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Bürger und Bohème. Kunstkriege des 19. Jahrhunderts

"Jüdisch geworden sind wir am 30. Januar 1933", sagt Historiker Peter Gay heute. Als Kind hat er die Machtergreifung Hitlers in Berlin erlebt. Erst seit diesem Datum hat es wirklich eine Rolle gespielt, daß seine Vorfahren jüdisch gewesen waren.

Thomas Kleinspehn | 19.11.1999
    "Wir waren konfessionslos, was nicht jüdisch erst einmal bedeutet hat, weil viele Sozialisten nicht jüdisch waren, um die Religion erst einmal so stark abzulegen, wie sie konnten... dann sind wir als Juden erklärt worden und dann waren wir halt Juden... Das klingt eigenartig, aber ich bestehe doch darauf, denn das war so, denn es war eine ziemliche Überraschung."

    Diese Überraschung, die er mit vielen anderen deutschen Juden teilte; diese aufgezwungene Religiosität steht im Mittelpunkt eines Buches, in dem der bekannte nordamerikanische Kulturhistoriker seine Jugendjahre im Berlin der dreißiger Jahre beschreibt: "Meine deutsche Frage". Anschaulich, voller Selbstironie und mit an der Psychoanalyse geschulten liebevollen Distanz erzählt der als Peter Fröhlich geborene Wissenschaftler von seinen frühen Jahren, die ihn prägten und die ihn zunächst unfreiwillig zu dem machten, was er später wurde: ein Sammler von historischen Daten, Bilder und Texte und ein verständsvoller Interpret dieses Materials. Denn auch wenn es sich Peter Gay nicht immer eingestehen mag, so bestimmt doch die aufgezwungene Frage, "was ist jüdisch?", sein Leben. Sie fordert ihn zu einem eigenen Standpunkt heraus und prägt seinen Blick auf die Geschichte. Doch in anderer Weise als bei vielen jüdischen Wissenschaftlern, die ein ähnliches Schicksal erlitten. Peter Gay sucht nicht nach seinen jüdischen Wurzeln. Vielmehr bemüht er sich, immer wieder Beweise zu erbringen, daß das Jüdische für ihn nicht wichtig ist - in seiner Biographie und in seinen wissenschaftlichen Büchern. So hat man in seinem gesamten Werk den Eindruck, er wehre sich durchgehend gegen die Stigmatisierung durch die Nazis. Dort wo andere nach Zusammenhängen zwischen dem konservativen Bürgertum des 19. Jahrhunderts und dem Nationalsozialismus fragen, sucht Peter Gay nach den avantgardistischen Tendenzen eben dieses Bürgertums. Dort wo andere in ihrer Biographie nach dem suchen, was sie als jüdisches Erbe begreifen können, sucht der amerikanische Historiker nach Aspekten, die ihn mit anderen nicht-jüdischen Menschen verbindet. Das macht besonders seine Schilderung der Jugendjahre in Berlin deutlich, die er selbst als Zufallsprodukt ansieht und nicht als Versuch der Selbsterforschung:

    "Ich habe einmal, das ist vielleicht fünf, sechs Jahre her, daß ich einmal einen kleinen Vortrag gehalten habe, ohne Notizen. Ein Kollege aus Yale hat mich eingeladen, einmal über diese Jahre in Nazideutschland zu sprechen, ein Thema, das ich sehr selten beschrieben habe. Auf jeden Fall hat er mich eingeladen und da habe ich gesagt das mache ich, ohne Verpflichtungen."

    Aus diesem Vortrag entstand das Manuskript für das Buch "Meine deutsche Frage". Es ist die spannende Geschichte eines Jungen im Berlin der dreißiger Jahre, der sich als Fan von Hertha BSC für Fußball und andere Sportarten interessiert, der mit seinem Vater Briefmarken sammelt und Probleme in der Schule und mit seiner erwachenden Sexualität hat wie andere Jugendliche auch. Die Familie versucht trotz wachsendem Antisemitismus ein normales Leben zu führen und doch ist stets etwas Bedrohliches im Raum, das sich zunächst nicht erklären läßt. Peter Gay läßt den Leser teilnehmen an dieser Suche, an dem langsamen Prozeß des Begreifens. Erst allmählich nimmt die Familie wahr, daß es im NS-Staat nicht nur gefährlich ist jüdisch zu sein, sondern daß auch Juden, die sich gar nicht religiös verstehen, bedroht sind. Nach langen Mühen und vielen vergeblichen Versuchen gelingt es dem Vater schließlich, für die Familie im Frühjahr 1939 die Ausreise nach Cuba zu erreichen. So gelangen sie in allerletzter Minute in die rettende Freiheit. Schon das nächste Schiff mit jüdischen Emigranten lassen die kubanischen Behörden nicht mehr in den Hafen von Havanna. Peter Gay erzählt seine Geschichte, die in Amerika endet, mit vielen Vor- und Rückgriffen. Eingeflochten sind auch seine ersten Eindrücke und feindseligen Gefühle gegenüber dem Deutschland der Nachkriegszeit, seine allmähliche Wieder-Annäherung an seine Geburtsstadt Berlin. Im Mittelpunkt steht aber die Geschichte des Jungen, der sich vor der äußeren Bedrohung in eine Welt des Sports und vor allem der Bücher flüchtet. In ihnen sucht er Antworten auf seine drängenden Fragen. Oft scheint es, als könne man den unermüdlichen Sammler und Forscher von heute schon in der elterlichen Bibliothek oder in der Leihbücherei in Berlin-Wilmersdorf erkennen. Hier, bei den Klassikern des 18. und 19. Jahrhunderts formt sich sein Bild von der bürgerlichen europäischen Kultur, die er dann als Wissenschaftler zunächst in der Kulturgeschichte des klassischen Zeitalters bearbeitet und schließlich in seinem bekanntestem Werk, der fünf-bändigen Kulturgeschichte des 19. Jahrhundert. Sie behandelt ausführlich Themen wie Liebe, Sexualität, Intimität und Gewalt und ist jetzt mit dem letzten Band über den Geschmack abgeschlossen.

    "Ich habe angefangen über das Bürgertum überhaupt erst nachzudenken, nachdem ich zwanzig Jahre über die Aufklärung gearbeitet habe und beinahe mit Absicht gesagt habe, ich muß was anderes machen... und dann habe ich ein ganzes Jahr in England verbracht, in Cambridge und gelesen und gelesen und dann gedacht, das Bürgertum wäre etwas interessantes. Warum? Weil das Bürgertum ziemlich, nicht vollkommen, von Historikern vernachlässigt worden ist. Was haben meine Kollegen gemacht, unter ihnen auch viele gute Freunde? Sie haben geschrieben über Streiks, Revolutionen, über die Arbeiterklasse, die ungebildeten Schichten usw. Was mir dann aufgefallen ist, als ich mir so das Material angeguckt habe, die Bücher, die im allgemeinen veröffentlicht worden sind: das war so eine Modesache geworden."

    Doch auch die wenigen vorhandenen historischen Studien zum Bürgertum waren überwiegend kritische Studien, die sich mit den Schattenseiten dieser Klasse, ihrer konservativen und schwerfälligen Haltung befassen. Peter Gay dagegen sucht das Bürgertum zu retten, seine gewiß auch vorhandene "andere" Seite zu betonen. Im abschließenden Band zum Geschmack wird dies besonders deutlich:

    "Was ich wirklich für mich entdeckt habe, war: man kann nicht gut verallgemeinern, was für einen Geschmack das Bürgertum hatte. Wenn man versucht zu sagen - ich spreche jetzt von Deutschland - was das Kleinbürgertum gern hatte, dann kann man sich ja die "Gartenlaube" angucken und die Stiche, die in jeder Nummer sind. Das ist so sentimentales Zeug. Aber diese Verallgemeinerungen... laufen dann nicht ganz richtig weiter. Denn es gab ja auch Bürger, denen es besser ging, die ökonomisch gut situiert waren, die auch andere Sachen gern hatten, z.B. die Renaissance oder die deutsche Malerei im 19. Jahrhundert, wie Friedrich z.B., der beinahe entdeckt worden ist von Bürgern im 19. Jahrhundert; Bürger, die ihre Bilder dann dem Staat überlassen haben oder testamentarisch übergeben haben und daß es auch Bürger gab, auch in Deutschland aber in Rußland berühmte Bürger gab, die Avantgarde geliebt haben... Leute, die z.B. Matisse, der ja sehr radikal war, sehr geliebt haben, sehr gefördert haben und da hat sich herausgestellt, daß - wenn man vom Geschmack des Bürgertums spricht - daß es dann alles, von links nach rechts gibt."

    Diese Ehrenrettung des Bürgertums zieht sich durch alle fünf Bände. Wie er die kunstliebenden Bürger hervorhebt, so sieht er in anderen Bänden auch eher die - z.B. im Sport - zivilisierte und weniger die zerstörerische Gewalt des Bürgertums oder hebt die befreite Sexualität in einigen bürgerlichen Schichten hervor und betrachtet weniger die puritanische Sexualmoral:

    "Und natürlich war die Hauptrevision dieser fünf Bände der erste über Sexualität, weil ja im allgemeinen geglaubt worden ist, daß Sexualität im Bürgertum bedeutet, der Mann braucht eine Freundin, weil die Frau kalt ist, denkt nur an die Kinder und an die Wirtschaft. Das ist natürlich sehr berühmt und seit 1900 ist das behauptet worden. Und in dieser Hinsicht habe ich das gefunden, was mich wirklich überrascht hat, aber natürlich habe ich das gern gesehen. Das Spektrum der Sexualität der Bürger ist nicht nur von A bis C, sondern von A bis M oder O ... Z.B. als einige Gynäkologen behauptet haben, eine anständige Frau habe keine sexuellen Gefühle. Man kann das leicht nachforschen und ich war nicht der einzige, der das gemacht hat, daß die meisten Gynäkologen das Gegenteil behauptet haben. In Österreich z.B. war die Sexualität der Frau kaum ein Problem. Es stimmt schon, daß ein anständiges Mädchen erst in der Hochzeitsnacht anfangen sollte, aber dann sollte sie schon viel Spaß dran haben. ... Weite Kreise haben, was wir guten radikalen Geschmack... nennen würden."

    In seinem Bemühen, die positiven Seiten des Bürgertums hervorzukehren, gerät Peter Gay allerdings in die Gefahr, die Wege von Teilen der deutschen Bourgeoisie vom 19. Jahrhundert, über den Ersten Weltkrieg bis zur Unterstützung des Faschismus nicht ausreichend zu beachten:

    Wer für die Nazis gestimmt hat, ist nicht das Bürgertum oder das Kleinbürgertum, nicht nur... Wieviele Arbeiter mitgemacht haben, das ist ziemlich klar geworden... da haben wir doch sehr gutes Material. Ich halte das für zu bequem. Natürlich gab es Großindustrielle, die Hitler unterstützt haben, direkt, auch indirekt, aber es gab auch viele, die das nicht getan haben, aus Gründen, die uns vielleicht nicht sehr gefallen würden, z.B. daß der Mann zu vulgär war... Natürlich habe ich betont, was andere nicht betont haben... Ich möchte aber darauf bestehen, daß ich sehr oft Gegenbeispiele auch in großen Ausmaß... Es war mir vollkommen klar, daß ich nicht nur Revision mache, nur um Revision zu machen."

    Man mag einzelne Thesen von Gays Arbeiten bezweifeln oder stärker die Widersprüche unterstreichen wollen. Peter Gay zwingt seine Deutungen jedoch dem Leser nicht auf. Seine Arbeiten macht deswegen vor allem das ungeheuere Materialreichtum so lesenswert, das er mit Hilfe der Psychoanalyse immer wieder auch auf seine latenten Strukturen hin befragt:

    "Was mich an Freud so interessiert hat, ist, daß erstens einmal viele Sachen in uns vorgehen, von denen wir eigentlich direkt nichts wissen und aus denen wir nur lernen können durch Träume, durch Symptome usw. Zweitens auch daß es vollkommen menschlich ist, gemischte Gefühle zu haben, wenn man den eleganteren Begriff Ambivalenz, den Freud ja geborgt hat von Bleuler, daß es gemischte Gefühle gibt, das ist und bleibt für mich sehr wichtig. Außerdem die Entwicklungsgeschichte des Kleinkindes, obwohl viel daran gearbeitet worden ist, seit Freud auch viel direkter Beobachtung der Babys in einer Art wie Freud es nicht oder kaum getan hat. Im allgemeinen ist das für mich sehr wichtig und hilfreich gewesen. [14'35] Es hat mir geholfen, gewisse Fragen zu stellen. Wenn Sie sich die fünf Bände mal angucken über die Bourgeoisie im 19. Jahrhundert: Warum fange ich mit Sexualität an und Liebe, was auch dazu gehört? Warum schreibe ich einen Band über Aggression? Ich hätte diese Themen ja kaum ausgewählt oder in ganz anderer Art ausgewählt, wenn ich nicht was von Freud gelernt hätte ... Das hat mir geholfen, gewisse Probleme zu sehen, die ich vielleicht nicht gesehen hätte, wenn ich nicht so geschult wäre."

    Ohne die Geschichte mit platten, angelernten Begriffen gleichsam auf die Couch zu legen, gelingt es ihm, wie kaum einem anderen seiner Zunft, sie aus der Freudschen Perspektive zu betrachten und damit in ihrer Vielfalt lebendig werden zu lassen. Hier ist ein Historiker am Werk, der früh gelernt hat, nach dem Verborgenen zu fragen, wie die Geschichte seiner Jugend belegt, und der im Alter versucht, eine Klasse zu retten, deren deutsche Vertreter ihn zu einem Juden stempeln wollten und seine Familie beinahe vernichtet hätten. Vor dem Hintergrund der Biographie könnte man diesen Rettungsversuch auch als eine Form von Trauerarbeit verstehen.