bücher über drei Länder, nämlich Polen, Tschechien und Ungarn herausgesucht:

Eine Sammelbesprechung von Istvan Romhanyi | 05.01.2004
    Die Europäische Union wird am 1. Mai 2004 um weitere zehn auf 25 Staaten erweitert. Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen galten Jahrzehnte lang als 'Osten’, obwohl der geografische Mittelpunkt unseres Kontinents östlich von Polen liegt. Aber nicht nur der Begriff 'Osteuropa’ war unter dem Einfluss der Politik zu einem falschen Etikett mutiert, sondern selbst das Wort 'Europa’ hatte seinen ursprünglichen Sinn eingebüßt.

    Diese Begriffsverwirrung hat Georg Stöber, der Herausgeber des Buches "Polen und die Ost-Erweiterung der EU" aus geografischer Sicht in seinem Aufsatz so veranschaulicht:

    Europa ist mit 1o,5 Millionen Quadratkilometern und über 700 Millionen Einwohnern der am dichtesten besiedelte Erdteil. Es ist der reichste Kontinent, ein Erdteil mit rund 64 Sprachen." - Und weiter: "Die Europäische Union ist ein Bündnis von derzeit 15 europäischen Staaten. Sie umfasst eine Fläche von 3,2 Millionen Quadratkilometern mit etwa 370 Millionen Einwohnern. Sie hat reiche und arme Regionen und elf Amtssprachen.

    Von den neuen Partnern der 15 grenzen fünf an deutschsprachige Länder. Nicht nur gehören die drei größten Kandidaten-Länder seit ihrer Christianisierung vor mehr als tausend Jahren zum Abendland. Das Selbstverständnis ihrer Bewohner als Europäer ist durch die lange währende Sowjetherrschaft nicht geschwächt, sondern eher noch gestärkt worden. Die Sehnsucht nach Freiheit war ein guter Nährboden für liberale Ideen.

    Der polnische Professor Jerzy Szacki hat in seinem Buch "Der Liberalismus in Polen nach dem Ende des Kommunismus" auch die Jahre vor der Wende analysiert. Intellektuelle Dissidenten haben der sowjetischen Doktrin in Polen wie auch in Ungarn die Konzeption einer 'antipolitischen Politik’ entgegengesetzt. Für sie ging es zunächst nicht um eine politische, sondern um eine 'existentielle und moralische’ Revolution, durch die die Menschen lernen werden, 'in der Wahrheit zu leben’ und freiwillig zusammen zu arbeiten. Dieses Programm war durchaus radikal, verlangte es ja nicht nur die Ablehnung des real existierenden Sozialismus, sondern es hatte sich zum Ziel gesetzt, ausgedehnte Enklaven der Unabhängigkeit zu schaffen.

    Polens Gesellschaft hat den real existierenden Sozialismus überwunden. Die Öffnung zum Liberalismus, die Wiederentdeckung der Autonomie des Individuums, wurden zum Ausgangspunkt einer neuen Politik in einer Region, in der der Liberalismus und der Individualismus nur partiell verwurzelt waren. Die größten Verdienste daran spricht Szacki der freien Gewerkschaftsbewegung 'Solidarnosc’ zu. Er hält es für ein historisches Verdienst der 'Solidarnosc’, dass sie den Weg beschritt, die Demokratie zu praktizieren. Zugleich betont er, die Demokratie an sich sei kein Weg zur Freiheit, und selbst wenn sie deren notwendige Bedingung ist, so sei sie bestimmt keine hinreichende Bedingung, worauf die Liberalen 'völlig zu Recht immer wieder hingewiesen’ hätten. Bei aller Wertschätzung des politischen Geschehens in Polen meint aber der Ideenhistoriker, ein positives Beispiel für die Überwindung des Kommunismus sei heute China, denn dort vollzöge sich

    ...die Restauration der Handelszivilisation, während in Polen der fruchtlose politische Streit weitergehe, der das Land der Lösung des eigentlichen Problems nicht näher bringe, sondern diese Lösung mit der Stärkung demokratischer und egalitärer Illusionen vielleicht in die Ferne rücke.

    In seinem 'Postskriptum zur deutschen Ausgabe’ stellt der Autor resigniert fest, dass die Zahl der Polen, die zufrieden sind, nach Meinungsumfragen ständig zurückgegangen sei. Zwar habe der Liberalismus Polen zeitweise zu besseren Resultaten verholfen als in den meisten postkommunistischen Ländern, doch

    ... insgesamt gehe es ihm schlecht, und es gibt eher wenig als viel Liberalismus im Lande, was am besten dadurch bewiesen wird, dass der Unternehmergeist nach wie vor auf Hindernisse stößt und weite Bereiche der Wirtschaft nach wie vor der direkten Kontrolle des Staates unterliegen.

    Warschaus außenpolitische Überlegungen und Ambitionen wurden schon lange vor dem Irak-Krieg recht ausführlich beschrieben im "Zentraleuropa Almanach Polen" aus dem Wiener Molden Verlag. Der Herausgeber ist ein ausgewiesener Kenner Ost-Mitteleuropas: der frühere österreichische Vizekanzler Erhard Busek. Das Tatsachenbuch enthält in komprimierter Form zahlreiche Daten und Fakten über Polens Politik, Wirtschaft, Militär, Bildungswesen und Kultur, kein Kapitel ist jedoch spannender als der außenpolitische Teil: Dort heißt es:

    Polen tritt entschieden für eine dauerhafte und gewichtige Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa ein - einer nicht nur globalen, sondern auch euro-atlantischen Großmacht. In gegenseitigen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten ist es Warschaus Ziel, die amerikanischen Interessen stärker als bisher mit Polen und mit ganz Mitteleuropa zu verknüpfen. Gleichzeitig wird eine Festigung der Position Polens als des wichtigsten Partners der USA in der Region angestrebt.

    Jiri Burgerstein, der nach Studium in Göttingen heute in Pilsen an der Universität lehrt, hat sein Taschenbuch für die Beck'sche Reihe schlicht mit "Tschechien" betitelt. Er unternimmt keine theoretisierenden Höhenflüge, dafür brilliert er mit profunder Kenntnis seines Landes und seiner Landsleute, die er nicht immer schonend beschreibt. Seine Bereitschaft, auch herzhaft Kritik zu üben und weniger Schmeichelhaftes nicht mit nachsichtigem Humor zu übertünchen, machen das Buch zu einer interessanten Lektüre.

    Burgerstein vermittelt Historisches, Zeitgeschichtliches, charakterisiert und karikiert seine Landsleute, schildert in galligen Sätzen Prags neue politische Prominenz und beklagt verbittert auch Sünden und Versäumnisse der nahen Vergangenheit:

    Dass die deutsche Besatzungsmacht mit ihrer ganzen Technik kaum einen illegalen Sender entdecken konnte, hat den Widerstand gefreut. Trotzdem sind viele ausgehoben worden, da von Landsleuten angezeigt. Die Heydrich-Attentäter wurden nicht mit kriminalistischem Geschick ermittelt: ein Prager Konfident kassierte eine dicke Belohnung.

    Burgerstein prangert an, dass die Verdrängung solcher Ereignisse teilweise so absurde Züge angenommen habe, dass manch ein Tscheche angesichts der zahllosen Siegesfeiern frage, ob der Zweite Weltkrieg bloß eine Episode des Prager Aufstandes gewesen sei:

    Die Folgen solcher Verdrängungen sind für den Weg Tschechiens nach Europa katastrophal. Die Kenntnisse, vor allem der eigenen Geschichte, sind lückenhaft, gefärbt und ohne Kontexte. Das führt zu einem sonderbar verflachten Geschichtsverständnis, einem Nährboden für Vorurteile und zu einer Neurose gegenüber Ausländern, insbesondere den deutschen Nachbarn. Somit wartet Tschechien auf seinen 'Historikerstreit' und seine 'Wehrmachtsdebatte’.

    Jiri Burgerstein weicht auch schmerzhaftesten Fragen nicht aus:

    Präsident Havel hat gleich im Jahre 199o die Vertreibung als Unrecht benannt. Eine Antwort der Sudetendeutschen im Hinblick auf die eigenen Beiträge zur Nazi-Herrschaft blieb aus. Stattdessen kamen Eigentumsforderungen. Manche Tschechen, die bereit gewesen wären, Havel zu folgen, zogen sich daraufhin lieber zurück. Denn sie befürchteten, die Eigentumsansprüche der Sudetendeutschen zu unterstützen. Infolgedessen wurde auch über das Recht zur Rückkehr der Vertriebenen nicht weiter diskutiert.

    Dass die Mehrheit der Tschechen die Vertreibung der deutschen Minderheit bis heute gutheißt, erklärt Burgerstein mit einem Gefühl der Bedrohung, das sich - wie er meint - dem Selbstverständnis des heutigen Deutschland entzieht.

    Ebenfalls in der Beck'schen Länder-Reihe erschien das Buch "Ungarn" von Sándor Kurtán, Karin Liebhart und Andreas Pribersky. Es schildert Land und Leute, Politik und und Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, vor allem jedoch die Geschichte der Magyaren von den Anfängen bis Ende der neunziger Jahre. Wohltuend unvoreingenommen, fern von jeglichem Pathos oder kurzatmigem Polit-PR. Aber sensibel genug, um auch auf das traumatisierte Geschichtsbewussstein der Ungarn einzugehen. So sind die Nachwehen des Friedensdiktats von Versailles selbst nach 83 Jahren noch spürbar. Der bevorstehende Eintritt Ungarns in die Europäische Union, in eine Gemeinschaft, die keine inneren Grenzen kennt, wird die Auswirkungen der damaligen Entscheidung mildern. Zitat:

    Das Staatsgebiet des Ungarischen Königreichs (mit Kroatien) wurde von 325.4oo km² auf 92.9oo km² verkleinert, die Einwohnerzahl von 2o,8 Millionen auf 7,6 Millionen reduziert. Damit wurde Ungarn von einer Mittelmacht zu einem der Kleinstaaten der Region. Ein Großteil der Bevölkerung der verlorenen Gebiete war nicht-ungarischer Nationalität und ihr Wunsch nach Unabhängigkeit verständlich. Doch auch 3,2 Millionen Ungarn lebten von nun an außerhalb der Grenzen, die im wesentlichen auch den Grenzen des heutigen Ungarn entsprechen. Von ethnischen Grenzen, von dem von US-Präsident Wilson formulierte Prinzip nationaler Selbstbestimmung als Grundlage der europäischen Nachkriegsordnung war keine Rede mehr.

    Die Politik des Reichsverwesers Horthy zwischen den Weltkriegen, die auf eine Revision des Friedensdiktats ausgerichtet war, wird nicht - wie peinlicherweise vielfach geschehen - als faschistisch, sondern schlicht als rechts-autoritär charakterisiert. Mehr Aufmerksamkeit verdient hätten allerdings die Unterlassungen und Sünden während des Zweiten Weltkrieges, wie auch die Problematik ihrer versäumten Aufarbeitung.

    Die Autoren loben die seit der Wende eingekehrte politische Stabilität Ungarns, heben hervor, dass alle Regierungen über die volle Legislaturperiode agieren konnten, mehr noch, dass das Land auch in der Zeit der schweren Wirtschaftskrise nach dem Verlust der früheren ausländischen Märkte und über einer Million Arbeitsplätzen Anfang der neunziger Jahre ruhig blieb. Wörtlich heißt es:
    Die ungarische Gesellschaft ist entlang politischer Orientierungen gespalten. Dies gilt besonders für die politische Elite, deren maßgebliche Vertreter ja aus dem Kultur- oder Wissenschaftsbereich kommen und ihre latenten oder offenen Konflikte in die Politik tragen. 199o war die wichtigste Bruchlinie selbstverständlich jene zwischen den Kommunisten, Exkommunisten und Antikommunisten. Dann aber trat ein anderer kulturell-ideologischer Gegensatz in den Vordergrund: die prowestlich-modernisierende Orientierung gegenüber der traditionalistischen Ausrichtung.

    Ungarns Wahlbürger votieren klar: Sie unterscheiden zwischen rechts und links, ließen bisher nur einmal eine Partei in ihr Parlament, die gegen die Westintegration agitiert hatte, stimmten eindeutig für den NATO- und EU-Beitritt und haben seit der Wende alle ihre Regierungen nach vier Jahren sorgfältig wieder abgewählt.

    Trotzdem werden Demokratie und Marktwirtschaft nicht prinzipiell in Frage gestellt, wenn auch deren Repräsentanten kritisiert oder abgelehnt werden. Der Großteil der Gesellschaft unterscheidet zwischen dem politischen System und den Regierenden.

    Das würde man sich manchmal in dem einen oder anderen Staat der 'alten EU’ auch wünschen.

    Das war eine Rezension von Istvan Romanhyi zu den Büchern von Georg Stöber: "Polen, Deutschland und die Ost-Erweiterung der EU", erschienen in der Hahn’schen Buchhandlung, Berlin, 135 Seiten zu 14 Euro, ferner von Jiri Burgstein: "Tschechien", Beck'sche Reihe, München, 231 Seiten zu elf Euro 50 und Erhard Busek: "Zentraleuropa Almanach Ungarn, erschienen im Molden-Verlag in Wien, 118 Seiten zu zwölf Euro.