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Bücher zur PISA-Problematik

Die alten Griechen wussten es, die Römer und auch die Amerikaner: Eine Investition in Wissen bringt immer noch die besten Zinsen, meinte zum Beispiel Benjamin Franklin.

Uschi Geiling |
    Aber die Amerikaner wissen heute noch mehr. Es geht nicht nur um Wissen und Wissensvermittlung, es geht um das, was der Nobelpreisträger für Wirtschaft, Gary Becker, das Humankapital nennt. Das sind die Fähigkeiten, zu lernen, Gefühle einzuordnen, mit anderen Menschen umzugehen, also Teamfähigkeit und soziales Verhalten - mit einem Wort: Daseins- oder Alltagskompetenzen. Die werden zuerst in der Familie erworben, weshalb Gary Becker auch sagt: "Das grundlegende Humanvermögen wird in der Familie erzeugt. Die Schule kann die Familie nicht ersetzen."

    In der Diskussion nach PISA spielen diese Erkenntnisse insofern eine immer bedeutsamer werdende Rolle, als die Hirnforschung diese Erkenntnisse Beckers und anderer bestätigt und daraus Rückschlüsse für das Lernverhalten und für die Lernmethoden gezogen werden, jedenfalls in der bildungspolitischen Literatur. In der Bildungspolitik selber wartet man noch gespannt auf die Umsetzung der Erkenntnisse. Praxis zwischen alter und neuer Therorie - unter diesen Titel könnte man die Bücher stellen, die wir Ihnen zum Thema PISA vorstellen.

    In der Tat: Einige Praktiker haben schon begonnen, neuere Erkenntnisse der Hirnforschung und der Pädagogik in ihrem Unterricht umzusetzen, andere Experten ergehen sich noch in Systemkritik und Systemerneuerung. Aus der nahezu unübersichtlich gewordenen Literatur zum Thema ‚Die schiefe Ebene unter dem deutschen Bildungsturm’ haben wir vier Werke herausgegriffen. Uschi Geiling hat sie für uns gelesen:

    Eine internationale Studie nach der anderen belegt die Schwächen des deutschen Schulsystems. Nach dem PISA-Desaster erhielt Deutschland auch im OECD-Bericht "Bildung auf einen Blick" wieder miese Noten. Mit Reformen tun sich die Kultusminister der Länder schwer. Der Schweizer Psychologe Allan Guggenbühl hebt mit seinem Buch Die PISA-Falle warnend den Finger. Es geht dem Autor nicht darum, den Wert von Leistungen in der Schule in Frage zu stellen. Wenn man sich nur auf den Leistungsaspekt konzentriere, vergesse man, so Guggenbühl, dass Leistungen nur ein Aspekt des Gesamtgeschehens in einer Schule sind. Man wisse zum Beispiel, dass Kinder und Jugendliche viel eher zu Leistungen bereit sind, wenn sie sich in der Klasse wohl fühlen, wenn sie sich mit der Klasse identifizieren und das Gefühl haben, dass sie etwas gemeinsam, als Gruppe, machen.

    Um die Bedeutung der Schule für Kinder und Jugendliche zu erfassen, müssten auch die subjektiven Wirklichkeiten der Kinder berücksichtigt werden. So können Kinder Schule als ‚Familie’, als ‚Gefängnis’ oder als permanente ‚Party’ wahrnehmen. Der Lehrer kann, je nachdem, in welcher Rolle er sich sieht, unterschiedlich auf die Klassenrealität reagieren. Wenn er sich in der Rolle des Lernspezialisten sieht, der Wert auf Inhalt, Lernstoff und Leistung legt, dann blendet er einen Teil der Schulwirklichkeit aus. Unterrichtserfolg könne nie durch unpersönliche, externe Bewertungen allein erfasst werden; nötig, so Guggenbühl, sei immer auch die individuelle, vertiefte Auseinandersetzung des Lehrers mit den Schülern:

    Schulklassen fühlen ihrer Lehrperson rasch auf den Zahn und merken, ob sie es gut mit ihnen meint, sie fördern will oder ob es sich um einen ‚Frusthaufen’ handelt. Kommuniziert wird unbewusst und über spezielle Codes. Schlägt die Lehrerin die Türe ein bisschen fester zu als üblich, dann ist dies ein Indiz für ihre üble Laune, oder wenn der Lehrer seine Mappe nicht sogleich öffnet, dann ist er bereit für eine Plauderei. (...) Da Schulklassen mit ihren Lehrpersonen psychologisch verbunden sind, sind offizielle Rede und manifeste Handlungen oft zweitrangig. Schüler und Lehrpersonen nehmen sich gegenseitig wahr und spekulieren, was beim anderen abläuft, ohne dass Worte ausgetauscht werden.

    Nach Guggenbühl sehnen sich Schüler und Schülerinnen nach Lehrern, die neben ihrem Fachwissen auch charakterlich überzeugen. Deshalb hält der Autor, der auch Dozent an einer Pädagogischen Hochschule ist, die Frage der Persönlichkeit, der speziellen Eignung für ein entscheidendes Kriterium für die Berufswahl und die Lehrerausbildung.

    Über Pisa hinaus geht es Guggenbühl darum aufzuzeigen, wie komplex das System Schule ist. Kinder und Jugendliche befinden sich in einer besonderen Übergangssituation: sie durchlaufen wesentliche entwicklungspsychologische Phasen und machen Reifungsprozesse durch. Das bedeutet, dass Schule auch eine pädagogische Institution ist, in der sich zu erziehende Kinder und Jugendliche befinden.

    Die Idealschule sei daher nicht der einwandfrei funktionierende Betrieb, sondern eine Institution, in der es brodelt und kracht, weil sich die Generationen wirklich mit- und auseinandersetzen:

    Die Schüler und Schülerinnen wollen sich nicht nur den Wünschen und Erwartungen der Lehrpersonen fügen, sondern sie suchen die Konfrontation, damit sie als eigenständige Menschen auf der Bühne des Leben auftreten können und ihre genuinen Interessen entdecken.

    Mehr auf die Bedürfnisse und Wünsche der Kinder einzugehen fordert auch die Grund-schullehrerin Heide Marie Voigt. In ihrem Buch "Die verkopfte Schule" plädiert sie für ein ganzheitliches Denken, ein Lernen mit Haut und Haaren - und nicht nur mit dem Kopf. Denn immer noch bedeutet Schule primär: das Trainieren des Gehirns. Und das heißt an deutschen Schulen zumal Stillsitzen:

    Alles, was das Kind bewegen darf, ist die Schreibhand und der Zeigefinger. Der Körper wird lahmgelegt, in der Halswirbelsäule abgeknickt - und zwar an genau derselben Stelle, wo dem Ochsen ein Joch aufgelegt wird, um ihn zu bändigen und seine Kraft nutz- bar zu machen. Das Kopfgehirn wird - vorsichtig, aber nachhaltig - vom Körper isoliert. (...) Der Knick in der Wirbelsäule verhindert, dass das Gehirn in der Wirbelsäule durch Bewegung gereizt und erwärmt wird. Das Mittelhirn empfängt die aus dem Körper aufsteigenden Signale nur noch reduziert und teilt dem Großhirn und seinen Vernetzungen Resignation und Ohnmacht mit.

    Aufgrund neuerer Forschungsergebnisse über den Ablauf des Lernens im Gehirn wissen wir aber, so die Autorin, dass Lernen ein von Emotionen begleiteter Vorgang und - je nach der Lernsituation - mit Interesse oder Abneigung unlösbar verknüpft ist. So gesehen greift Schule in jedem Fall in den Prozess von Denken und Fühlen ein, und zwar in der entscheidenden Phase des Heranwachsens. Heide Marie Voigt lehnt es keinesfalls ab, von Kindern Leistung einzufordern. Im Gegenteil: Sie hält Lernen für eine großartige Möglichkeit unseres Lebens und betont, dass Kinder gerne lernen. Aber nur das ausgeruhte Gehirn sei aufnahmefähig für Wissen, das handlungsfähig macht:

    Ich behaupte, dass wir - im Schulzeitalter der westlichen Kultur - mit reduzierter Körperwahrnehmung und reduziertem Körperbewusstsein leben und dass es uns daher ein Hauptanliegen sein sollte, gerade an der Schule diese Fühlfähigkeit wieder zu einem zentralen Thema zu machen.

    Anders als Heide Marie Voigt beschäftigt sich der Pädagogik- und Didaktik-Professor Ewald Terhart vor allem mit der Bildungsqualität. In seinem Taschenbuch Nach Pisa - Bildungsqualität entwickeln geht es darum, die Grundlagen für eine Verbesserung der Schul- und Bildungsverhältnisse zu erarbeiten. Deshalb bietet er reichlich Informationen an, auch zum Stand der Diskussion nach PISA, um eine realistische Problembeschreibung und eine sachliche Argumentation zu ermöglichen. Gleichzeitig spart er nicht mit Kritik.

    Im laufenden Ursachendiskurs nach PISA beobachtet er, dass sich die Experten das herauspicken, was ihnen passt. Außerdem, so Terhart, werde oft der Unterschied zwischen Bildungsforschung, Bildungspolitik und Pädagogik übersehen. Dieses System hat es nicht nur mit Lobbys zu tun, es sei sehr personalintensiv und wirke darüber hinaus durch Menschen auf Menschen. Die wiederum seien durch noch so vernünftige Neuerungen in ihrem personalen Tun nicht so leicht zu regulieren. So wünschenswert nach PISA ein hartes Durchgreifen im reformbedürftigen Schulwesen auch sei, die Steuerungsmöglichkeiten seien begrenzt.

    Trotz dieser ernüchternden Feststellung nehmen Terharts Ausführungen, wie die Qualität von Schulen - und speziell des Unterrichts - verbessert werden könnten, breiten Raum ein. In den Blick nimmt der Autor vor allem das Lehrpersonal, den Unterricht selbst, das Kollegium, die Schulleitung und Schulaufsicht. Für Schulqualität seien Unterrichtsqualität und Unterrichtsentwicklung letztlich entscheidende Faktoren. Was das Kollegium betrifft, so wird in der Fachliteratur die Zusammenarbeit als zentraler Ausweis für Schulqualität bezeichnet. Terhart weist daraufhin, dass diese Qualitätsdimension aufgrund der individualistischen Berufskultur der Lehrer besonders schwer zu erreichen sei. Jedoch müssten sich die Lehrenden daran gewöhnen, Rückmeldungen - Lernergebnisse ihrer Schüler, Einschätzung durch Schüler, Eltern usw. - über die Ergebnisse ihrer Arbeit zu bekommen. Terhart geht in seinen Forderungen sogar noch weiter:

    Es muß versucht werden, eine solche schulintern und -extern initiierte Rückmeldekultur mit Blick auf die Stärken und Schwächen einzelner Lehrer aufzubauen. Ein Bewusstsein muss allmählich dafür entstehen, dass man für die Wirkungen seines Handelns auf Unterrichts- und Schulebene verantwortlich ist.

    Zu dem vorliegenden Band hat Linda Reisch unter der Überschrift "Deutschland ist kein Bildungsland mehr" das Vorwort verfaßt. Sie weist darauf hin, dass das Bildungsproblem in Deutschland nicht auf die Schule beschränkt ist, sondern schon bei der frühkindlichen Erziehung beginnt. Deshalb fordert sie, den Schwerpunkt der Bildungspolitik auf die frühkindliche Erziehung und die Grundschule zu legen - also auf bislang deutlich vernachlässigte Bereiche.

    Auch das Spiegel-Buch Die Bildungsoffensive - Was sich an Schulen und Universitäten ändern muß kommt zu einem ähnlichen Befund. Nicht allein die Schule habe versagt; in Deutschland würden schon im Kindergarten die Weichen falsch gestellt. Über den Wissensdurst der Kleinen urteilt eine der Autorinnen, die Bildungsforscherin Donata Elschenbroich:

    Kinder wollen von sich aus viel wissen. Die neuere Hirnforschung zeigt, dass schon Kleinkinder sehr gern lernen und unablässig nach Anlässen suchen, ihre Erfahrungen zu erweitern. Kindern zu unterstellen, sie hätten es gern anspruchslos - dieses Bild von einer glücklichen Kindheit ist überholt.

    Um Vorschulkindern dieses Lernen zu ermöglichen, müsste die deutsche Erzieherausbildung allerdings auf internationales Niveau angehoben werden. Bezeichnenderweise gibt es in allen europäischen Ländern - außer in Deutschland und Österreich - seit langem nur noch Vorschulerzieher mit Hochschulabschluss. Auch bei der Einstellung der Eltern müsse sich etwas ändern: Der Irrglaube, Lernen zerstöre die Kindheit - eine zutiefst bildungsfeindliche Haltung - wabere leider immer noch herum und trägt dazu bei, dass etwa sieben Prozent der eigentlich schulpflichtigen Kinder um ein Jahr zurückgestellt und damit zu spät eingeschult werden.

    Die einzelnen Beiträge nehmen das gesamte Bildungssystem vom Kindergarten bis zur Massenuniversität unter die Lupe. Sie beschreiben den neuesten Stand der Forschung ebenso wie Initiativen, Modelle und Projekte, die Wege in eine bessere Bildungszukunft aufzeigen.

    So plädiert der Hirnforscher Henning Scheich zum Beispiel für klare Strukturen und Regeln im Unterricht - denn: "Nur dann bildet das kindliche Gehirn eine Messlatte für eigene Leistung." In einem anderen Beitrag wird auf die moderne Gedächtnisforschung eingegangen; dabei geht es um die Frage: Wie funktioniert eigentlich das Lernen? Tröstlich - und hilfreich für alle Betroffenen: die Menschen begreifen das am schnellsten, was sie mögen. Und das liegt nicht am guten Willen, sondern an biochemischen Prozessen, die im Gehirn ablaufen. Hirnforscher fordern deshalb auch, dass Lehrer mehr über die Funktionsweise des Gehirns wissen müssten. Jeder Lernvorgang gehe mit einer Veränderung des Gehirns einher. Deshalb könne derjenige besser lehren, der verstehe, wann es und warum es zu solchen Veränderung kommt. Gerhard Roth, Neurowissenschaftler an der Universität Bremen, sagt:

    Viele Pädagogen hingegen meinen noch immer, es reiche, den Schülern einfach dreimal dasselbe zu erzählen. Wichtig ist vielmehr, dass die Lerninhalte vielfältig präsentiert werden.

    Da Denken energieintensiv ist, fragt sich das Gehirn bei jedem Lernakt unbewusst: Lohnt sich das überhaupt? Deshalb müssen die neuronalen Schaltkreise im Schülerhirn immer aufs Neue davon überzeugt werden, dass sich Lernen lohnt.

    In die Kosten-Nutzen-Analyse fließen dabei vor allem die zuvor gemachten Erfahrungen ein: Erinnert eine neue Information an etwas Interessantes, werden die Botenstoffe Dopamin und Acetylcholin vermehrt ausgeschüttet und verstärken die Aufmerksamkeit und machen Lust auf mehr. Das Gehirn will sich verführen lassen - und das gelingt am besten, wenn man an das anknüpft, was es schon weiß.

    Lernen, so die Hirnwissenschaftler, ist besonders bei Sprachen ein ‚sich selbst fördernder’ Prozess. Je mehr Französisch zum Beispiel ein Schüler bereits kann, desto schneller wird er lernen. Pauken hingegen nützt nichts; Gelerntes muss möglichst vielfältig im Kopf vernetzt werden.

    Allan Guggenbühl: Die Pisa-Falle. Schulen sind keine Lernfabriken, Herder in Freiburg, Basel, Wien. 187 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 3-451-27739-5.

    Heide Marie Voigt: Die verkopfte Schule. Kleine Schritte zu einer anderen Schule. Klett-Cotta, Stuttgart. 160 Seiten, 17 Euro, ISBN 3-608-94360-9.

    Ewald Terhart: Nach Pisa - Bildungsqualität entwickeln. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg. 147 Seiten, 14 Euro, ISBN 3-434-50540-7.

    Martin Doerry und Joachim Mohr: Die Bildungsoffensive - Was sich an Schulen und Universitäten ändern muß. Deutsche Verlagsanstalt, München. 330 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 3-421-05687-0.