Im Februar 2024 hat der vom Deutschen Bundestag eingesetzte Bürgerrat Ernährung Vorschläge zur Ernährungspolitik vorgelegt. Diese sind für die Politik allerdings nicht bindend, Bürgerräte haben keine Entscheidungsbefugnisse. Es ist offen, wie die Politik nun mit den Vorschlägen umgeht. Klar ist aber: Wenn Bürgerräte zukünftig eine Rolle in der politischen Landschaft spielen sollen, dann muss die Politik sie ernst nehmen.
Bürgerräte sind mit Hoffnungen verbunden. Befürworter sehen in ihnen eine Möglichkeit, die Teilhabe von Bürgern am politischen Prozess zu stärken und damit Politikverdrossenheit abzubauen. In dieser Funktion etablieren sie sich zunehmend neben Petitionsausschüssen, Volksentscheiden und Volksbegehren. Doch an den Räten gibt es auch deutliche Kritik.
Wie funktioniert ein Bürgerrat?
Neben Petitionsausschüssen, Volksentscheiden und Volksbegehren haben sich inzwischen auch Bürgerräte in der politischen Landschaft etabliert. Obwohl sie keine Entscheidungsbefugnisse haben, werden sie medial und politisch beachtet. Befürworter sehen in ihnen eine Möglichkeit, die Teilhabe von Bürgern am politischen Prozess zu stärken.
Der Bürgerrat ist ein Instrument der dialogischen Demokratie (*) und soll die Politik beraten. Er wird zu einem bestimmten Thema eingesetzt, seine Mitglieder werden über die kommunalen Melderegister per Losverfahren bestimmt. Dabei wird darauf geachtet, dass der Rat den Querschnitt der Bevölkerung repräsentiert: Kriterien hierfür sind Geschlecht, Alter, Bildungsstand, die Größe der Herkunftsgemeinde und ein möglicher Migrationshintergrund.
Dieser Umstand macht Bürgerräte demokratietheoretisch attraktiv: Denn durch die bewusst repräsentative Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, ein auch für die gesamte Bevölkerung gültiges Meinungsbild zu ermitteln. In Bürgerräten kann jeder und jede mit seiner oder ihrer Ansicht präsent sein, jede Stimme hat das gleiche Gewicht. Es gibt keine Hierarchien – und auch keine anderen Zwänge, wie beispielsweise die Fraktionsdisziplin in den Parlamenten.
Am Ende des Beratungsprozesses – nach vielen Diskussionen und der Anhörung von Experten – sollen dann konkrete Vorschläge stehen, die an die Politik übergeben werden und als Basis für politische Entscheidungen dienen können, aber nicht müssen. Die Politik ist an die Empfehlungen nicht gebunden.
Was können Bürgerräte leisten?
Der Wuppertaler Politikwissenschaftler Hans Joachim Lietzmann sieht in Bürgerräten eine Chance für die Politik, Vertrauen zurückzugewinnen. "Viele Menschen erkennen sich nicht mehr in den Parteien, in den Parlamenten", stellt er fest. Das Vertrauen in das politische System sei massiv geschwunden.
Betrachtet man Studien und Umfragen zur Politikverdrossenheit, ist ein Gegensteuern tatsächlich dringend nötig. Laut einer Umfrage im Auftrag der Körber-Stiftung von Ende 2021 vertrauen nur 50 Prozent der Deutschen der Demokratie, nur 20 Prozent vertrauen den Parteien.
Hohe Unzufriedenheit mit der Demokratie besonders in Ostdeutschland
Alarmierende Zahlen lassen sich viele finden. Der Deutschland-Monitor für 2022 ergab, dass nur noch gut jeder dritte Ostdeutsche mit der Demokratie in Deutschland zufrieden ist. Weniger als ein Prozent der Ostdeutschen sind Mitglieder einer Partei.
Nach Ansicht des Soziologen Steffen Mau gibt es in Ostdeutschland ein großes Interesse an basisdemokratischen Organisationsformen und Verhandlungsformaten jenseits von Parteien. Das hänge auch mit den Erfahrungen nach dem Zusammenbruch der DDR zusammen, als DDR-Bürgerinnen und Bürger bei Runden Tischen und in politischen Bewegungen wie dem Neuen Forum zusammenkamen. Zum ersten Mal konnten sie sich als politische Subjekte verstehen. Mit der Wiedervereinigung 1990 war "das Gefühl eines riesigen Möglichkeitsraumes" vorbei, sagt der in Rostock geborene Soziologe.
Bürgerräte knüpften einerseits an diese früheren Erfahrungen Ostdeutscher an, und gingen andererseits über sie hinaus. Trotz der großen Wahrscheinlichkeit, dass dort dann auch rechte Populisten vertreten sein könnten, werden laut Mau in demokratischen Foren sehr radikale Meinungen tendenziell abgedimmt und die "leise" Mitte kann sich stärker artikulieren und durchsetzen. Deswegen hält er Bürgerräte „für eine ideale Form“.
Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, die Bürgerinnen und Bürger stärker in politische Prozesse einzubinden. Eine Institution, die dafür kräftig trommelt, ist der Verein "Mehr Demokratie". Nach einer vom Verein veröffentlichten Umfrage sind rund 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger dafür, dass die parlamentarische Demokratie in Deutschland durch mehr Mitwirkungsmöglichkeiten ergänzt wird. Rund 64 Prozent befürworten demnach die Einführung von Bürgerräten.
Welche Bürgerräte gab es bereits?
Bürgerräte gibt es in Deutschland auf Bundes-, Landes- und auf kommunaler Ebene. Der erste bundesweite Rat tagte 2019 zum Thema Demokratie. Es folgten weitere bundesweite Bürgerforen, unter anderem zu Deutschlands Rolle in der Welt und zum Klimaschutz.
Zuletzt beschäftigte sich ein Bürgerrat mit der Ernährungspolitik. Im Februar 2024 überreichte er seine Vorschläge an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas.
Der Bürgerrat schlägt unter anderem kostenfreies, gesundes Mittagessen für Kinder in Schulen und Kitas, eine Tierwohlabgabe und ein Mindestalter für Energy-Drinks vor. Er geht auf eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung zurück. Es ist das erste Mal, dass ein solcher Rat durch den Bundestag eingesetzt wurde.
Welche Kritik gibt es an Bürgerräten?
Vergangene Bürgerräte wurden weniger offiziell implementiert – und ihre Empfehlungen überwiegend nicht umgesetzt. Ein Bürgerrat unter der Schirmherrschaft des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler zur Klimapolitik hatte 2021 beispielsweise ein Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen befürwortet. Auch andere Vorschläge wurden nicht in konkrete Politik übertragen.
Doch weil der Bürgerrat zu Ernährung vom Parlament eingesetzt wurde, sind die Erwartungen dieses Mal größer. Aus Sicht des Politologen Frank Decker ist das der entscheidende Prüfstein zur Sinnhaftigkeit solcher Bürgerräte: Werde auch der vom Bundestag eingesetzte Rat nicht ausreichend ernst genommen, sei das Konzept von Bürgerräten gescheitert.
Modellprojekt in zehn ausgewählten Kommunen
Auch in den Ländern und Kommunen gibt es immer wieder Bürgerräte. In einem Modellprojekt setzten beispielsweise 2022 zehn ausgewählte Kommunen in Deutschland sogenannte Zukunftsräte ein, die Empfehlungen für die Kommunalpolitik entwickeln sollen.
In Berlin und Stuttgart debattierten Bürgerinnen und Bürger darüber, mit welchen Maßnahmen die Stadt das Klima schützen soll.
In Sachsen gab es ein "Forum Corona", das über die Pandemie und ihre gesellschaftlichen Folgen beriet. Das Landeskabinett beschäftigte sich zwar mit den Ergebnissen, versäumte es aber, Maßnahmen, die das Corona-Forum vorgeschlagen hatte, einzuführen, kritisiert der Verein "Mehr Demokratie".
Wahlkreistage als neues Format
Ein weiteres Experiment nach dem Vorbild der Bürgerräte ist "Hallo, Bundestag", ein Projekt der Denkfabrik "Es geht LOS": In zunächst sechs Wahlkreisen, verteilt über ganz Deutschland, wird das Format der Wahlkreistage erprobt. Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet und bewertet. Ziel des Projektteams ist es, dem Bundestag Wahlkreistage als feste Institution zu empfehlen.
Welche Grundsatzkritik gibt es an Bürgerräten?
In einer Demokratie lässt sich kaum etwas dagegen einwenden, dass Bürger sich engagieren und an der Willensbildung mitwirken. Dennoch werfen Bürgerräte eine grundlegende Frage auf: Wie viel direkten Einfluss sollen Bürgerinnen und Bürger in einer repräsentativen Demokratie haben? Deren Grundidee ist nun einmal, dass die Wählerinnen und Wähler ihre politische Macht an Vertreterinnen und Vertreter delegieren, die die politische Fragen aushandeln und entscheiden.
Die Kritik an Bürgerräten greift deswegen vor allem ihre Rolle im politischen System auf. Durch die Räte werde "die Bedeutung von Parlamenten unterminiert", sagt etwa die CDU-Abgeordnete Gitta Connemann:
"Der Bundestag kann jederzeit Experten aus Wissenschaft und Gesellschaft befragen. Es braucht keine Alibi-Parlamente, die per Los zusammengewürfelt werden."
Losverfahren und die Verantwortung für Entscheidungen
Kritiker wenden sich auch gegen das Losverfahren, mit dem die Teilnehmer von Bürgerräten ausgewählt werden. Wenn man die Teilnehmenden nicht demokratisch auswähle, sei ein Kernmerkmal der Demokratie nicht erfüllt. Bürgerräte müssten zudem – im Gegensatz zu demokratisch gewählten Abgeordneten – keine Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen.
Auch aus einer gänzlich anderen Perspektive gibt es Zweifel am Nutzen der Gremien. Da Bürgerräte nur beratend tätig sind und nichts entscheiden können, besteht die Sorge, dass sie als Alibi-Instrument betrachtet werden und die Politikverdrossenheit nur noch verstärken könnten, nämlich dann, wenn Politik den Empfehlungen nicht folgt.
Ob die Räte ein ernst zu nehmendes demokratisches Instrument sein können, hängt somit auch von ihrer Akzeptanz durch die Politik ab – und von deren Bereitschaft, dem Willen der Räte zu entsprechen.
(*) Wir haben einen falschen durch den richtigen Begriff ersetzt.
ahe, mkn, rwh, bd, pto, tha