
Politikverdrossenheit ist ein immer wieder diskutiertes Problem. Viele Bürgerinnen und Bürger haben das Gefühl, zu wenig Einfluss auf politische Entscheidungen zu haben. Formen der direkten Demokratie können hier helfen - darüber herrscht weitgehend Einigkeit. Neben Petitionsausschüssen, Volksentscheiden und Volksbegehren haben sich inzwischen auch Bürgerräte in der politischen Landschaft etabliert. Obwohl sie keine Entscheidungsbefugnisse haben, werden sie medial und politisch beachtet. Befürworter sehen in ihnen eine Möglichkeit, die Teilhabe von Bürgern am politischen Prozess zu stärken. Doch es gibt auch deutliche Kritik an Bürgerräten.
Wie funktioniert ein Bürgerrat?
Der Bürgerrat ist ein Instrument der direkten Demokratie und soll die Politik beraten. Er wird zu einem bestimmten Thema eingesetzt, seine Mitglieder werden über die kommunalen Melderegister per Losverfahren bestimmt. Dabei wird darauf geachtet, dass der Rat den Querschnitt der Bevölkerung repräsentiert: Kriterien hierfür sind Geschlecht, Alter, Bildungsstand, die Größe der Herkunftsgemeinde und ein möglicher Migrationshintergrund.
Dieser Umstand macht Bürgerräte demokratietheoretisch attraktiv: Denn durch die bewusst repräsentative Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, ein auch für die gesamte Bevölkerung gültiges Meinungsbild zu ermitteln. In Bürgerräten kann jeder und jede mit seiner oder ihrer Ansicht präsent sein, jede Stimme hat das gleiche Gewicht. Es gibt keine Hierarchien - und auch keine anderen Zwänge, wie beispielsweise die Fraktionsdisziplin in den Parlamenten.
Am Ende des Beratungsprozesses - nach vielen Diskussionen und der Anhörung von Experten - sollen dann konkrete Vorschläge stehen, die an die Politik übergeben werden und als Basis für politische Entscheidungen dienen können, aber nicht müssen. Die Politik ist an die Empfehlungen nicht gebunden.
Was können Bürgerräte leisten?
Der Wuppertaler Politikwissenschaftler Hans Joachim Lietzmann sieht in Bürgerräten eine Chance für die Politik, Vertrauen zurückzugewinnen. "Viele Menschen erkennen sich nicht mehr in den Parteien, in den Parlamenten", stellt er fest. Das Vertrauen in das politische System sei massiv geschwunden. "Wir brauchen neue Möglichkeiten, die Gesellschaft sichtbar werden zu lassen – und zwar für sich selber. Dass sie nicht nur repräsentiert wird, sondern dass sie sich repräsentiert sieht, dass sie sich aufgehoben fühlt in den politischen Systemen. Bürgerräte können einer der Wege dorthin sein."
Betrachtet man Studien und Umfragen zur Politikverdrossenheit, ist ein Gegensteuern tatsächlich dringend nötig. Laut einer Umfrage im Auftrag der Körber-Stiftung von Ende 2021 vertrauen nur 50 Prozent der Deutschen der Demokratie, 30 Prozent vertrauen ihr weniger bis gar nicht. Lediglich 32 Prozent haben Vertrauen in Bundestag und Bundesregierung, nur 20 Prozent vertrauen den Parteien.
Hohe Unzufriedenheit mit der Demokratie
Alarmierende Zahlen lassen sich viele finden. Der Deutschland-Monitor für 2022 ergab, dass nur noch gut jeder dritte Ostdeutsche mit der Demokratie in Deutschland zufrieden ist. Die ermittelten 39 Prozent Zustimmung bedeuten neun Prozentpunkte weniger als noch 2020. Mit 59 Prozent ist die Zufriedenheit mit der Demokratie unter den Westdeutschen sehr viel höher. Aber auch hier sank die Zustimmung um sechs Prozentpunkte.
Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, die Bürgerinnen und Bürger stärker in politische Prozesse einzubinden. Eine Institution, die dafür kräftig trommelt, ist der Verein "Mehr Demokratie". Nach einer vom Verein veröffentlichten Umfrage sind rund 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger dafür, dass die parlamentarische Demokratie in Deutschland durch mehr Mitwirkungsmöglichkeiten ergänzt wird. Rund 64 Prozent befürworten demnach die Einführung von Bürgerräten. Über 56 Prozent glauben, dass die Demokratie durch bundesweite Volksentscheide gestärkt würde. Für einen Volkseinwand, also die Möglichkeit, Gesetzentwürfe per Volksentscheid zu stoppen, sind rund 67 Prozent.
"Wenn die beteiligten Bürgerinnen und Bürger ihre Erfahrungen einbringen, wenn sie ernst genommen und gehört werden, kann diese besondere Form der Beteiligung das Vertrauen in die Politik in unserem Land stärken. Dann können die Bürgerräte die bewährten politischen Prozesse ergänzen und der repräsentativen Demokratie neue Impulse geben." (Wolfgang Schäuble (CDU), ehemals Schirmherr des Bürgerrates zum Thema Deutschlands Rolle in der Welt)
Welche Bürgerräte hat es schon gegeben und wie sind die Erfahrungen damit?
Bürgerräte gibt es in Deutschland auf Bundes-, Landes- und auf kommunaler Ebene. Der erste bundesweite Rat tagte 2019 zum Thema Demokratie. Es folgten weitere bundesweite Bürgerforen, unter anderem zu Deutschlands Rolle in der Welt und zum Klimaschutz.
Zuletzt hat der Bundestag einen Bürgerrat zum Thema Ernährung eingesetzt. Er soll sich mit Ernährungspolitik, Lebensmittelkennzeichnungen und Essensverschwendung befassen, ab Herbst tagen und bis Ende Februar 2024 Empfehlungen vorlegen.
Das neue Gremium geht auf eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung zurück. Es ist das erste Mal, dass ein solcher Rat durch das Parlament eingesetzt wurde. Der Bürgerrat zu Deutschlands Rolle in der Welt unter Schirmherrschaft des damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble (CDU) war vom Verein "Mehr Demokratie" initiiert worden.
Modellprojekt in zehn ausgewählten Kommunen
Auch in den Ländern und Kommunen gibt es immer wieder Bürgerräte. In einem Modellprojekt setzten 2022 zehn ausgewählte Kommunen in Deutschland sogenannte Zukunftsräte ein, die Empfehlungen für die Kommunalpolitik entwickeln sollen.
In Berlin debattierten hundert Bürgerinnen und Bürger drei Monate lang darüber, mit welchen Maßnahmen die Stadt das Klima schützen soll. Zum gleichen Thema tagt derzeit ein Rat in Stuttgart. In Baden-Württemberg trat von Oktober 2022 bis Januar 2023 ein Bürgerforum zum Thema „Krisenfeste Gesellschaft“ zusammen, ein anderes Forum beschäftigte sich mit der Landwirtschaft des Bundeslandes.
In Sachsen gab es ein "Forum Corona", das von Juli 2021 bis Januar 2022 digital über die Pandemie und ihre gesellschaftlichen Folgen beriet. Aus diesem Bürgerrat kamen schließlich 43 Empfehlungen und 190 Ideen zum Umgang mit Pandemien. Das Landeskabinett beschäftigte sich mit den Ergebnissen und veröffentlichte seinerseits Stellungnahmen zum Thema - es habe dabei aber vor allem Maßnahmen aufgezählt, die in der Vergangenheit bereits ergriffen worden seien, so der Verein "Mehr Demokratie": Neue Maßnahmen, die auf das Corona-Forum zurückzuführen wären, fänden sich "fast nirgendwo".
Das verweist auf ein Problem, dem sich Bürgerräte generell gegenübersehen. Ihre Ergebnisse und Stellungnahmen sind in der Regel sehr umfangreich und mit viel Engagement erarbeitet. Was die Politik dann damit macht, was politisch machbar oder gewollt ist, steht auf einem anderen Blatt. Soll heißen: Vieles bleibt auch einfach im Empfehlungs-Modus stecken und wird nicht umgesetzt. Befürworter der Bürgerräte verweisen aber darauf, dass die Gremien auch der politischen Bildung dienen und wichtige Impulse liefern, selbst wenn Vorschläge politisch nicht realisiert werden.
Welche Kritik gibt es an Bürgerräten?
In einer Demokratie kann man kaum etwas dagegen einwenden, dass Bürger sich engagieren und an der Willensbildung mitwirken. Dennoch werfen Bürgerräte eine grundlegende Frage auf: Wie viel direkten Einfluss sollen Bürgerinnen und Bürger in einer repräsentativen Demokratie haben? Deren Grundidee ist nun einmal, dass die Wählerinnen und Wähler ihre politische Macht an Vertreterinnen und Vertreter delegieren, die politische Fragen dann aushandeln und entscheiden.
Die Kritik an Bürgerräten greift deswegen vor allem ihre Rolle im politischen System auf. Durch die Räte werde "die Bedeutung von Parlamenten unterminiert", sagt etwa die CDU-Abgeordnete Gitta Connemann: "Der Bundestag kann jederzeit Experten aus Wissenschaft und Gesellschaft befragen. Es braucht keine Alibi-Parlamente, die per Los zusammengewürfelt werden."
Losverfahren und die Verantwortung für Entscheidungen
Kritiker wenden sich auch gegen das Losverfahren, mit dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Bürgerräten ausgewählt werden. Dieser Weg bringe nicht mehr Demokratie, sondern sei vielmehr eine Gefahr für diese, heißt es. Wenn man die Teilnehmenden nicht demokratisch auswähle, sei ein Kernmerkmal der Demokratie nicht erfüllt. Bürgerräte müssten zudem - im Gegensatz zu demokratisch gewählten Abgeordneten - keine Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen.
Auch aus einer gänzlich anderen Perspektive gibt es hin und wieder Zweifel am Nutzen der Gremien. Da Bürgerräte nur beratend tätig sind und nichts entscheiden können, besteht die Sorge, dass sie als Alibi-Instrument betrachtet werden und die Politikverdrossenheit nur noch verstärken, wenn die Politik den Empfehlungen letztlich nicht folgt. Ob die Räte ein ernstzunehmendes demokratisches Instrument sein können, ist damit auch stark von ihrer Akzeptanz in der Politik abhängig - und von der Bereitschaft, dem Willen der Räte zu entsprechen.
Gibt es Bürgerräte auch in anderen Ländern?
Deutschland ist nicht das erste Land, das seine Bürgerinnen und Bürger mit Räten am politischen Prozess beteiligt. Das große Vorbild ist Irland mit der "Citizens‘ Assembly". Wie in Deutschland werden Bürgerinnen und Bürger des Rates repräsentativ zusammengestellt. Außerdem kann jeder dem Rat Vorschläge und Eingaben vorlegen. Auch Anhörungen von Organisationen, Betroffenen oder Experten können beantragt werden. Vor einigen Jahren beschäftigte sich der Rat mit dem Thema Abtreibung - und sein Votum führte im katholischen Irland tatsächlich zu einem liberaleren Abtreibungsrecht. Momentan ist die "Citizens‘ Assembly" mit dem Thema Drogen beschäftigt.
Bürgerversammlung zum Thema Sterbehilfe in Frankreich
In Frankreich hat ein Bürgerrat jetzt empfohlen, unter strengen Bedingungen aktive Sterbehilfe zuzulassen und jedem Bürger ein einklagbares Recht auf Palliativmedizin einzuräumen. Der französische Präsident Macron hat aber bereits betont, dass die Empfehlungen des Rats nicht direkt in die Gesetzgebung einfließen sollen. Sie dienten vielmehr dazu, die parlamentarische Debatte anzureichern.
In Belgien hat sich gerade ein Rat mit der Parteienfinanzierung befasst. Weitere Länder, in denen Bürgerräte am politischen Prozess teilhaben, sind unter anderen Australien, Dänemark, Finnland, Großbritannien, Luxemburg, Österreich, Polen und Spanien. Und auch auf EU-Ebene gibt es Bürgerforen: Hier kommen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.
ahe, rwh, bd, epd, afp