Gegenentwurf zum populär gewordenen Verhaltensmodell des homo
oeconomicus und zur Dominanz der Ökonomie in der Nachkriegsgesellschaft sein. Deshalb plädiert Nida-Rümelin, heute Professor für politische Theorie und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, für eine Erneuerung der kultur- und bildungspolitischen Ideale, weg von der auf reine Nützlichkeit und Verwertbarkeit ausgerichteten Bildungs- und Kulturpolitik. Denn, so Nida-Rümelin, wörtlich:
" Die Wandlung Deutschlands von der ehemaligen Bildungs- und
Kulturnation zu einem politischen Zwerg, der sich fast ausschließlich über ökonomische Leistungen definiert, ist nicht ohne Folgen geblieben: Das Fundament dieses ökonomischen Erfolgs, die Kenntnisse und Fähigkeiten, die Tugenden und Einstellungen, die diesen Erfolg erst langfristig sichern können, erodiert. "
Das sich in Diskussionen und Debatten äußernde neue gesellschaftliche Bildungsinteresse biete Chancen, so der Autor, sich in Deutschland auf traditionelle Stärken zu besinnen: auf eine geistige Erneuerung, wie sie seinerzeit von den Humboldtschen Reformen ausging, als die vom Mittelalter überkommene Ausbildung durch Bildung ersetzt wurde. Das heißt: Kinder müssen nicht nur Rechnen, Lesen und Schreiben lernen - also fit gemacht werden für die Arbeitswelt -, sie sollen darüber hinaus selbst denken, handeln und urteilen lernen, ferner: fremde Sprachen lernen und andere Kulturen verstehen und sich in einer naturwissenschaftlich-technischen Welt zurechtfinden. Kurz: Sie sollen souveräne Persönlichkeiten werden.
" Die Schulen von heute haben eine kognitive Schlagseite: Sie vermitteln Wissensstoff und vernachlässigen die Praxis des sozialen Umgangs. "
Auch die europäischen Universitäten stecken, so Nida-Rümelin, in einer Krise, einer normativen und einer strukturellen: Geradezu desolat sei ihr Zustand unter Berücksichtigung der hohen Studienabbrecherquoten, unzureichender Literaturausstattung in den Fachbibliotheken, schlechter Betreuungsrelationen der Studenten und der Marginalisierung der Forschung.
Weniger abstrakt und sehr praktisch geht Kurt Schreiner in seinem Taschenbuch "Schulerfolg - Was Eltern tun können" vor. Schulerfolg sei etwas Gemeinsames, lautet seine Devise. Er gelinge Kindern, wenn sie mit Eltern und Lehrern gut zusammenarbeiten. Für den Oberstudiendirektor und langjährigen Leiter eines großen Gymnasiums steht das "magische Dreieck", Schüler, Eltern, Lehrer gleichermaßen in der Verantwortung. Letztere verfolgen das gemeinsame Ziel: junge Menschen für das Leben in der Gesellschaft mit Erziehung und Bildung auszustatten. Mit seinem alles andere als kritiklosen Ratgeber - kritisch auch gegenüber den eigenen Lehrerkollegen - will der Autor Eltern zur Seite stehen und zeigen, wie man Probleme lösen kann. Denn zum Schulerfolg könnten Eltern sehr viel selbst beitragen: durch eigenes Vorbild und positive Grundeinstellung. Nichts Spektakuläres, gewiss, doch ist dies letztlich auch "Ausdruck elterlicher Zuneigung und Liebe". Diese wohlwollenden Bemühungen, so Schreiner, sollten indes ergänzt werden durch eine...
"...konsequente, pädagogisch fundierte, von Verständnis und Hilfsbereitschaft getragene Begleitung. "
Was Eltern tun können (gemeint ist: sollen) ist vor allem erziehen - und Kindern das Lernen beibringen. Der Autor ist folglich ein Vertreter der institutionellen und kulturellen Trennung von Bildung (in der Schule) und Erziehung (in der Familie) - der bürgerlichen Bildungs- und Lebensideale. Dass ein Drittel der Eltern dieser Aufgabe nicht nachkommt, weil es sich um Berufstätige oder Alleinerzieher handelt, sieht Schneider zwar. Seiner Meinung nach haben Lehrer jedoch wegen des meist gedrängten Unterrichtsprogramms oft keine Zeit für eine sozial ausgleichende Erziehung - jedenfalls nicht im traditionellen deutschen Schulsystem. Doch das schmälert nicht die Berechtigung und den Wert von Schreiners Ratschlag. Eines können Eltern immer: Helfen und ermutigen. Sie können dafür Sorge tragen, dass die Hausaufgaben gemacht werden und klärend eingreifen, wenn es Missverständnisse beim Lernprozess gibt oder Konflikte mit Lehrern auftreten. Auch das körperliche Wohlbefinden der Kinder ist wichtig: genügend Schlaf, gesunde Ernährung, viel Bewegung und begrenzte Computer- und Fernseh-Zeiten.
Mit den strukturellen Folgen der Pisa-Debatte befasst sich der Bildungs-Journalist Armin Himmelrath in seinem Taschenbuch mit dem provozierenden Titel: "Abschied vom Gymnasium?" Eingangs zitiert der Autor Andreas Schleicher, den Koordinator der internationalen Schulvergleichsstudien PISA mit den Worten:
" Kein erfolgreiches Wirtschaftsunternehmen geht so fahrlässig und ineffizient mit den Wissens-Ressourcen seiner Mitarbeiter um wie das Schulsystem in Deutschland mit seinen Lehrern. "
Und Himmelrath ergänzt:
" Kaum ein Land macht sich aber auch so wenig strategische Gedanken darüber, was seine Absolventen eigentlich mitnehmen sollen nach der Schulzeit - und vor allem, welches Wissen nicht nur beim ersten Einstellungsgespräch oder in einem Studium nötig ist, sondern welche Bildungsziele in 20, 30 und 40 Jahren erreicht werden sollen. Es fehlt die Perspektive. "
Das ist zugleich die nüchterne Bilanz, die der Autor, Vater von drei schulpflichtigen Kindern, zieht. Die PISA-Studien und weitere Vergleichsuntersuchungen hätten in den Bundesländern lediglich einen schulpolitischen Aktionismus ausgelöst, der zwar Reformbereitschaft signalisiere, aber in Wirklichkeit "konfus" sei, so der Autor. Nur an der Oberfläche werde repariert; gravierende Defizite hingegen würden nicht behoben. Hinzu kommen Besitzstände und Gewohnheiten, die auf allen Ebenen des "Systems Schule" bis zur Verwaltung verteidigt werden. Man denke nur an den internationalen Sonderfall "Beamtenstatus der Lehrer" oder an die Halbtagsschule, die von der klassischen Familienstruktur ausgeht mit nicht-erwerbstätiger Mutter und allein-verdienendem Vater. Diese traditionelle Rollenverteilung im bürgerlichen Lebensstil stellt zwar immer noch die Mehrheit aller Haushalte mit Kindern, aber es gibt auch immer mehr berufstätige Eltern, Allein-Erzieher und Patchwork-Familien.
Dass Deutschland einmal, im frühen 19. Jahrhundert, eine Vorreiterrolle in Sachen Bildung und Schule gespielt hat, kann man sich heute kaum noch vorstellen. Chronologisch schildert Himmelrath daher im Kapitel "Wie wir so schlecht wurden, wie wir sind", Reformansätze, Rückschritte und Zäsuren. Als einer der wichtigsten Schulreformer gilt nach wie vor Wilhelm von Humboldt, der weitreichende Reformen in Preußen einleitete. Doch schon vor Ende des (19.) Jahrhunderts war die Blütezeit vorbei: Ganztagsschulen wurden in Vormittagsschulen umgewandelt, und Schule wurde nicht mehr von den Lernbedürfnissen der Kinder, sondern von äußeren Faktoren bestimmt. Gleichzeitig begann die Ausdifferenzierung der weiterführenden Schulen, das dreigliedrige Schulsystem setzte sich durch. Reform-Impulse gab es dann noch einmal in der Weimarer Republik mit Reformschulen und verschiedenen Konzepten wie der "Einheitsschule". Diese positive Entwicklung wurde jedoch abrupt durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten gestoppt.
Himmelrath weist immer wieder auf die Abhängigkeit des deutschen Schulsystems von den jeweiligen politischen Rahmenbedingungen hin. So galt z.B. in der Weimarer Zeit die Einheitsschule unter etablierten Bildungspolitikern als die "linke" Reformschule. Nach dem 2. Weltkrieg ging das geteilte Deutschland getrennte Wege: Im Westen begann die doppelte Abgrenzung des westlichen Schulsystems, einerseits gegen den didaktischen Missbrauch in der NS-Zeit, andererseits gegen das Einheits-System der DDR; so entstand der Jahrzehnte andauernde "Tunnelblick in der Bildungspolitik" der alten Bundesrepublik.
Schulpolitisch hoch her ging es in den 70er Jahren, in der "Zeit der Chancen, wie des Scheiterns", wie Himmelrath das entsprechende Kapitel überschreibt. Damals sprang die Gesamtschul-Diskussion vom sozialdemokratisch geführten Nordrhein-Westfalen auf die anderen Länder über.
Die nun durch die Föderalismus-Reform der Großen Koalition drohende bildungspolitische Kleinstaaterei nimmt der Autor im Kapitel "Kirchturm-Politik" besonders aufs Korn: Zwar hätten sich Verantwortliche in allen Bundesländern stark gemacht für "gute Schulleistungen" und das "Wohl des Kindes", doch das sture Beharren auf föderalen Bildungs-Eigenständigkeiten lasse starke Zweifel aufkommen - Zweifel daran, ob es nur um die "bestmöglichen Schulen geht". PISA-Siegerländer wie Finnland und die Niederlande haben bekanntermaßen Bildungssysteme mit stärker zentralen Strukturen. In Deutschland hingegen wird der bildungspolitische Partikularismus - auch in der Lehrerausbildung - sogar als föderaler Wettbewerb verkauft; "Deutschland als gemeinsame Bildungsnation", so Himmelrath, gerät nicht in den Blick.
Das deutsche Bildungssystem hat also ein strukturelles Problem: Bildung ist von den wechselnden politischen Mehrheiten in den Ländern abhängig - und vom Schul-Absolutismus der jeweiligen Landesregierung. Nur äußere Zwänge, so der Autor, können zu einem radikalen Umbau der Schullandschaft führen. Einen davon sieht er in der demographischen Entwicklung Deutschlands. Immer weniger nachrückende Kinder werden die Bundesländer über kurz oder lang zum Handeln zwingen: entweder werden Schulen geschlossen und Schülern z.T. längere Wege zugemutet - oder bisher getrennt unterrichtende Schulformen werden zusammengelegt.
Julian Nida-Rümelin: Humanismus als Leitkultur
Ein Perspektivenwechsel
C. H. Beck Verlag, München, 2006
224 S., € 22,90
Kurt Schreiner: Schulerfolg
Was Eltern tun können
Herder Verlag, Freiburg, 2006
159 Seiten, € 8,90
Armin Himmelrath: Abschied vom Gymnasium?
Zur Zukunft unseres Schulsystems
Herder, Freiburg, 2005
157 Seiten, € 8,90