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Bühnenspiel mit Schmuddelkindern

Vor gut zehn Jahren dealte DBC Pierre mit Autos und musste sich als Scheckbetrüger vor Gericht verantworten, war drogen- und spielsüchtig. Schließlich machte er eine Therapie und aus "Dirty Pierre” wurde "Dirty but clean" Pierre. Dafür steht denn auch das Kürzel DBC. DBC Pierre begann ein Buch zu schreiben, den Roman "Vernon Good Little". Die Satire, die in Deutschland "Jesus von Texas" heißt, handelt von einem Jugendlichen, der unschuldig für ein Massaker an einer Highschool verantwortlich gemacht wird.

Von Christiane Enkeler |
    Man hätte es fast nicht mehr geglaubt, aber dann gibt es doch noch Momente in der Schlosserei, in denen dem Premierenpublikum von "Jesus von Texas" das Lachen vergeht. Im Rückblick zum 20. Mai, an dem Jesus 16 Klassenkameraden und sich selbst erschossen hat, wird in der Kölner Inszenierung die Atmosphäre immer aufgeladener mit der streitsüchtigen Spannung von pubertierenden Teenagern, die sich über jemanden amüsieren wollen: Jesus holt in dem Moment sein Gewehr, als sämtliche Bildschirmschoner im Klassenraum aktiviert werden, auf denen Jesus nackt über "eine Art Krankenhauspritsche gebeugt" zu sehen ist. Während ein Schüler nach dem anderen stirbt, steht Jesus in Machtpose auf der Empore im Lichtspot, sein Freund Vernon, Hauptfigur des Romans von DBC Pierre, kommt zu spät.

    Es gibt in dieser jungen Inszenierung keine erwachsen-offen-filmgewohnten Gewalt- oder Sex-Szenen, alles funktioniert über das Spiel, und das ist ganz erholsam so und auf gesunde Art gleichzeitig fordernd. Viel müssen wir uns vorstellen: Wie Jesus seine Mitschüler erschießt, dabei hält er nämlich kein Gewehr in der Hand, wie die Bildschirmschoner angehen, auf der Bühne gibt es keinen Bildschirm, die TV-Sendungen werden durch Ton, Mikro und eben Spiel angedeutet, obwohl der Roman auch Mediensatire ist, wie Taylor, die Vernon so sehr vergöttert und auf seiner Flucht mitnehmen will, ihn ins Bett holt und, um in den Medien Karriere zu machen, ihm im Augenblick der höchsten Erregung das falsche Geständnis abluchst, an den Morden beteiligt gewesen zu sein – das machen Janning Kahnert und Claude de Demo über überschäumendes Bier und ekstatische Gesichter, und das ist wirklich witzig.

    Die Gewalt, die inszeniert wird, hat mehr mit Verletzlichkeit, Scham und Erniedrigung zu tun. "Jesus von Texas", der Roman, ist Vernons innerer Monolog, in diesem leicht frustrierten, leicht zu begeisternden, sich in sexuellen und Film-Phantasien verlierenden und um seine Mutter besorgten Ton, in dem eine typische Teenager-Genervtheit mitschwingt. Die Bearbeitung rettet diesen Ton fürs Theater, indem sie zwei Schauspieler für die Rolle einsetzt: Lukas Holzhausen kommentiert die Geschehnisse, die Janning Kahnert über sich ergehen lassen muss. Vern zeigt seine Sicht der Bevölkerung der Kleinstadt Martirio, gespielt von einem Ensemble, das von einer comichaften Figur in die nächste schlüpft, noch comic-hafter als im Roman – und das mit sehr viel Spaß.

    Das Ganze spielt auf einer Turnhallenfläche, das Publikum sitzt wie auf Tribünen auf drei Seiten darum herum. Die Säulen, die in der Schlosserei sonst schon mal die Sicht behindern, stehen hier nicht im Weg: Um eine herum ist eine Kletterwand gebaut, die später im Gericht für beide Vernons als Käfig dient, der Sprungkasten ist auch das Versteck für Vernons Gewehr, also Jesus’ und Verns Bude weit außerhalb der Stadt, außerdem ist sie eine Art Küchenzeile für Verns Mom, das Pferd dient bei der Gutachtenuntersuchung des Psychiaters als Liege, über die sich auch Vern zu beugen hat, während er "untersucht" wird, und alle tragen schwarze Trainingsanzüge mit Kapuzen, die für die verschiedenen Rollen mit Bällen ausgestopft oder durch Röcke ergänzt werden und als Uniformen dienen – und wie nebenher stellt sich durch dieses Spiel ein adäquates Abbild von Verns Innenwelt her und gleichzeitig die Enge dieser Kleinstadt.

    In Buch und Stück rast die Handlung dahin. Ein bremsender Moment von Nähe zwischen Vern und seiner Mutter wird hier fast so überdreht gespielt wie alle anderen Szenen zuvor, und wenn man das Buch kennt, findet man das vielleicht schade und fragt sich, wann denn die Tragödie hinter der Komödie noch dargestellt wird – aber die Sorge ist unbegründet: Erstens ist Verns Mutter, zusammen mit ihren "Freundinnen", sich der durchaus verschiedenen Tragödien selbst gar nicht bewusst – ihre Sorgen drehen sich oberflächlich um den neuen Kühlschrank und Lally, den betrügerischen Reporter, in den sie glaubt, verliebt zu sein, obwohl der später gegen Vern aussagt.

    Zweitens leitet der Rückblick zu Jesus’ Morden den letzten Akt ein, in dem Vern 1 sehr verlassen neben dem bereitgelegten Kreuz hockt. Schließlich wird Vern für die Hinrichtung abgeholt: Er zieht sich aus bis auf die peinliche Unterhose, alles noch recht gleichgültig, er soll sich auf das Kreuz legen, er scheut, als zwei Wärter mit Kapuzen aus dem Dunkel der Treppe mit ihrer Anwesenheit drohen, und als zwei weitere Wärter von der anderen Seite dazukommen, um ihn aufs Kreuz zu schnallen, kommt es zu einem quälend langen Kampf.

    Es geht übrigens gut aus, aber das ist noch mal so eine Wendung für sich, das sollte man besser nicht erzählt bekommen. Die rund zwei Stunden ohne Pause in der Kölner Schlosserei vergehen jedenfalls sehr schnell und spannend.