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Bürger unter Druck

Um die Demokratie in Russland steht es nicht gut im Jahre 2006. Die Yukos-Affäre, der wachsende Druck auf engagierte Bürger, Menschenrechtler Umweltschützer und Homosexuelle beweisen das. Die Vorreiter der Demokratie-Bewegung aus den 90ern scheinen heute vergessen. Nur eine eingeschworene Gemeinschaft von Menschenrechtlern hält ihr Andenken in Ehren.

Von Andrea Rehmsmeier; Redakteurin am Mikrofon: Barbara Schmidt-Mattern |
    Jevgeni Ivanov, ein junger glühender Putin-Anhänger über sein erstes Treffen mit dem Präsidenten:

    "Wir haben zusammen Schaschlik gegrillt und Tee getrunken. Und er hat uns all seine Unterstützung für die Zukunft angeboten."

    und Jeljena Schumkova, Moskauer Bürgerrechtlerin über ihren schwierigen Arbeitsalltag:

    "Eigentlich hatten wir immer begeisterte Mitarbeiter, aber jetzt suchen sich die ersten neue Jobs, bei denen es mehr Geld für eine weniger nervenaufreibende Arbeit gibt."

    Der zerschlagene russische Ölkonzern Yukos ist bankrott – so eine Schlagzeile aus Russland in dieser Woche. Eine andere verkündet den Ruin einer Moskauer Bürgerrechtsorganisation. In beiden Fällen sind es die russischen Behörden, die Yukos und der Nichtregierungsorganisation, kurz NGO, den Todesstoß versetzen – mit Steuerrückforderungen, teils in Milliardenhöhe. Um die Demokratie in Russland steht es nicht gut im Jahre 2006 – die Yukos-Affäre und das endgültige Aus des Konzerns sind dafür genauso Indiz, wie der wachsende Druck auf engagierte Bürger, Menschenrechtler Umweltschützer, Homosexuelle oder die Demonstranten auf dem G8-Gipfel Mitte Juli in St. Petersburg. Die Vorreiter der Demokratie-Bewegung, noch in den 90ern als Helden gefeiert, scheinen heute vergessen. Das gilt selbst für weltberühmte Dissidenten wie Lew Kopelew oder Aleksandr Solschenizyn.

    Nur eine eingeschworene Gemeinschaft von Menschenrechtlern hält ihr Andenken in Ehren. Zum Beispiel am Geburtstag von Andrej Sacharov, der erst half, die Wasserstoffbombe zu entwickeln und dann 1975 für seinen bedingungslosen Einsatze für die Bürger- und Menschenrechte in der Sowjetunion den Friedensnobelpreis erhielt. Moskau, 21. Mai…

    Sacharovs Erben: Um Moskaus Menschenrechtler wird es einsam

    Sprecher auf einer Tribüne:
    "Seid gegrüßt an diesem schönen Tag! Die Sonne scheint - und das ist erstaunlich genug, schließlich hat man uns Regen vorhergesagt. Nehmen wir das Wetter als gutes Vorzeichen für unsere Sache. Wie wichtig Andrej Sacharow für seine Zeit war, und wie wichtig er heute für uns ist, das brauche ich nicht zu betonen. Mit seiner Zivilcourage hat er Maßstäbe gesetzt. Weil er – und sei es im Beisein der Machthaber - niemals Angst hatte, die Wahrheit auszusprechen. Wahrheit, wie er sie verstand."

    Rote Nelken blühen unter dem Schwarz-Weiß-Porträt von Andrej Sacharow. Ein paar hundert Besucher haben sich ihm zu Ehren in dem kleinen Park versammelt, es gibt deutlich mehr alte Gesichter als junge. Plaudernd stehen die Grüppchen beisammen, Luftballons fliegen, ein paar Kinder toben herum. Nur die vielen Sicherheitsbeamten erinnern daran, dass das Sommerfest in Wirklichkeit eine höchst politische Veranstaltung ist. Ob junge Mütter oder alte Bürgerrechtsveteranen - für alle hier ist der Besuch des Sacharov-Gedenktags eine oppositionelle Meinungsbekundung.

    Junge Frau:
    "Ich fürchte um die Menschenrechte, man sieht doch, was hier vorgeht. Meinen Mann haben sie im vergangenen Jahr festgenommen. Er hatte an einer antifaschistischen Mahnwache teilgenommen! (lacht verächtlich) Gegen die gewalttätigen Neonazis, von denen es jetzt so viele hier gibt. Aber das ist nur ein Teil der Geschichte. Die Gesamtentwicklung hier macht mir Sorgen."
    Älterer Mann:
    "Habt keine Angst! Das ist Sacharows wichtigste Botschaft an uns. Denkt nicht an die Gefahr, denn das, was euch wichtig ist, ist das einzige, was zählt. Alle, die heute hier sind, leben danach. Entweder bekennen sie sich zur Opposition oder sie engagieren sich in Nichtregierungsorganisationen. Aber das übrige Volk vergeht vor Angst, sobald es auch nur ein bisschen Zivilcourage zeigen soll."
    Zivilcourage zeigt auch die tschetschenische Sängerin mit ihrem Auftritt. "Grosny, du Heldenstadt!", lautet ihr Liedtext. "Deine Straßen sind aufgeplatzt, die Gebäude zerfallen, aber wir Tschetschenen sind stolz auf dich!". Es ist nichts als ein alter Schlager aus den 60ern, aber es gibt keinen Veranstaltungsort in Moskau, wo seine Aufführung nicht eine Provokation wäre. Doch die Zuhörer wippen im Takt.

    Auf der Bühne gibt sich die Prominenz der Opposition ein Stelldichein: Die alte Garde der Dissidenten, linksliberale Politiker, Künstler. Sie reden davon, dass gerade eine neue Diktatur in Russland errichtet wird, von Menschenrechtsverletzungen und dem desolaten Zustand der Zivilgesellschaft. Auch Garri Kasparov gibt sich die Ehre. Der ehemalige Schachweltmeister leitet heute eine kleine Partei namens "Vereinigte Bürgerfront". Umringt von seinen Anhängern steht er neben der Rednertribüne und wartet auf seinen Auftritt:

    "Die scheinbare Stabilität, die das Putin-Regime verkörpert, wird nicht mehr lange halten. Ich habe viele russische Regionen bereist, ich kenne die Stimmung im Land. Die staatliche Propaganda provoziert höchstens Abwehrreaktionen. Noch ist es bloß passive Ablehnung, aber sie kann sich in aktiven Protest verwandeln. Ich prophezeihe, dass es in den nächsten zwei Jahren zu massiven Umwälzungen in Russland kommen wird. Unser Staat verwandelt sich in eine reinrassige Diktatur - und die spannende Frage ist, ob unsere Zivilgesellschaft das abwehren kann."
    Garri Kasparow. In modischem Sakko steht er am Rand der Veranstaltung und lässt seinen Blick über die Menge schweifen. Kein Schachspieler mehr, sondern ganz Politiker. Einer, der ernst genommen werden will, als Führungsfigur der Opposition und künftiger Gegenspieler Putins. Dann betritt er die Rednertribüne. Von den staatlichen Sicherheitsbeamten bleibt er unbehelligt:

    "Uns allen ist sonnenklar, dass der russische Staat sich in eine Diktatur verwandelt - dass er korrupt und ineffektiv ist, dass er auf Konfrontationskurs geht mit dem Rest der Welt. Und wir fragen uns, was wir dagegen tun können. Ja, was werden wir tun, wenn die harten Zeit wiederkommen? Werden wir uns wieder in Mikroben verwandeln, die versuchen, irgendwie zu überleben? Die wichtigste Botschaft von Andrej Sacharow an uns ist: Hört auf, wir zu sagen! Seid mutig und handelt als ich! Nur so hören wir auf, eine millionenköpfige Masse zu sein, die apathisch auf den nächsten Albtraum wartet. Nur so können wir die Erinnerung an diesen großartigen Menschen in Ehren halten!"

    Die 90er Jahre unter Boris Jelzin empfindet die Mehrheit der Russen noch immer als Ära der großen Heuchelei. Freiheit kam bei vielen Russen nur als grenzenlose Marktfreiheit an, und Demokratie als Zustand, in dem sich der alles nimmt, der stark ist.

    Vjatscheslav Pjezuch greift dieses Lebensgefühl auf in seiner Kurzgeschichte "Aus dem Leben bemerkenswerter" Leute. Im Mittelpunkt steht Viktor Molotschkov, ehemals Literatur-Student, der wegen schwerer Körperverletzung infolge einer Schlägerei exmatrikuliert wird und sich daraufhin im Konditorwesen selbständig macht. In einer "demokratisch-preiswerten Absteige", wie es heißt, bestellt Molotschkov zwei Krüge Bier und 150 Gramm Wodka und lässt sich von einem Arbeitslosen belehren:

    Literatur:

    Die Hydra der Konterrevolution erhebt gerade wieder ihr Haupt und nimmt dem einfachen Volk zum hundertsten Mal alles, was es hat. Aber wir werden uns schon noch erheben im Angesicht der Welt, und dieser Hydra den Hals umdrehen. Dann werden wir die Losung "Alle Macht den Sowjets" wieder zu Ehren bringen. Aber jetzt ist es gerade Mode, den Betrügern alles zu geben, und dem Volk gar nichts. Nein, lieber Genosse, nicht heute, aber morgen werden wir die Bourgeoisie stürzen und alles neu unter uns aufteilen."
    "Na, Leute, das wagt ihr nur!", sagte Molotschkov ernst. "So etwas wird es ein zweites Mal nicht geben, jedenfalls nicht auf diese Weise, auf die Art des einfachen Volkes. Das Jahr 1917 kommt nicht zurück! Und wenn ihr es trotzdem versucht, dann werden wir euch vorher drankriegen!"
    "Und wer, bitte, ist ‚wir‘?"
    "Na, wir, die Unternehmer, die wahrhaftigen Besitzer der Wälder, der Felder und Flüsse.
    "Aha, dann sind Sie also Unternehmer?"
    "Unternehmer, jawohl!"
    "Dann wollen Sie wohl, Sie Unternehmer, dass ich Ihnen jetzt und hier mit diesem Bierkrug den Schädel einschlage?"
    "Ja dann", sagte Molotschkov: "dann wird jetzt also Blut fließen!"

    Das Publikum zögerte nicht lange, sich der Schlägerei anzuschließen. Zum Glück hatten gerade zwei Polizisten Dienst in der Nähe des Eingangs der Kneipe, und so kam die Schlägerei nicht weit; die Streithähne wurden getrennt, in zwei verschiedene Wagen gesetzt und abtransportiert.


    Musik

    Für Wladimir Putin sind sie der lange Arm des Westens: Nichtregierungs-Organisationen, englisch abgekürzt NGOs, meist mit Sitz in Moskau. Sie kämpfen für Bürgerrechte, oder gegen Atomkraftwerke und die unwürdigen Zustände in der russischen Armee. All dies ist dem Kreml ein Dorn im Auge, denn die Angst vor Kontrollverlust sitzt tief, vor allem nach den Erfahrungen der 90er Jahre, als Wirtschaft und Gesellschaft dem Kreml zu entgleiten drohten. Wladimir Putin, seit dem Jahr 2000 im Amt, setzte diesem Trauma sein Prinzip der "gelenkten Demokratie" entgegen – bisher mit großem Erfolg. Im Januar nahm eine so genannte "Gesellschaftskammer" ihre Arbeit auf: Ein Gremium von Putins Gnaden, in dem ausgewählte Bürgerrechtler ein scheinbar wachsames Auge auf die Behörden richten sollen – ihr tatsächlicher Einfluss ist indes gleich null. Seit April ist zudem das neue so genannte NGO-Gesetz in Kraft. Es erlaubt dem Staatsapparat die umfassende Kontrolle der NGOs – Schikane ist nicht selten die Folge. Projekte werden verboten, Anträge abgelehnt, Registrierungen verweigert – und finanzielle Unterstützung aus dem Westen verhindert, wo immer es geht.

    Laut Europarat verstößt das NGO-Gesetz gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Der Kreml hat naturgemäß eine andere Lesart: Nur so könne die territoriale Integrität Russlands, seine Souveränität und die Eigenheit der russischen Nation bewahrt werden. Seit das neue NGO-Gesetz in Kraft ist, gilt bei Memorial in Moskau eine neue Zeitrechnung:

    Im Papierkrieg – die Bürgerrechts-Organisation Memorial kämpft gegen die Bürokratie

    Es riecht nach altem Papier. Staubig und schwer hängt der Geruch in den Büroräumen von Memorial Moskau. Hunderte Aktenordner lasten auf den Regalen. Wenn ein Gast kommt, wuchten die Mitarbeiterinnen sie herunter, ziehen mit spitzen Fingern vergilbte Blätter heraus, lesen sie vor: Dokumente des Terrors aus den Jahren der Stalinschen Repressionen. Behördliche Sterbemitteilungen, Strafbefehle, Briefe. Ein letzter Gruß an die Ehefrau daheim, geschrieben in dem berüchtigten Moskauer Geheimdienst-Gefängnis Lubjanka.
    MITARBEITERIN:
    "95 Tage und Nächte war ich in Einzelhaft. Dann das Verhör – sie zu dritt, ich allein. Es dauerte fünf Tage – Schlaf und ohne Essen. Dann haben sie mich zehn Tage in den Karzer gesteckt – ich saß in einer nassen Zelle ohne Licht, nackt. Schließlich haben sie mir die Anschuldigungen meiner Kollegen vorgelesen. Ich sei ein Spion, hieß es darin. Ich war halb wahnsinnig. Ich habe geweint und alles unterschrieben. Dann erfuhr ich, dass alle Anschuldigungen gefälscht waren. Ich protestierte, aber sie prügelten mich, dass ich dachte, ich sterbe. Sie haben gedroht, mich wegen Vaterlandsverrats anzuklagen. Da habe ich meinen Einspruch zurückgezogen. Jetzt ist die Untersuchung abgeschlossen. Ich warte auf meinen Prozess."

    60.000 dieser Schicksale hat Memorial archiviert, es sind die immer gleichen Geschichten von Verleumdung, Verhaftung, Folter und Erschießung. Rekonstruiert in akribischer Kleinarbeit aus Briefen, Todesurkunden und den Erinnerungen von Angehörigen.

    Einen Schreibtisch weiter sitzt Jeljena Schumkova, geschäftsführende Direktorin von Memorial. Auch brütet die meiste Zeit über einem Stapel Papiere – doch es geht um weit Banaleres. Gerade füllt die geschäftsführende Direktorin ein Formular des Justizministeriums aus: Die Mitteilung darüber, dass ein Vorstandsmitglied wegen Erkrankung nicht an der Jahreshauptversammlung teilnehmen konnte. Schumkova stöhnt leise. Eigentlich ist sie eine lebendige Frau mit energischem Auftreten, doch jetzt wirkt sie fahrig und gestresst. Vier von fünf Arbeitstagen verbringt sie inzwischen allein mit Bürokratie – und das wird oft zur Odyssee durch Behörden und Instanzen:

    "Am Tag nach der Krankmeldung unseres Vorstandsmitglieds habe ich pflichtgemäß die Mitteilung an die Behörde gemacht. Doch für so etwas gibt es ein spezielles Formular des Justizministeriums, und das darf man nur persönlich abgeben. Also bin ich zur Behörde gegangen, doch dort wurde ich ein weiteres Mal abgewiesen. Wir hätten die Echtheit es Formulars von einem Notar beglaubigen lassen müssen. Notare aber kosten Geld, und sie brauchen Monate für die Bearbeitung. Dennoch habe ich das Formular beglaubigen lassen – und wurde wieder zurückgewiesen. Das dritte Mal von Januar bis heute! Dieses Mal wollten sie die Sitzungsprotokolle sämtlicher Mitglieder. Da habe ich mich geweigert. Die Sitzung war öffentlich, sollen Sie doch kommen, wenn sie wissen wollen, was wir dort besprechen. Wozu um alles in der Welt braucht das Justizministerium die Protokolle unserer Mitglieder?"

    "Rechenschaftslegung" heißt die neue Nachweispflicht über Veränderungen im Mitarbeiterteam – nur einer von 'zig Paragrafen des neuen Gesetzes, mit dessen Hilfe die Behörden die Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen kontrollieren wollen. Dabei sind die bürokratischen Pflichten auch ohne das schon kaum zu schaffen. Vor allem die Steuergesetzgebung wuchert. Allein in diesem Jahr hatte Memorial drei Steuerprüfungen. Bis zu fünf Steuerfahnder blockierten die Computerarbeitsplätze des Büros. Ein ganz normaler Vorgang? Schumkova glaubt nicht daran. Sie fühlt sich im Papierkrieg mit einem Staat, der die Aufklärungsarbeit von Memorial vorsätzlich behindert. Schließlich stilisiert die moderne staatliche Ideologie Stalin wieder zum großen Staatsmann, der Nazi-Deutschland besiegt und die Sowjetunion zum Weltreich gemacht hat:

    "Da ist unsere Art von Geschichtsstunde nicht besonders populär. Immerhin denken sie heute schon wieder über neue Stalin-Denkmäler nach. Die Machthaber wollen uns lähmen. Eigentlich hatten wir immer begeisterte Mitarbeiter, die länger arbeiteten als im Vertrag vorgesehen. Aber jetzt suchen sich die ersten neue Jobs, bei denen es mehr Geld für eine weniger nervenaufreibende Arbeit gibt. Wie soll das erst werden, wenn sämtliche Auflagen des neuen Gesetzes in Kraft sind? Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht."

    Musik

    Literatur:

    Im Polizeirevier sollte Molotschkov eine Erklärung verfassen. Was immer ihn ritt – ob die Leidenschaft mit ihm durchging, oder ob sich plötzlich die Vorbildung des Gorkij-Literatur-Instituts erstmals bemerkbar machte – jedenfalls breitete er sich auf ganzen fünf Seiten aus.
    Der diensthabende Polizeibeamte nahm die Blätter, und erwartete offensichtlich nichts außer einer unbedeutenden Ordnungswidrigkeit, aber je weiter er las, desto düsterer wurde sein Gesicht. "Molotschkov, ich bitte Sie, warum bringen Sie sich selbst so in Schwierigkeiten? Hören Sie selbst, was Sie das geschrieben haben: ‚Als Antwort auf eine unerträgliche Beleidigung verpasste ich dem Opfer einen satten Schlag auf die Kinnlade, der ihn so durchschüttelte, dass er kraftlos zu Boden sank.‘ Molotschkov, was denken Sie sich eigentlich, das hier reicht für eine Strafanzeige! Scheren Sie sich zum Teufel, mit Ihren satten Schlägen, bevor ich Sie auf der Stelle verhaften lasse."
    "Das glauben aber auch nur Sie", sagte ihm Molotschkov. "Sogar unter den Kommunisten habe ich immer getan, was ich wollte, sogar unter ihrer Diktatur habe ich mir nie die Zunge verbieten lassen. Und jetzt, wo bei uns Demokratie herrscht, wollen Sie Zensur ausüben? Nie im Leben lasse ich das zu!"
    Seine Hartnäckigkeit kam ihn teuer zu stehen: Das Protokoll wurde aufgenommen und eine Strafanzeige gestellt wegen schwerer Körperverletzung, der Vorbehalt der Unzurechnungsfähigkeit aufgehoben – mit einem Wort: die Geschichte nahm eine höchst ungute Wendung.


    Musik

    "Die Jugend ist unsere Zukunft, unsere Hoffnung." Worte von Josef Stalin aus dem Jahr 1933. Da lag die Gründung des Komsomol bereits 15 Jahre zurück. Die Bolschewiken hatten den Leninschen Kommunistischen Jugendverband der UdSSR 1918 gegründet. Vom Komsomol, der sich 1991 wie die Sowjetunion selbst, auflöste, gucken sich russische Jugendorganisationen bis heute viel ab. Und das ist ganz im Sinne Wladimir Putins. Der hat die politische Jugendarbeit zur Chefsache erklärt.

    Putins jüngstes Projekt ist die Jugendorganisation Naši, übersetzt Die Unsrigen. Der Name steht für Volksverbundenheit und Patriotismus. Naši wurde Anfang 2005 gegründet – und das nicht etwa zufällig, denn nur kurz zuvor waren in der Ukraine und Georgien die Orangene und die Rosenrevolution ausgebrochen. Beide Bewegungen wären ohne den Rückhalt der Jungen kaum denkbar gewesen. In Russland soll ähnliches unter allen Umständen verhindert werden – deshalb hat der Kreml mit Naši einfach seine eigene Jugendorganisation gegründet. Die folgt willig und glaubt an Putin und das russische Vaterland. Damit liegt Naši ganz im Trend. Nur die wenigsten Jugendlichen in Russland sind politisch interessiert, geschweige denn engagiert, aber Putin und Patriotismus – das kommt an.

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    Naši residiert in einem Altbau mitten im Moskauer Stadtzentrum. Die Räumlichkeiten haben den Charme eines sowjetischen Schulgebäudes: Lange Flure und weiß gekalkte Wände mit Putin-Porträts und Plakaten von fröhlichen jungen Leuten. Wer das erste Mal hierher kommt, muss sich am Eingang ausweisen. Dann aber wird der Neuling freundlich empfangen und sogleich zur Mitgliedschaft ermuntert…

    Zivilgesellschaft von Putins Gnaden: Die Jugendbewegung Naši

    Imagefilm:
    "An der Schwelle zum neuen Jahrtausend hat unsere Welt sich verändert. Ende der 90er Jahre ist Russlands Einfluss im globalisierten Gefüge nicht zu spüren. Das Land nicht nur hinter den anderen zurückgeblieben, sondern auch hinter sich selbst. Hinter der Sowjetunion der 80er Jahre."

    Der Bildschirm zeigt eine rasante Kamerafahrt. Eine Großstadtkulisse flackert auf, Blitze zucken über einen düsteren Himmel. Endzeitstimmung im Russland der 90er Jahre - computeranimiert und geschnitten wie ein Videoclip.

    Imagefilm:
    "Andere Mächte diktieren die Spielregeln auf dem Weltmarkt. Und Russland gehört zur Kategorie der Länder, denen jede Zukunft verwehrt ist."
    Gar nicht fremdbestimmt, sondern höchst agil wirkt der hochgeschossene junge Mann, der die Videovorführung leitet. Er flüstert den Hereinkommenden Anweisungen zu, sieht auf dem Flur nach dem Rechten, tippt Nachrichten in sein Handy. Sein dunkler Anzug gibt ihm etwas Offizielles unter den Jugendlichen in Röckchen und Jeans. Jevgenij Ivanov, 26 Jahre alt, ist Kommissar. Er leitet eine Untersektion von Naschi, und er ist verantwortlich für die ideologische Unterweisung der Neulinge.
    Im Imagefilm wechselt die Szenerie: Amtsantritt von Präsident Putin. Auf einem roten Teppich schreitet er durch die applaudierende Menge, jung und entschlossen. Strahler tauchen seine Gestalt in goldenes Licht. Ein Anblick, bei dem sogar der geschäftige Jevgenij eine Weile innehält. Dann wieder ein Schnitt. Ratten, fett und grau, flitzen über eine Weltkugel. Jevgenij klärt auf:

    "Die Ratten fliehen vom sinkenden Schiff. Gemeint sind die Oligarchen, die die ganze Macht in den Händen hielten, bevor Putin sie aufgescheucht hat. Sie haben unser Volkseinkommen ins Ausland gebracht. Putin aber hat ihnen gezeigt, dass sie sich nicht in Staats- und Gesetzesangelegenheiten einmischen dürfen. Ihre Zeit ist vorüber. Jetzt brauchen wir eine neue nationale Elite - eine, die die Interessen Russlands vertritt. Das müssen Leute sein, die an die Großmacht Russland glauben."
    Eine neue, nationale Führungsriege - das ist Jevgenijs Vision. Junge Menschen, die ihr Leben in den Dienst eines starken Präsidenten stellen. Die Russland zur führenden Weltmacht des 21. Jahrhunderts machen. Jevgenij zeigt auf die Anwesenden, die die Grüppchen, leise tuschelnd, im karg eingerichteten Seminarraum herumstehen. Eine eingeschworene Gemeinschaft, sagt er, und seine Augen leuchten. Ihr Initiationsritus war am 9. Mai vergangenen Jahres, als sie gemeinsam den "Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg" feierten. 60 000 Jugendliche kamen damals auf dem Roten Platz zusammen, um den Kriegsveteranen Blumen zu überreichen. Etwa die Hälfte von ihnen engagieren sich heute bei Naschi, schätzt Evgenij. Eine Bewegung, die sich in ganz Russland für Demokratie, Zivilgesellschaft und nationale Größe einsetzt. Die gegen den Faschismus genauso kämpft wie gegen den politischen Einfluss des Westens:

    "Wir kämpfen dagegen, dass es in Russland zu einer bunten Revolution kommt, wie in der Ukraine, Georgien oder Kirgisien. Denn das ist nichts als die systematische Einflussnahme des Auslands. Der Westen will die Innen- und Außenpolitik der osteuropäischen Staaten in seinem Sinne manipulieren, damit die Staatsführung nicht mehr im Interesse des Landes handelt. Wir aber wollen, dass unser Land von einer russischen Staatsführung regiert wird, und nicht von einer, die in den USA sitzt!"

    Doch nicht Patriotismus allein bewegt die Jugendlichen. Auch die vielen Ausflüge und Zeltlager ziehen die Stadtkinder an, insbesondere dann, wenn es Mobiltelefone und T-Shirts als Dankeschön dazu gibt. Denn "Naschi" hat große russische Konzerne als Sponsoren, wie Jevgenij es ausdrückt. Er selbst hat höhere Ziele. Er träumt von einer Blitzkarriere in der Politik - und "Naschi" bietet beste Beziehungen ins Epizentrum der Macht: Nach Sotschi, wo Wladimir Putin seinen Sommersitz hat. Im Frühjahr war Jevgenij dort, zusammen mit 30 weiteren Kommissaren: zur Privataudienz beim Präsidenten:

    "Wir haben zusammen Schaschlik gegrillt und Tee getrunken. Nach der Pressekonferenz haben wir uns an ihn gedrängt und ihn ausgefragt. Er sagte: "Jetzt, wo die Journalisten weg sind, kann ich offen reden, denn ihr seid meine Leute." Er hat alle unsere Fragen zur Außen- und Innenpolitik beantwortet. Er hat erstaunlich konkret gesprochen, ohne jede Phrasendrescherei. Und er hat uns all seine Unterstützung für die Zukunft angeboten."

    Jevgenij lächelt zufrieden - und eilt davon: Irgendwo erwarte man seine Entscheidung in einer dringenden Angelegenheit. Der Raum - groß und karg wie eine Schulklasse - wirkt leer ohne ihn. Die Grüppchen zerstreuen sich. Nur der Bildschirm in der Ecke flimmert weiter vor sich hin. Er zeigt Gesichter, frisch und lachend, Fahnen hissende Gestalten, eine jubelnde Menschenmenge. Russlands Jugend, "die Unsrigen", im Jahr 2006.

    Imagefilm:
    "Gestern noch hat niemand geglaubt, dass unser Land sich so verändern kann. Und doch ist es so: Die Menschen schließen sich zusammen und beginnen ein neues Kapitel der russischen Geschichte. Es marschiert die Generation der 80-er. Es ist die letzte, die noch in der Sowjetunion geboren wurde. Hört ihr zu, was sie zu sagen hat!"

    Musik

    Literatur:
    Am nächsten Tag erkundigte sich Molotschkov bei seinen Bekannten über die Höhe des Schmiergeldes, das in solchen Fällen angemessen ist, und machte sich auf den Weg in das ihm feindlich gesinnte Polizeirevier, und er war ergriffen von einer tiefen Traurigkeit über sein von Unbarmherzigkeit geprägtes Leben. Der diensthabende Polizist hatte noch nicht gewechselt; er schaute Molotschkov gelangweilt an, wahrscheinlich ahnte er, was es mit diesem Besuch auf sich hatte, und das Fehlen jeder Geheimnistuerei oder Intrige langweilte ihn.
    "Wieviel, Kommandant?", fragte Molotschkov.
    "Neun", antwortete der Polizist, und plötzlich leuchtete etwas in seinen Augen auf. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ihm in diesem Augenblick der Gedanke kam, den Fall Molotschkov zu seinem logischen Ende zu führen.
    "Und warum gerade neun?"
    "Keine Ahnung, so ist der Tarif."
    Molotschkov übergab dem Milizionär neun Millionen Rubel in frischen Geldpacken von der Bank und dachte nach alter Gewohnheit: "Sehr gut, dann bleibt mir jetzt noch eine Million für den Durst.". Immerhin steckte seine demokratisch-verlotterte Vergangenheit noch tief in ihm, wie ein Splitter, tief und fest.


    Musik

    In Lettlands Hauptstadt Riga wurden letzte Woche Homosexuelle mit Fäkalien beworfen. Auch in Polen schürt die nationalkonservative Regierung die Ressentiments gegen Schwule und Lesben, und in Russland nennt mancher sie "Sodomisten." Die Hysterie gegen das vermeintliche Anderssein wird geschürt von allen Seiten – die meisten Politiker und der Mann auf der Straße sind sich einig: Homosexuelle bedrohen Russlands innere Sicherheit, zumindest aber die innere Gemütslage.

    Religionsvertreter stoßen ins gleiche Horn: Die russisch-orthodoxe Kirche spricht Schwulen die Menschenwürde ab, ein führender Mufti im Lande fordert seine Gläubigen auf, Männer, die Männer lieben, ordentlich durchzuprügeln, und ein russischer Rabbiner äußert Mitleid mit den vom Wege Abgekommenen. In vielen der ehemals sozialistischen Staaten, die mitten im Umbruch stecken, löst die Suche nach einer neuen, eigenen Identität Hass und Abwehrreaktion gegen das Andere aus. Überall in Osteuropa werden Homosexuellen-Paraden verboten.

    Mit dem perfiden Argument, die Teilnehmer nicht vor Neonazis schützen zu können, verbot auch Moskaus Bürgermeister Luschkow Ende Mai den so genannten Gay-Pride. Die Demonstration kam trotzdem zustande, im Beisein des Bundestagsabgeordneten Volker Beck. Gegen ihn flogen Steine, doch statt dem Verletzten zu helfen, bugsierten Sicherheits-Beamte Beck unter Fußtritten in den Polizeiwagen. Weder die ausländische Presse noch sein Diplomatenpass retten ihn vor der Verhaftung. Die Bundesregierung legte nicht Beschwerde ein bei der russischen Regierung, und es gab auch kein diplomatisches Nachspiel. Wohl aber ein gut organisiertes Vorspiel – Besuch auf einer Pressekonferenz Ende Mai in Moskau:

    Faustrecht – eine Homosexuellen-Parade wird zum nationalistischen Aufmarsch

    Volker Beck:
    "Die Unterdrückung von Schwulen, Lesben und Transsexuellen ist keine Minderheitenangelegenheit. Es geht um die Demokratie als solche. Ich bin nach Moskau gereist, um meinen mutigen Freunden Dankbarkeit zu zollen. Dafür, dass sie um ihre demokratischen Rechte kämpfen. Schwule und Lesben in Russland müssen die nackte Gewalt fürchten. Der Staat schützt sie nicht. Doch die Unterdrückung von Lesben und Schwulen ist nicht vereinbar mit den Werten eines demokratischen Europa."

    Volker Beck sitzt im Blitzlichtgewitter, die Finger des Grünen Bundestagsabgeordneten nesteln am Manuskriptpapier. Vor dem Rednerpult drängeln sich die Menschen: Kamerateams bahnen sich ihren Weg, Journalisten kritzeln in Blöcke, Zuhörer kauern auf den Fensterbänken und auf dem Boden. Und doch sind Delegierte aus über 20 Ländern angereist: Politiker, EU-Abgeordnete, Menschenrechtler, homosexuelle Aktivisten. Nur ein Land hat keine offiziellen Vertreter geschickt: Russland. Die Veranstalter sind dennoch sichtlich bewegt und erleichtert: Noch nie hat eine Homosexuellen-Bewegung in Russland so viel Unterstützung erfahren. Schließlich erhebt sich Veranstalter Nikolaj Alekseev aus seinem Stuhl und gibt die Information bekannt, die aus Sicherheitsgründen seit Wochen unter strenger Geheimhaltung steht: Wann, wo und auf welche Weise die Gay Pride-Parade stattfinden wird:

    "Wir rufen unsere Unterstützer auf, heute um 14.30 Uhr zum Grab des Unbekannten Soldaten zu kommen und Blumen beim Ewigen Feuer niederzulegen. Mein Großvater ist gefallen im Kampf gegen den Faschismus. Heute kommen die Faschisten aus unseren eigenen Reihen, und es ist eine Schande, dass sie unbehelligt durch Moskaus Straßen marschieren dürfen. Wenn wir verhaftet werden, werden wir keinen Widerstand leisten. Wir werden offiziell die Verantwortung übernehmen, wie das russische Gesetz es verlangt."

    Das Grab des Unbekannten Soldaten liegt direkt an der Tverskaja Uliza - der schicksten Einkaufsstraße Moskaus, wo die Auslagen von Feinkostläden, Boutiquen und Hightech-Centern glitzern. Jetzt aber sieht man nur Uniformierte: breitbeinig, mit schweren Stiefeln, die Schlagstöcke einsatzbereit steht die Omon, die Spezialeinsatzgruppe des Kreml. Ratlos halten die Gay-Pride-Teilnehmer ihre Blumen in der Hand, in respektvoller Entfernung stellen sich die Kamerateams auf. Da drängelt sich auf einmal eine stämmige, kleine Gestalt mit Kamera durch die Wartenden.

    Direkt vor den Uniformierten kniet sie sich hin, positioniert das Objektiv und blitzt in die grimmigen Gesichter. Dann schreitet sie mit federndem Gang das Spalier ab. Es ist Maria, genannt Mascha: Studentin, Fotografin aus Leidenschaft und Lesbierin. Sie ist hier, um die Kundgebung zu dokumentieren – nicht, um sie zu unterstützen. Sie fürchtet, dass Gay Pride die Situation der Schwulen und Lesben nur verschlimmert. Betont lässig zündet sie eine Zigarette an. Nur das hektische Inhalieren verrät ihre Anspannung:
    "Natürlich ist ein fröhliches Schwulen- und Lesbenfestival eine wunderbare Sache, aber wo Dynamit liegt, soll man nicht mit Streichhölzern spielen. Die politische Lage ist unstabil, der Staat ringt ja selbst um die Macht im Land. Jede Aktion einer Minderheit kommt ihm nur gelegen. Dann kann er zeigen: Seht euch an, wie wir mit Unruhestiftern umgehen! Er wird sie prügeln und durch die Straßen treiben – und schon gehorcht ihm die Mehrheit aufs Wort."

    Mascha behält recht mit ihrer Prophezeiung, doch die Unruhestifter sind andere. Eine Prozession, angeführt von zwei Bärtigen in Priesterkutte, schiebt sich auf den Platz. "Christus ist auferstanden von den Toten", beten sie und recken ein Kreuz in den Himmel. Hinter ihnen marschieren alte Frauen in Kopftüchern, sie tragen Ikonen. Es sind hunderte, innerhalb von Sekunden erobern sie den Platz für sich. Die Luft ist erfüllt von Beten und Singen. Die Journalisten drängeln heran. Maria fotografiert.

    "Das ist eine Organisation von russisch-orthodoxen Gläubigen und Nationalisten. Sie ist gegen alles mögliche, gegen Migration, insbesondere solche aus dem Kaukasus, und gegen alle anderen Minderheiten auch. Sie beruft sich auf die Religion, so sichert sie sich die Unterstützung aus dem Volk. Naja, diese Babuschkas verstehe ich trotzdem nicht..."
    Plötzlich versinkt der Platz in Chaos. Fäuste fliegen, Stiefel treten, die Menge stiebt auseinander. Ein Mann liegt mit blutverschmiertem Gesicht auf dem Asphalt. "Ich bin doch Franzose!", ruft er. Maria drückt auf den Auslöser ihrer Kamera. Sie fotografiert auch die jugendlichen Schläger, die sich auf jeden stürzen wollen, der eine Blume in der Hand hält – und die dann selbst vor den Schlagstöcken der Omon fliehen müssen. Von den Gay-Pride-Aktivisten ist nichts mehr zu sehen: Wer noch nicht festgenommen ist, macht sich in der Menge unsichtbar. Und die Journalisten irren über den Platz und recken ihre Mikrofone jedem entgegen, der gerade laut schreit.

    "Kinderschänder in den Ofen!", dröhnt es durch die Menge, zum Halleluja-Gesang der Frauen. Ein eigentümlicher Zug aus Priestern, betenden Frauen, entfesselten Jugendlichen mit kurzgeschorenen Haaren und Journalisten setzt sich in Marsch durch die Moskauer Innenstadt, geleitet von einem Spalier der Omon. Maria nimmt eine Nebenstraße – und gerät dort, wie sie später berichtet, in eine brenzlige Lage:

    "Ein Mann in Kosakenuniform hat mich gegen eine Wand gedrückt. "Jetzt kriegst du es, du verdammter Schwuler!", hat er gerufen. Er hat mich wohl mit einem Jungen verwechselt. Und die Babuschkas riefen: "Kinderschänder, Kinderschänder". "Ich bin ein Mädchen, du Vollidiot!", habe ich sie angeschrieen. Da hat der Typ mich laufen lassen. (kichert) Das ist Russland! (ironisch, aber nicht verbittert) So amüsiert sich bei uns das Volk! Ja, das ist unser Land, so leben wir hier!"

    "Moskau ist nicht Sodom!", schreit die Menge. An einem Denkmal in der Mitte der Tverskaja Uliza sieht ein Duma-Abgeordneter die Chance für einen medienwirksamen Auftritt gekommen. Nikolaj Kurinovitsch, Leiter des Komitees für Innere Sicherheit, bringt sich in Pose für die ausländische Presse:

    "Liebe Journalisten, wie Sie sich hier überzeugen können, reagiert die Heldenstadt Moskau höchst angemessen auf die schwulen Aggressoren. Russland wird sich reinigen von seinen Feinden und von allen, die seine nationale Wiedergeburt behindern. Die schwule Mafia, diese heimliche Freimaurerloge, hat Amerika und das sieche Europa bereits unterwandert. Russland aber werden die Kinder Sodoms nicht zerstören. Wir werden uns zu schützen wissen und zu einer gesunden Gemeinschaft zusammenwachsen. Angesichts der Illegalität der Schwulen-Kundgebung werden Sie einsehen, dass ich für den Schutz der Demonstrationsteilnehmer nicht garantieren kann."

    "Aber diesen Neonazi-Aufmarsch hier finden Sie wohl legal?", ruft eine Frau empört. Tumult unter Kurinovitschs Anhängern. "Aber das sind doch keine Neonazis!", entgegnet der Abgeordnete: "Das sind Patrioten!"

    "Ruhm Russland!" brüllt der Mob, beflügelt durch die Vertrauensbezeugung von allerhöchster Ebene. "Kinderschänder in den Ofen!" Ein dunkelhäutiger Mann, der nichts ahnend aus einem Imbiss tritt, bekommt eine Faust ins Gesicht. Nur seine russische Freundin rettet den Zusammensinkenden vor Schlimmerem. Sie schreit die Schläger an, bis diese sich trollen.

    Irgendwann wird es ruhiger. Mascha, die lesbische Fotografin, steht bei einer Freundin und prahlt von dem Zusammenstoß mit dem Kosaken. Die Aufregung ist ihr nicht anzumerken. Eine Zigarette hängt ihr im Mundwinkel, ihre Gesten sind groß und burschikos. Doch in diesem Moment gehen zwei alten Frauen mit Ikonen vorbei. Mascha wird ernst und geht zu ihnen herüber. Was denn eigentlich so schlimm an Homosexualität sei, will sie wissen:

    "Es ist die schlimmste aller Todsünden! Im Alten Testament hat man diese Leute gesteinigt, in Löchern vergraben und von der Gesellschaft isoliert! Sie sind die Propheten des Teufels! Sie haben Syphilis, Aids und nehmen Drogen. In ihren Ritualen vergewaltigen sie Kinder und Tiere. Wir fordern, dass Homosexualität per Strafgesetzbuch verboten wird! Sonst wird eines Tages noch der Leibhaftige mit einem Ziegenbock an der Leine durch Moskaus Straßen marschieren, und wir werden ihm unsere Toleranz demonstrieren! In den Schwulen zeigt sich die Fratze der neuen Weltordnung."
    Mascha seufzt leise und verdreht die Augen. Doch die Frau ist noch nicht fertig. Ob sie Russin ist, will sie wissen, und wie sie heißt. "Mascha", antwortet diese. Dann macht sie ihrer Freundin ein heimliches Zeichen zum Gehen. Gemeinsam schlendern die beiden die Tverskaja Uliza hinunter, und der Regen prasselt ihnen auf den Schirm. Die kahlgeschorenen Männer bemerken sie nicht. Die alten Frauen aber rufen ihnen noch lange hinterher:

    "Maria heißt du also – Maria wie die Gottesmutter! Bete zu Gott, Maria, dass unsere Zivilisation nicht untergeht. Das hier ist Sodom! Auf Wiedersehen, meine Mädchen, auf Wiedersehen! Ich werde für euch beten, dass ihr zum Glauben findet und euch taufen lasst! Und dafür, dass ihr endlich Röcke anzieht!"

    Musik

    Viktor Molotschkov, Protagonist der russischen Kurzgeschichte "Aus dem Leben bemerkenswerte Leute" hat sein Sümmchen entrichtet beim Justizbeamten – und macht sich sogleich auf den Weg Richtung Kneipe. Und wieder gerät er in ein Streitgespräch, nur steht er diesmal auf der anderen Seite…

    Literatur:
    Molotschkov sagte: "Es ist ja wohl eher so, dass nur die Nomenklatura der demokratischen Freiheiten sich selbst die Freiheit nehmen kann, und das einfache Volk wird zum Narren gehalten. Wie einst die Kommunisten die Arbeiterschaft unter Vorspiegelung einer wunderbaren Zukunft bestohlen haben, so ziehen ihnen heute die Demokraten die Hosen aus."
    "Was wollen Sie? Das Leben hier ist doch ganz in Ordnung. Wer einen Kopf hat zu denken, der braucht sich um Wurst und Käse keine Sorgen zu machen. Aber wer morgens nicht aus dem Bett kommt, der steht natürlich ohne Hosen da."
    "Es bleibt uns die eine Hoffnung, dass diese Schlauberger nicht weit kommen werden. Nicht heute – morgen schon wird das Leiden des Volkes beendet sein, es wird seinen geschundenen Rücken aufrichten, und mit diesen Scheusalen Schluss machen!"
    "Scheusale? Wen meinen Sie denn damit?"
    "Na, zum Beispiel die Patrioten, die kommerziellen Interessen nicht abgeneigt sind."
    "Aber Ihnen zittern ja die Hände, sie sind wohl auch so einer, der schon früh morgens das Ausnüchtern nicht schafft!"
    "Das ist zuviel", sagte Molotschkov. "Jetzt wird Blut fließen ...!"


    Musik

    Auch 15 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist der neue russische Staat in vielen Bereichen eine Baustelle. So auch im Gesundheitswesen. Aus Sowjetzeiten übernommen wurde das System der staatlichen Vollfinanzierung, aber die Zuschüsse für Behandlungen und Operationen fließen oft nur zäh. Überhaupt funktioniert dieses System nur theoretisch, denn im gesamten Gesundheitswesen wuchert die Korruption. Unterbezahlte Ärzte halten die Hand auf.

    Unterm Strich bleibt eine nüchterne Bilanz, nämlich eine hohe Kindersterblichkeit und eine geringe Lebenserwartung. Beispiel herzkranke Kinder: Theoretisch bekommen sie 60 Prozent der Kosten einer Herzoperation vom Staat finanziert – aber nur mit strengen Auflagen. Wer die nicht erfüllt und trotzdem operiert werden muss, ist gezwungen, das Geld selbst aufzutreiben. Damit beginnt für die Familien eine Odyssee durch die Behörden. Dazu Bettelreisen bei Sponsoren.

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    Viele Herzkranke sind auf die Spenden wohltätiger Organisationen und russischer Privat-Bürger angewiesen. Wachsendes Engagement für Russlands Kranke und Behinderte kommt auch aus den USA und Europa. Der russische Staat goutiert all das nicht. Katja Bermont hat das bei ihrer Hilfe für den herzkranken Anton, am eigenen Leib erfahren – und trotzdem hilft sie den Kranken mit Erfolg:

    Ein Herz für Anton: Russlands staatlicher Gesundheits-Dienst und die ungewollte Hilfe aus dem Westen

    KATJA BERMONT:
    "Da ist zum Beispiel unser Antoscha. Ganz Moskau sammelt für ihn, und doch reicht das Geld nie, so krank ist er. Unsere Stiftung hat ihm einen Herzschrittmacher finanziert. Einmal im Jahr muss er zur Nachuntersuchung nach Berlin, darum stellt die Fluggesellschaft Aeroflot ihm umsonst die Flüge zur Verfügung. Das Kind ist zerschnitten von oben bis unten. Aber es geht ihm einigermaßen gut, er lebt!"

    Katja Bermont – sie hat nicht nur dem herzkranken Anton das Leben gerettet. Für 185 Operationen hat ihre Stiftung "Kinderherzen" Spendengelder gesammelt, immerhin 170 davon verliefen erfolgreich. Doch darum macht die lebhafte Mittdreißigerin nicht viel Wirbel. In ihrer Moskauer Altstadtwohnung hat sie genug anderes zu tun: Hier traktieren ihre eigenen beiden Kinder das Klavier, Nachbarn gehen aus und ein und Besucher können jederzeit auf frische Blini hoffen. Ein Zimmer aber ist als Stiftungs-Büro reserviert – und wenn Katja sich hierhin zurückzieht, dann bewahren die anderen Familienmitglieder respektvolle Ruhe. Vier Jahre ist es her, dass die gelernten Mediendesignerin sich entschloss, ihr Leben in den Dienst der Wohltätigkeit zu stellen:

    "Eines Tages bekam ich einen Brief. Es war einer dieser Rundbriefe, die per E-Mail verteilt werden. Die Mutter eines herzkranken Mädchens bat um Spenden. Mir ist das Blut gefroren, so eindringlich hat die Frau das Leid ihrer Tochter beschrieben. Da bin ich losgegangen und habe meine Bekannten um Geld gebeten. Was soll ich sagen - es hat geklappt! Heute ist das Mädchen gesund, es geht ihr gut!"

    Katja staunte selbst, wie leicht es ist, Leben zu retten – und sammelte weiter. Sie stattete Privathaushalten Besuch ab, hielt Vorträge an Unis, stellte sich Unternehmen vor. Als die Spendensummen größer wurden, ließ sie die Stiftung "Kinderherzen" registrieren, stellte eine Mitarbeiterin ein und machte eine Website. Ihr Erfolg ist bemerkenswert: Heute gehören namhafte Konzerne zu ihren Sponsoren. Ja, ganze Studentenjahrgänge hat Katja Bermont schon dazu gebracht, ihre Stipendien zur stiften.
    Doch Anfang des Jahres bekam ihr Enthusiasmus einen Dämpfer: Im Kreml wurde ein neues Gesetz verabschiedet, das Nichtregierungsorganisationen unter strenge staatliche Kontrolle stellt. Wer Geld sammelt, hieß es, muss beweisen, dass er damit keine terroristischen Organisationen finanziert. Das bedeutet eine Menge zusätzlicher Bürokratie, für die Katja Bermont eigens eine Buchhalterin einstellte. Vor allem aber, fürchtet sie, leidet das Image der Stiftung:

    "Eine alte Dame wollte uns Geld spenden für ein herzkrankes Mädchen. Sie geht also in Begleitung ihrer Freundin zur Sparkasse, um die Überweisung auszufüllen. Und dort geht es dann los: Erst fordern sie eine spezielle Aufrichtigkeitserklärung, dann wollen sie die Pässe fotokopieren. Die beiden Frauen haben sich sehr aufgeregt – schließlich sollen sie sich dafür verbürgen, dass ihr Geld tatsächlich bei den herzkranken Kinder landet, und nicht plötzlich bei der Al-Quaida. Plötzlich sehen die Spender uns in Zusammenhang mit einer Terrororganisation. So etwas Absurdes wäre früher niemandem in dem Kopf gekommen!"
    Und dann passierte etwas, das Katja heute wie eine Anekdote in ihrem Bekanntenkreis herumerzählt. Sie bekam einen Brief – ein besonders edles, offiziell aussehendes Schreiben: Präsident Putin lud sie zu einer Audienz in den Kreml. Sie war perplex. Sie kaufte sich ein neues Kleid und sagte zu. Mehr als 300 Vertreter von den verschiedensten Stiftungen waren geladen. Katja Bermont aber bekam den Platz am Tisch des Präsidenten zugewiesen. Putin lobte ihre Arbeit, sie tauschten Nettigkeiten aus. Dann ging sie wieder nach Hause – und fragt sich seitdem, was sie von dieser Einladung halten soll:

    "Es ist ja so eine Sache mit den wohltätigen Organisationen und den Machthabern. Ich glaube, sie wollten uns einfach zeigen, dass sie uns an sich nichts Böses wollen – vor dem Hintergrund dieses unangenehmen Gesetzes, das nur die Bürokratie erhöht und nichts bringt außer Ärger. Bleibt die Frage, warum ausgerechnet ich den Platz an Putins Tisch – es sind ja keinerlei konkrete Hilfsangebote dabei herausgekommen. Offensichtlich haben die Berater sich gedacht, dass ich zivilisiert genug bin, nicht über unseren Präsidenten herzufallen und mich gut zu benehmen. Aber ich fürchte, ich habe mich total verschüchtert benommen."

    Literatur: Vjatscheslav Pjezuch, Aus dem Leben bemerkenswerter Leute. darin Kurzgeschichten: Russische Anekdoten, Nr. 3. Moskau: Globulus Verlag, 2006. S. 211-215. Übersetzung (exklusiv für DLF): Andrea Rehmsmeier