Donnerstag, 28. März 2024

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Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe
"Geschichte wird immer von Menschen gemacht"

Sie gehörte zur DDR-Opposition, gründete die Bürgerbewegung "Demokratie jetzt!" mit und beschäftigt sich seit dem Mauerfall mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Neben der bedrückenden Überwachung erinnert sie im Deutschlandfunk-Gespräch auch an viele Helfer, etwa einen Taxifahrer, der mit ihr Stasi-Verfolger abschüttelte.

Ulrike Poppe im Gespräch mit Birgit Wentzien | 27.11.2014
    Ulrike Poppe (geb. Wick), Bürgerrechtlerin und DDR-Oppositionelle, erste Brandenburger Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur seit dem 1. März 2010.
    "Wir selbst haben uns Oppositionelle genannt" - Ulrike Poppe sah sich zunächst nicht als Bürgerrechtlerin. (Deutschlandradio / Bettina Straub)
    Sprecherin: Als die DDR-Diktatur vor 25 Jahren schrittweise unter dem Druck ihrer Bevölkerung friedlich zusammenbrach, war dies vor allem ein Sieg der Bürgerbewegung. Eine der führenden Vertreterinnen dieser selbstbewussten Oppositionsgruppe war die 1953 in Rostock geborene Ulrike Poppe. Schon zu Beginn der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts engagierte sie sich unter anderem im Netzwerk "Frauen für den Frieden" und in der Initiative für Frieden und Menschenrechte. 1983 wurde sie zusammen mit Bärbel Bohley wegen Verdachts auf landesverräterische Nachrichtenübermittlung verhaftet und in die berüchtigte Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen verbracht. Massive Proteste aus dem In- und Ausland führten jedoch dazu, dass Ulrike Poppe schon nach sechs Wochen wieder freigelassen wurde. Im Jahr der friedlichen Revolution, 1989, war sie Mitbegründerin der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt!" und saß mit am zentralen runden Tisch. Seit März 2010 ist Ulrike Poppe Brandenburger Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur. Sie ist Vorstandsmitglied des Vereins "Gegen Vergessen – Für Demokratie", fungiert als Mitglied des Fachbeirates "Gesellschaftliche Aufarbeitung" der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur sowie im Beirat der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Ulrike Poppe hat aus ihrer ersten Ehe mit dem Bürgerrechtler Gerd Poppe zwei Kinder und ist seit 2001 mit dem Politologen Klaus Offe verheiratet.
    Ulrike Poppe: Haltet eure Klappe in der Schule, redet nicht drüber, verbaut euch nicht den Lebensweg.
    Sprecherin: Jugend und frühes Aufbegehren in der DDR.
    Birgit Wentzien: Sie sind eine Revolutionärin, Frau Poppe.
    Poppe: Der Begriff erscheint mir etwas zu bombastisch. Der Begriff Bürgerrechtler ist uns sozusagen zugewachsen, als solche wurden wir bezeichnet während der Herbstrevolution, aber wir selbst haben uns Oppositionelle genannt in den 80er-Jahren.
    Wentzien: Aber es war eine Revolution.
    Poppe: Es war zweifellos eine Revolution.
    Wentzien: Wann wurde Ulrike Poppe zur Landesverräterin in der DDR?
    Poppe: Ja, das ist ja nun auch eine Bezeichnung, die die DDR-Justiz uns verliehen hat oder mir verliehen hat zum Beispiel im Zusammenhang mit einer Inhaftierung, das war Ende 1983, da wurde ich auf der Grundlage des Paragrafen 99, Landesverrat, in Haft genommen.
    "Eine konterrevolutionäre Aktion" in der Schule
    Wentzien: Hineingeboren 1953 in Rostock, schreiben Sie selber, Kindheit und Jugend in der DDR, in einem Kinderheim gearbeitet haben Sie damals, in der psychiatrischen Klinik der Charité, als Assistentin dann am Museum für Deutsche Geschichte in Berlin, und Sie schreiben und sagen: Ich begann in der DDR, damals – nämlich in dieser Zeit – anzuecken. Wie muss ich mir das vorstellen? Was gab es da für einen Grund? Warum eckten Sie an?
    Poppe: Das geht eigentlich schon auf die Schulzeit zurück. Schon in der Schulzeit hatte ich Auseinandersetzungen mit den Lehrern, eine heftige Auseinandersetzung, da war ich in der neunten Klasse, entstand dadurch, dass ich mit zwei Mitschülern zusammen einen Brief schrieb, aber nie absandte, an die Volkskammer. Dieser Brief beinhaltete Fragen, Fragen von 15-jährigen Schülern bezogen auf die deutsche Wiedervereinigung und auch bezogen auf China. Wir konnten nicht verstehen, weshalb es Probleme gab zwischen dem kommunistischen China und der kommunistischen Sowjetunion. Und das ist von einer Mitschülerin ihrem Vater erzählt worden, der Vater war Parteifunktionär, er ging zum Kreisschulrat und der Kreisschulrat kam dann zum Direktor unserer Schule, und es hieß, es sei eine konterrevolutionäre Aktion in Gang gesetzt worden durch ein Schreiben, für das wir angeblich Unterschriften gesammelt hätten, was aber eigentlich gar nicht der Fall war. Jedenfalls gab es etliche Aussprachen, und der Klassenlehrer kam dann auch sehr aufgeregt zu meinem Vater nach Hause, und ich horchte an der Tür und hörte meinen Vater mir ruhiger Stimme sagen: "Nun regen Sie sich doch nicht so auf, Herr Dr. Berger. Das sind doch noch Kinder. Die haben einfach ein paar Fragen. Da kann man doch ganz gelassen reagieren, da müssen Sie doch nicht so eine große Sache draus machen." Aber die Sache blieb groß und zog sich dann auch viele Monate hin, und am Ende wurde verkündet vor großem Publikum sozusagen in der Schule, Parteisekretär, Kreisschulrat und so weiter, alle waren da, und da wurde gesagt, dass wir drei also gezeigt hätten, dass wir nicht die ausreichende politische Reife hätten, allerdings: Bei der Mitschülerin und bei mir sei zu erwarten gewesen, da unsere Väter Mitglieder der SED waren, dass wir noch durch das Elternhaus auf den richtigen Weg geleitet würden. Aber der dritte Mitschüler, deren Eltern waren in der evangelischen Kirche, er war in der Jungen Gemeinde, und der flog von der Schule – war übrigens der Klassenbeste. Und das hat mich doch damals schon sehr empört, hat uns eigentlich alle empört. Aber zunächst waren wir uns einig: Also wenn dieser Achim, hieß der, wenn der von der Schule fliegt, dann gehen wir alle – aber das war natürlich nicht durchzuhalten. Und ich blieb dann auch bis zum Abitur an dieser Schule, aber bekam dann nur so einen negativen Satz aufs Zeugnis, was nicht weiter schlimm war und was mir trotzdem einen Studienplatz, nicht meinen Wunschstudienplatz, aber eben einen Studienplatz ermöglicht hatte.
    Wentzien: Haben Ihre Eltern Ihnen geholfen damals? Sie haben angedeutet: Ihr Vater war in der Partei.
    Poppe: Meine Eltern haben immer hinter mir gestanden, also auch in noch schwereren Zeiten und noch größeren Konflikten. Überhaupt kam vom Elternhaus eigentlich eher eine sehr liberale Erziehung. Ihnen war es wichtig, dass wir ein eigenes Urteil uns bilden. Allerdings war das immer damit verbunden, mit der Mahnung: Aber äußert es nicht! Haltet eure Klappe in der Schule, redet nicht drüber. Zu Hause können wir alles sagen, können wir über alles reden, aber in der Schule: Verbaut euch nicht den Lebensweg! Das war sozusagen die Botschaft unserer Eltern und, wie ich inzwischen weiß, der Generation an die nächste, also von vielen.
    Wentzien: Also man lebte zwei Leben, eines "entre murs", zu Hause, und das andere war das öffentliche, wo man wusste: Man kann gar nicht alles sagen.
    Poppe: Ja, wobei ich das nicht akzeptiert habe. Ich habe trotzdem immer sehr gerne diskutiert, sehr früh damit angefangen, mich auch sehr früh für Politik interessiert. Meine Lieblingssendung war der "Weltspiegel", den ich immer mit meinem Vater geguckt habe Sonntag abends und auch mit ihm viel diskutiert habe, und mit meiner Mutter auch, die auch gerne diskutierte. Und ich hielt auch dann im Studium ... Ich fing an, in Berlin Kunsterziehung und Geschichte zu studieren, das war ein Lehrerstudium. Eigentlich wollte ich nie wirklich Lehrerin werden, aber man sagte mir, ... also es wurde ja für das Lehrerstudium geworben und irgendwie war ich etwas unentschlossen und mir wurde dann geraten: Na, fange erst mal an mit der Kunsterziehung, und wenn sich herausstellt, dass du ausreichend talentiert bist, dann kannst du ja vielleicht auf die Kunsthochschule wechseln. Das war so mein heimlicher Wunsch. Aber ich habe tatsächlich dann gemerkt, dass mein Talent da überhaupt nicht ausreicht.
    Ulrike Poppe bei einem gemeinsamen Auftritt mit Bundespräsident Joachim Gauck im Juni 2014.
    Ulrike Poppe bei einem gemeinsamen Auftritt mit Bundespräsident Joachim Gauck im Juni 2014. ( AFP PHOTO / JOHN MACDOUGALL)
    "Wespen" für den Frieden
    Sprecherin: Deutschlandfunk, das "Zeitzeugen"-Gespräch, heute mit der ehemaligen DDR-Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe.
    Poppe: Die SED-Führung hat ja nur das wahrgenommen, wenn etwas in der westlichen Öffentlichkeit erschien.
    Sprecherin; Ost-westliches Friedensengagement: Opposition und Verhaftung.
    Wentzien: Wir springen ein wenig, und zwar in die 80er-Jahre, 1982 an aufwärts. Ulrike Poppe gehört zu "Frauen für den Frieden" und im Stasi-Deutsch waren sie eine der Wespen, so hat man sie tituliert.
    Poppe: Was wir damals nicht wussten, also was wir dann bloß erst in den Stasi-Akten gefunden haben, dass man uns als Wespen bezeichnet hat.
    Wentzien: Sie haben mit anderen Frauen damals an den DDR-Staatsrat geschrieben und Sie wollten nicht gleichgültig, haben Sie damals geschrieben, und nicht schweigend Ihre Zustimmung zu einem Gesetz geben, wonach Frauen in die Wehrpflicht im Fall einer Mobilmachung einbezogen werden. Militärische Abschreckung, Friedenspolitik – das waren die Themen damals. Wie fand man sich zusammen? Also diejenigen, die aneckten, hatten die eine Ahnung voneinander, kannten die einander? Wie entstand da diese Gruppe "Frauen für den Frieden"?
    Poppe: Es gab ja schon in den 70er-Jahren so verschiedene Zusammenhänge, in denen diskutiert wurde. Es gab da zum Beispiel die konspirativ arbeitenden Gruppierungen, wo man eigentlich schwer reinkam, nur sozusagen durch einen Bürgen, also wenn man durch irgendjemanden mitgebracht wurde dorthin, und da wurde das Bahro-Buch – von Rudolf Bahro die Alternative – diskutiert und es wurden Westbücher beschafft und gelesen und kopiert. Und Ende der 70er-Jahre, auch in Zusammenhang mit der weltweiten Friedensbewegung, die ja begann, als dieser NATO-Nachrüstungsbeschluss einsetzte, in dem Zusammenhang lösten sich diese Gruppen weitgehend auf. Einige wenige entschieden sich für den Weg durch die Institutionen, traten in die Partei ein und lösten die Kontakte zu den Kritikern des Systems, einige gingen in den Westen, und einige versuchten, in einer neuen Form aktiv zu sein, nämlich in offenen Gruppen, oft im Zusammenschluss mit kirchlichen Gruppen, die aus der sogenannten Soft-Initiative kamen – das war eine Aktion für einen sozialen Friedensdienst –, also auch aus der Wehrdienstverweigerer-Bewegung und aus der offenen Arbeit der evangelischen Kirche. Und da hatte sich so eine gute Verständigung ergeben zwischen diesen beiden Gruppen, und hinzu kam ja auch noch mal, durch die Biermann-Ausbürgerung aktiviert, kamen Teile aus der Kulturszene, kritische Autoren, Liedermacher, Musiker, und das war dann die Gemengelage, aus der dann diese neuen Gruppen in den 80er-Jahren entstanden, die sich bald aufteilten in Friedensgruppen, Frauengruppen, Menschenrechtsgruppen, Ökologiegruppen, Dritte-Welt-Gruppen, Minderheitengruppen, alles mögliche.
    Wentzien: Das war alles so um 1983 herum, also in der ersten Hälfte.
    Poppe: Anfang der 80er-Jahre, ja.
    Interventionen aus dem Westen
    Wentzien: Sie haben den Westen erwähnt, Frau Poppe. Die deutsche Frage, die war eigentlich damals weitgehend vom Tisch. Entspannung hat eingesetzt. Und die Autorin und Zeitzeugin Ulrike Poppe schreibt in einem wissenschaftlichen Artikel über das Selbstverständnis und über die politische Rolle oppositioneller Gruppen der 80er-Jahre: "Der Westen schien sich mit der Verewigung des Status quo abgefunden zu haben. Die Herrschenden in beiden Blöcken waren sich einig, dass um der Sicherheit willen die geopolitische Nachkriegsordnung nicht angetastet werden dürfe." Wer, um Himmels Willen – in dieser Großwetterlage –, wer hat im Westen überhaupt von Ihnen gewusst?
    Poppe: Es gab eine Initiative, die nannte sich "END", "European Nuclear Disarmament", eine blockübergreifende Friedensbewegung, der wir uns zugehörig fühlten, und wir durften zwar nie zu den sogenannten "END"-Konferenzen fahren, die immer in verschiedenen Ländern stattfanden jedes Jahr ab Anfang der 80er-Jahre, aber wir bekamen Kontakt zu denen, die an diesen Konferenzen teilnahmen. Und als 1982 eine "END"-Konferenz in Westberlin stattfand, da kamen sehr viele Vertreter von dieser Konferenz zu uns nach Ostberlin, und von da an hielten wir doch zu etlichen Friedensgruppen Kontakt. Das waren also Norweger, Holländer, sehr viele Holländer, das waren Österreicher, Franzosen, Amerikaner, Japaner.
    Wentzien: Westdeutsche.
    Poppe: Westdeutsche auf jeden Fall auch, also aus vielen Ländern. Und das wurde dann auch fruchtbar. Zum Beispiel, als ich dann zusammen mit Bärbel Bohley inhaftiert wurde, da haben diese Friedensgruppen sich fast alle engagiert für uns und haben Aufrufe gestartet und haben Solidarität gezeigt.
    Wentzien: Also diese Gruppen haben dafür gesorgt, weil sie eben Sie kannten auch, die Großwetterlage war nicht danach, aber weil sie Sie kannten, dass Sie damals – sechs Wochen in Haft – wieder freikamen?
    Poppe: Es waren diese Gruppen, aber es war eigentlich noch mehr. Es waren auch Petra Kelly und Gert Bastian, die ja doch beste Beziehungen hatten, und Petra Kelly selbst hat Willy Brandt angesprochen und ihn gebeten, bei Honecker zu intervenieren, was er auch getan hat. Sie hat sich auch an den damaligen französischen Außenminister gewandt und auch an Olof Palme, und alle drei haben, so viel ich weiß, auch sich an Honecker gewandt. Diese diplomatischen Kanäle mögen auch einen Anteil daran gehabt haben, aber auch die evangelische Kirche. Also manche einzelne Pastoren haben – das war ja eine Inhaftierung über Weihnachten –, haben am Heiligabend zum Beispiel Fürbittgottesdienste für uns abgehalten. Also es gab wirklich sehr umfassende Solidarität, die dafür verantwortlich ist, dass tatsächlich die politisch Verantwortlichen in der DDR die Entscheidung fällten, uns wieder herauszulassen.
    Hilfe aus dem Westen
    Wentzien: Wo waren Sie damals in Haft? Zusammen mit Bärbel Bohley?
    Poppe: Wir waren in Hohenschönhausen, Bärbel und ich.
    Wentzien: Und gab es irgendjemanden offiziellen Westdeutschen, also einen Regierungsvertreter, einen Diplomaten, irgendjemanden, der selber auch mal da was gemacht hat für Sie, für Sie beide? Oder war das diese Friedensbewegung und waren es die Grünen an der Stelle?
    Poppe: Also es waren Teile der Grünen, aber es kamen auch einzelne Personen aus anderen Parteien rüber, die uns halfen. Das waren nie die Parteien selbst, sondern das waren Einzelpersonen, die sich engagierten, das war Gert Weisskirchen beispielsweise oder Freimut Duve. Und es waren auch eine ganze Reihe von Journalisten, auch später dann akkreditierte Journalisten, die sich sehr für uns eingesetzt haben, die vor allen Dingen eben solche Inhaftierungen öffentlich gemacht haben, und das hat ja wieder ermöglicht, dass sich diese Solidarität verbreitern konnte und hat auch Druck erzeugt, denn die SED-Führung hat ja nur das wahrgenommen oder für die war nur das dann ein entsprechender Druck, Handlungsdruck, wenn etwas in der westlichen Öffentlichkeit erschien. Und deshalb war es uns auch wichtig, dass wir interne Informationskanäle ausbauten, um zu ermöglichen, dass wir sozusagen jedes Unrecht, was passiert, auch öffentlich machen können, dass wir das in Berlin erfahren, dass wir das weitergehen. Das haben wir nachher durch so eine Einrichtung wie ein Kontakttelefon, aber das war dann schon Ende der 80er-Jahre, zum Beispiel versucht.
    Wentzien: Können Sie sich noch an Einzelheiten aus dieser Zeit, diese sechs Wochen, erinnern? Wissen Sie noch, wo Sie da untergebracht waren? Haben Sie den Ort selber mal wieder aufgesucht?
    Poppe: Oh ja, ich kann mich an alles erinnern noch. Das gräbt sich ja ins Gedächtnis ein, so ein außergewöhnliches Erlebnis. Also ich bin eines Morgens festgenommen worden, wobei ich sagen muss, dass das nicht ganz unerwartet kam. Erstens haben wir grundsätzlich mit Verhaftungen gerechnet, und zwar genau auch in dem Spätherbst 1983, weil da war der Nachrüstungsbeschluss durch, das heißt also, der Bundestag hat zugestimmt – und formell natürlich auch die Volkskammer, der Stationierung von Atomraketen auf den deutschen Territorien – und danach brachen erst mal so die Friedensinitiativen zusammen, weil das wichtigste Ziel nicht erreicht wurde im Westen. Und wir haben uns gedacht, dass danach dann der Zeitpunkt da ist, wo die Staatsmacht zuschlägt, weil sie vorher ja noch irgendwie ein paar Friedensinitiativen im Westen auch unterstützt hat, die sich gegen die Stationierung von Pershing-Raketen wandten. Also wir haben uns drauf vorbereitet, wir haben Vollmachten geschrieben für die Betreuung unserer Kinder – wir mussten ja damit rechnen, mein Mann und ich, dass wir beide verhaftet werden. Wir haben Schlüsselvollmachten für die Nachbarin geschrieben, Vollmachten für einen Anwalt, und es gab sogar ein Verhörstraining. Da habe ich zwar nicht teilgenommen aus irgendeinem Grund, aber die Mitglieder der Frauengruppe haben sich trainieren lassen, wie man sich im Verhör verhält. Ich kannte mich sehr gut aus in der Strafprozessordnung, ich wusste also, welche Rechte ich habe und welche ich nicht habe, dass ich zum Beispiel als Beschuldigte das Recht habe, nichts zu sagen, und das Recht habe auch, zu lügen, das wusste ich, als Zeugin hat man das nicht, aber als Beschuldigte – also solche Sachen. Der unmittelbare Anlass für die Inhaftierung war ein Treffen mit einer neuseeländischen Staatsbürgerin, die aber in Großbritannien lebte, an der Universität war in Brighton, das war Barbara Einhorn, und die kam in die DDR, ist ja auch deutschstämmig, kam in die DDR, um über die Situation der Frauen in der DDR eine Studie zu erstellen, und sie war auch bei der Redaktion der Frauenzeitschrift "Für Dich", und sie war auch beim DFD, dem Demokratischen Frauenbund Deutschlands, und sie war eben auch bei uns als unabhängige Frauengruppe. Und wir verbrachten einen Abend mit ihr, vier Frauen und ein Mann und sie, und sie machte sich Notizen, ist mit diesen Notizen an der Grenze festgenommen worden, saß auch einige Tage in Haft, und wir erfuhren auch, dass sie in Westberlin nicht angekommen war und ahnten schon, dass irgendwas passiert sei. Und am, ich glaube, das war ein Montagmorgen, ich war mit meinen Kindern beim Arzt, und als ich aus der Polyklinik heraustrat, kamen mehrere Männer und eine Frau auf mich zu, sie umringten uns und ich sollte ins Auto einsteigen und die Kinder abgeben. Da habe ich mich natürlich geweigert, die Kinder abzugeben und habe gesagt: Ich bringe sie erst nach Hause zu meinem Mann. Und nach langem Hin und Her hat die Staatssicherheit nachgegeben. Ich ging also in Begleitung von der Stasi nach Hause, und zu Hause war dann die Hausdurchsuchung schon im vollen Gange, ich konnte aber noch mein Adressbuch verstecken. Ich habe so ein bisschen noch mitgekriegt, also ich habe den Grund dann erfahren der Verhaftung, dass das mit Barbara Einhorn zu tun hatte. Ja, und dann haben sie mich erst mal in die Ruschestraße gebracht zur Vernehmung, ich wurde viele Stunden vernommen, dann durfte ich so für anderthalb Stunden oder so mich in einem Nebenzimmer hinlegen, und dann wurde ich wieder reingerufen und da wurde mir verkündet, dass ein Ermittlungsverfahren eröffnet worden sei mit Haft, und dann brachte man mich nach Hohenschönhausen.
    Eine nachgebaute Verhörzelle der Stasi im DDR-Museum in Berlin.
    Eine nachgebaute Verhörzelle der Stasi im DDR-Museum in Berlin. (Wolf-Sören Treusch)
    Mikrofone in den Wänden
    Sprecherin: Sie hören das "Zeitzeugen"-Gespräch des Deutschlandfunks, heute mit der ehemaligen DDR-Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe.
    Poppe: Wir haben versucht, ein ganz normales Leben zu führen. Wir hatten ja gar keine andere Wahl.
    Sprecherin: Alltag im Überwachungsstaat DDR und die Solidarität der Menschen als Lichtblick.
    Wentzien: Beobachtet und abgehört rundherum: Das Telefon zu Hause, im Haus gegenüber, Frau Poppe, waren Kameras, Ihr Telefon am Arbeitsplatz wurde abgehört, das Telefon selbst im Nachbarbüro wurde abgehört. Ihr Mann ist, glaube ich, mal auf einen Tisch gestiegen, auf den zentralen Küchentisch, und hat ein Mikrofon in der Decke entdeckt, dass so intensiv und sensibel war, dass es wirklich alles an Geräuschen aufnehmen konnte und übertragen konnte. Wie muss ich mir das vorstellen? Also Sie wussten darum, mussten damit umgehen und hatten überhaupt gar keine Privatheit mehr. Wie macht man das?
    Poppe: Also erst mal: Wir hatten ganz hervorragende, nette, freundliche Mitbewohner im Haus, also Nachbarn, und unsere unmittelbare Nachbarin auf dem gleichen Flur im obersten Stockwerk hatte uns eines Tages erzählt, dass Sie Männer mit Messgeräten auf dem Boden – über uns war der Trockenboden – entdeckt hätte, und da sollten wir doch mal nachgucken. Und am nächsten Morgen ist mein Mann zu einer unüblichen Zeit von seiner Arbeit nach Hause gekommen, sah auch so einen Posten schon vor unserer Haustür stehen, und rannte dann hoch, da kamen ihm dann Männer entgegen, die an die Wand guckten und er ging dann hoch auf den Boden, hob die Dielen hoch, griff in die Schotterschicht, hatte einen Draht in der Hand, verfolgte den Draht und zog dann einen langen Keramikstab heraus, an dessen Spitze sich ein Mikrofon befand. Also das Mikrofon wurde von oben in die Decke gesteckt und das Ende des Stabes, also das Mikrofon, das steckte eben kurz hinter dem Putz, direkt über unserem Tisch, an dem immer so gewöhnlich die Gespräche stattfinden. Also wir hatten dieses Mikrofon. Mein Mann war ja Physiker, er hat es natürlich sofort auch ausprobiert, und wir stellten fest, also es ist ein hochempfindliches Mikrofon, und wussten von da an, dass es also auch wenig Sinn hat, zu flüstern. Gut sind Nebengeräusche, also Musik anmachen immer, wenn wir da irgendwie was erzählen, was die nicht unbedingt hören sollten, aber in der Regel konnte man sich nicht davor schützen. Also wir mussten natürlich damit rechnen, dass wieder ein neues Mikrofon eingebaut wird, was sich ja dann auch später dann durch die Akteneinsichtnahme bestätigt hat. Ja, Sie fragen, wie viel Privatheit war noch möglich? Wir haben versucht, ein ganz normales Leben zu führen. Wir hatten ja gar keine andere Wahl. Und wir haben gedacht: Na, dann hören die eben mit, jeden Streit um den Abwasch, jede persönliche Lebensäußerung. Nur ein paar Dinge, von denen wir nicht wollten, dass die das wissen, das haben wir auf Zettel geschrieben oder eben außerhalb der Wohnung besprochen. Ohnehin: Wenn Leute da waren, mussten wir damit rechnen, dass auch einer von ihnen vielleicht Spitzeldienste leistete. Also so sicher konnte man sich ja ohnehin nie sein, wobei ich sagen muss, so ungefähr eine Handvoll Menschen um mich herum – da war ich mir ganz sicher, und diese Hand hätte ich ins Feuer legen können, und heute weiß ich, diese Hand wäre nicht verbrannt. Also diese Sicherheit hat sich auch bestätigt. Aber es gab natürlich so im weiteren Rahmen Personen, von denen ich mir das vorstellen konnte, auch damals schon, und das hat sich bestätigt. Also wir haben ja nicht konspirativ gearbeitet, die Stasi konnte wissen, was wir denken, wir haben ja auch überall, mit allen Menschen auch gerne diskutiert darüber, wir wollten ja auch viele gewinnen, wir wollten viele miteinbeziehen in die kritische Diskussion über das System, über die Politik und über die Frage: Wie kann man mehr Partizipation einfordern, mehr Demokratie einfordern, was wollen wir eigentlich verändern und wo setzen wir an? Das waren ja keine Geheimnisse. Aber eben, dass die Privatheit doch eingeschränkt war, das habe ich eigentlich erst so richtig, so richtig gespürt, als ich – ich glaube, das war im Februar 1990 –, als ich plötzlich in der Zeitung las: Alle elektronischen Geräte sind abgeschaltet. Und da hatte ich das Gefühl plötzlich, es fällt so eine richtige Spannung von mir ab und ich habe wieder meine Privatheit zurückgewonnen, meine Wohnung gehört wieder mir und mein Leben interessiert keinen Menschen, wird nicht von irgendwem ausgewertet und verschriftlicht und zu irgendwas missbraucht, sondern mein Leben gehört mir.
    Wentzien: Sechs Wochen Untersuchungshaft, Sie haben es gesagt, mehr als ein Dutzend Verhaftungen ja insgesamt, und Ihr damaliger Mann Gerd Poppe und Sie, Sie hatten unter anderem Marianne Birthler ja eine Vollmacht gegeben für Ihre Kinder, sollte Ihnen und Ihrem Mann etwas passieren. Wenn Sie an diese Zeit zurückdenken – Sie haben gerade intensiv davon gesprochen –, was geht Ihnen heute durch den Kopf? Sie sagten, man habe mit einer Verhaftung gerechnet, aber die Kinder waren da, die Familie war da, man musste ja irgendwie im Alltag auch damit umgehen. Wenn Sie heute diese Zeit noch mal bedenken – also wie hat man das überhaupt im Alltag gestemmt, mit welcher Kraft oder mit welchem Antrieb, immer wissend, dass man natürlich gegen den Staat arbeitet und der Staat eben so allmächtig ist, dass er einem auf die letzte Hautschicht auch nahekommt?
    Poppe: Diese Kraft war durchaus nicht immer da. Also es war schon auch eine Zeit zwischen Hoffnung und Zweifel, also eine Zeit, in der wir doch immer mal wieder darüber nachdachten und auch darüber sprachen: Schaffen wir das noch? Halten wir das aus? Stehen wir das durch? Hat das alles einen Sinn? Oder geben wir auf und gehen in den Westen? Die Möglichkeit hätten wir ja gehabt, weil der Staat ja zunehmend daran interessiert war, diejenigen, die sich ihm gegenüber kritisch äußern, loszuwerden. Aber irgendwie gab es auch in Situationen der Depression wieder Hoffnungsmomente, vor allem dadurch, dass immer wieder auch neue Leute dazukamen, die gesagt haben: Ich habe mich jetzt entschieden, ich will jetzt auch etwas tun, ich möchte mich daran beteiligen! Ich möchte mit euch zusammen überlegen: Wie können wir hier im Lande etwas verändern? Wer, wenn nicht wir, die wir einen kritischen Blick auf dieses System haben, sind diejenigen, die eine Veränderung herbeiführen? Sie passiert nicht von selbst, sondern Geschichte wird immer von Menschen gemacht, und wir sehen uns da in der Verantwortung. Und weil es immer wieder gute Mitstreiter gab, kam immer wieder neue Hoffnung. Und vielleicht sollte ich noch eins erwähnen: Vorhin sprach ich von den Mietern, die bei uns mit im Haus wohnten in der Rykestraße 28, Berlin, Prenzlauer Berg. Aber es waren nicht nur die, es waren zum Beispiel auch meine Kollegen im Museum für Deutsche Geschichte, viele Kollegen, die trotz allem und obwohl es auch für sie gefährlich war, jedenfalls für die Weiterentwicklung im Beruf oder wenn sie noch mal studieren wollten oder so, sich mit mir zu verbünden, und trotzdem gab es etliche, die zu mir gehalten haben. Zum Beispiel, als ich aus dem Gefängnis kam, musste mich das Museum wieder einstellen und ich bin also von etlichen Kollegen mit Geschenken und Blumen empfangen worden, so herzlich. Und sie haben mir eben auch geholfen: Ich stand ja da ziemlich unter Beobachtung, und wenn ich mich mit jemandem treffen wollte, was die Stasi nicht mitkriegen sollte, dann rief manchmal die Kaderabteilung an und fragte nach mir, und die haben dann einfach was Falsches gesagt. Die sagten dann, ich bin in der Plastikkammer, weil in der Plastikkammer gab es kein Telefon, und so haben sie mir geholfen auch manchmal, etwas verdeckte Treffs möglich zu machen während der Arbeitszeit oder überhaupt. Es gab auch welche wie zum Beispiel der Pförtner im Museum für Deutsche Geschichte, der schiebt mir vor Weihnachten einen 50-Mark-Schein zu – was sehr viel Geld war, wir waren ja immer so am Rande des Existenzminimums – und sagt, das ist für Sie persönlich, und er weiß, was ich mache, und er möchte mich gerne unterstützen, er selbst traut sich nicht, aber vielleicht nehme ich das an als Zeichen dafür, dass er auf meiner Seite ist oder so. Solche Gesten haben mich einfach so ermutigt und erfreut! Oder ein Straßenbahnfahrer, dem ich erzählte, dass ich verfolgt werde von der Stasi, der dann einfach die Tür zugesperrt hat, der gesagt hat: Sie springen raus, ich mache die Tür zu und lasse die nicht wieder raus. Und das hat er durchgezogen, obwohl die fürchterlich geschimpft haben, aber er hat mich da rausgelassen und hat sozusagen die Stasi-Verfolger da abgeklemmt. Oder Taxifahrer, der sagt: "Wir haben da eenen an der Backe." Ich wusste genau, dass das die Stasi war. Wir haben gesagt, ja, ja, das ist die Stasi. "Soll ick den abhängen?" Und da haben wir gesagt, ja, und dann ist er wie verrückt durch Berlin gerast. Also immer, wenn wir gespürt haben, es gibt überall Menschen, die unterstützen uns und die sind vielleicht dann auch im rechten Moment da, aber die haben eben noch nicht den Weg dahin gefunden. Das hat Mut gemacht.
    Blick in eine Telefonzentrale der Stasi
    Blick in eine Telefonzentrale der Stasi (picture alliance/dpa/ADN)
    "Je größer der Abstand ist, desto mehr wird erzählt"
    Poppe: Natürlich gibt es heute auch Unrecht, auch eine Demokratie kann keine vollendete Gerechtigkeit garantieren. Aber man kann sich wehren. Es gibt einen Rechtsstaat.
    Sprecherin: Das Leben in Freiheit: Rückblicke auf die DDR und Verbleib der Bürgerrechtler.
    Wentzien: Wenn wir heute, 25 Jahre danach und ein bisschen mehr sogar als 25 Jahre, auf diese Zeit schauen und wenn wir mal die Strecke beurteilen, die hinter den Deutschen liegt im Osten und im Westen: Sind wir aufgeräumter? Haben wir ein wahrhaftigeres und kompletteres Bild von der Zeit damals?
    Poppe: Sicher. Also je größer der Abstand ist, desto mehr wird erzählt, würde ich sagen, wobei also es gab erst mal Anfang der 90er-Jahre eine große Bereitschaft, auch seitens derer, die staatsnah waren, wie man so sagt, oder das System gestützt haben oder überzeugt waren, dass dieses System das bessere System ist oder so. Das ist zurückgegangen. Die Bereitschaft, die ließ dann nach.
    Wentzien: Das haben Sie mal beschrieben bei einer Szene. Ich glaube, nach der ersten freien Wahl sind Sie ja als damals Bürgerbewegte und im grünen Dunstkreis dann auch durch die Stadt spaziert und waren auch beispielsweise bei der PDS zur Wahlparty sozusagen. Das hat sich nachher dann ganz und gar verflüchtigt, also da gab es keine Annäherung mehr. Zu dem Zeitpunkt aber war es noch so, dass man voneinander wissen wollte.
    Poppe: Ja. Ja, ich bin eine ganze Weile auch mal zu PDS-Veranstaltungen gegangen, auch zu Veranstaltungen der anderen Parteien, einfach, so zu sehen: Worum geht es denen und wie wird das da an der Basis diskutiert? Das ist ja immer noch ein Stück weit anders als diejenigen, die man dann im Fernsehen, Rundfunk und in den Zeitungen liest. Aber vor allen Dingen die Aussagen derer, die sozusagen für das Regime gearbeitet haben, die hörten bald auf, also die Bereitschaft ging zurück. Aber dazu kam immer mehr Forschung natürlich, immer mehr Publikationen, die auch ins Detail gingen, in denen auch Lebenswirklichkeit, Lebensalltag geschildert wird, in denen auch Bereiche bekannt werden, die bisher wenig im Bewusstsein waren. Also ein Beispiel sind die Kinderheime. Ich habe, als ich in der Evangelischen Akademie – da war ich ja fast 20 Jahre –, als ich in der Evangelischen Akademie als Studienleiterin tätig war, habe ich mehrfach Anläufe gemacht, um eine Tagung mal zu organisieren zum Thema Kinderheime, Jugendhilfe, Jugendwerkhilfe, und das ist mir nicht gelungen. Erstens gab es so gut wie keine Forschung dazu, Erzieher waren nicht bereit, ehemalige Erzieher, dazu zu sprechen, und auch bei ehemaligen Kinderheim-Kindern, die ich kannte, auch da war wenig Bereitschaft, also besonders bei denjenigen, die Jugendwerkhilfe durchlaufen haben, die waren einfach, glaube ich, noch nicht so weit, um darüber sprechen zu können. Und erst jetzt, vor ein paar Jahren, als das begonnen hat, als Studien gefertigt wurden, als die Forschung da einsetzte, als mehr und mehr auch Zeitzeugen-Berichte in die Öffentlichkeit kamen, haben andere wieder eine Ermutigung bekommen, auch über ihre eigene Geschichte zu erzählen. Und jetzt, wo es diesen Kinderheimfonds gibt, der auch denjenigen ermöglicht, die Leidensgeschichte dort hinter sich haben, mit deren Folgen sie immer noch zu tun haben, die können ja von diesem Fonds profitieren und können Hilfen bekommen, und dadurch kommt sozusagen auch ein Stück Aufarbeitung dieses, wie ich finde, ziemlich dunklen Kapitels in Gang.
    Wentzien: Also Erinnerung – auf der einen Seite – braucht Zeit, ...
    Poppe: Ja.
    Wentzien: ... auf der anderen Seite ist ja auch immer dann die Gefahr da, dass etwas verblasst, dass man sich nicht mehr so gut erinnert oder dass die nächste Generation dann fragen will und wird, und zwar für die Generation, um die es eigentlich geht. Das können Sie auch teilen, also dass die nächste Generation jetzt ganz andere Fragen stellt und vielleicht die Fragen stellt, die die Eltern eigentlich selber sich auch stellen könnten, aber es aus bestimmten Gründen heraus, weil sie noch sehr mit dieser Zeit befasst sind, auch gar nicht schaffen?
    Poppe: Ja, manchmal braucht das wirklich viel Zeit. Also mein 92-jähriger Vater hat jetzt erst angefangen, vom Zweiten Weltkrieg zu erzählen, wo er als Frontsoldat war, und das ist natürlich eine enorme Zeit. Er hat das immer vermieden und er hat immer noch einen Granatsplitter im Kopf, und jetzt, im hohen Alter, erzählt er davon. Also ich merke das auch bei unseren Gesprächen mit den Kinderheim-Kindern: Also welche, die im Jugendwerkhof waren vor 30 Jahren vielleicht, die erzählen manchmal auch wirklich schreckliche Geschichten, und manchmal sagen sie: Es ist das erste Mal, dass ich davon erzähle. Manche erzählen nicht mal dem Ehepartner davon. Nun ist das auch zuweilen mit einem Stigma behaftet, in einem Heim gewesen zu sein, was also die Äußerungen noch erschwert. Aber ich glaube daran, dass es für viele auch etwas Befreiendes haben kann, wenn sich die Gesellschaft dem also auch offen gegenüber zeigt und auch mit Empathie dem begegnet und das Leid würdigt.
    "Es müssen ja nicht alle Politiker werden, die 89 auf der Straßen waren"
    Wentzien: Frau Poppe, wo sind eigentlich die ganzen Bürgerrechtler von damals geblieben? Sie sind bei mir, bei uns heute Abend, darüber freuen wir uns sehr. Aber da waren doch sehr, sehr viele: Jens Reich beispielsweise, Wolfgang Templin – wo sind die alle, wo sind die? Die Bürgerbewegung muss doch noch da sein.
    Poppe: Also die sind alle noch da. Wenn Sie Jens Reich erwähnen, der meldet sich immer mal publizistisch noch zu Wort, er sitzt in vielen Gremien und ist nach wie vor engagiert, da, wo es sich für ihn anbietet, beruflich ist er jetzt in einem wohlverdienten Pensionsalter. Wolfgang Templin war ja in Warschau für die Heinrich-Böll-Stiftung, hat das Heinrich-Böll-Stiftungsbüro in Warschau geleitet, ist immer noch sehr engagiert, was Ostmitteleuropa betrifft, engagiert sich jetzt sehr für die Ukraine-Frage und reist dorthin und unterstützt die Maidan-Leute und tritt auf Veranstaltungen auf, schreibt Artikel. Also auch bei ihm ist nach wie vor ... er ist nach wie vor wach und aktiv. Und Marianne Birthler hat ihre Memoiren geschrieben, ein sehr schönes Buch, finde ich, und reist auch viel herum und engagiert sich da, wo sie kann und soweit sie Kraft hat, aber sie ist ja noch fit und präsent. Ja, manche anderen, die noch jung genug sind, sind in verschiedenen Ebenen, oft in kommunalen Ebenen, als Bürgermeister, Stadträte und so weiter, manche haben nach 89, 90 sich noch mal wieder auf ein Berufsleben konzentriert, was ja auch niemandem zu verdenken ist, es müssen ja nicht alle Politiker werden, die 89 auf der Straßen waren, sondern manche haben noch mal von vorne angefangen, die zu DDR-Zeiten keine Chance hatten, irgendwie einen Berufsabschluss zu machen oder einen Studienabschluss – verschieden. Und einige Wenige sind dann in die höhere Politik gegangen und saßen im Bundestag oder sind dann ins Europaparlament gekommen. Aber viele sind jetzt auch in dem Alter, wo das langsam übergeht zum Pensionärsdasein. Bei mir ist es ja auch jetzt irgendwann in den nächsten Jahren der Fall. Na gut, noch vier Jahre oder so.
    Wentzien: Sie könnten aber noch mal in die Verlängerung gehen.
    Poppe: Ich könnte noch mal, ja, also ich bin für sechs Jahre gewählt worden, und da habe ich jetzt noch anderthalb Jahre vor mir und dann überlege ich mir, ob ich noch mal antrete.
    Wentzien: Als Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur – das passt auf keine Visitenkarte. Darüber sprechen wir bitte gleich. Lassen Sie uns gerade noch mal dabei bleiben: Werner Schulz, glaube ich, hat es gesagt, auf die Frage, was am Bündnis 90/Die Grünen noch Bündnis 90 ist und er hat, glaube ich, gesagt, Marianne Birthler hat es erzählt: Das ist wie mit dem Tee und dem Stück Zucker. Der Zucker ist jetzt im Tee und der Tee schmeckt besser, aber der Zucker hat sich aufgelöst. Es hätte ja auch sein können, Frau Poppe, dass Sie in eine Partei gehen oder bleiben oder sich engagieren und in der Politik wirken. Hat Sie das jemals gereizt? War das jemals für Sie interessant?
    Poppe: Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, und zwar stand ja die Frage, als der runde Tisch zu Ende war oder eigentlich schon im Wahlkampf dann vor den ersten freien Wahlen am 18. März 1990, stand die Frage: Wer von uns beiden, Gerd Poppe oder ich, tritt zur Wahl an für die Volkskammer? Wir saßen ja beide am runden Tisch, mein Mann für die Initiative "Frieden und Menschenrechte" und ich für "Demokratie Jetzt!", zusammen mit Wolfgang Ullmann, aber wir wollten nicht beide, weil wir ja nun auch Kinder haben. Und ich habe gesagt, mach du das. Ich habe das nie bereut, und ich war so froh, als ich dann mitkriegte, was für ein stressiger Beruf das ist und vor allen Dingen, als er dann auch in den Bundestag kam, und er hatte seinen 16-, 18-Stunden-Tag, und ich, ich konnte eben auch mal mit den Kindern Pilze suchen gehen und ein Faschingskostüm nähen – also ich habe es nicht bereut. Ich bin ja im Grunde genommen mittelbar an der Politik dran geblieben als Studienleiterin für Politik und Zeitgeschichte. Ich konnte mich mit politischen Themen beschäftigten, aber eben auf einer anderen, ruhigeren Weise. Ich bekam nicht ein Mikrofon vor die Nase und musste sofort ein Urteil fällen, sondern ich konnte mir ein Urteil erarbeiten und ich konnte auch ... Durch diese Tätigkeit als Studienleiterin hatte ich natürlich eine hervorragende Möglichkeit und bin auch sehr dankbar dafür, so langsam in verschiedene Themen hineinzukommen, die ich ja alle vorbereiten musste für diese Tagungen, die ich dann veranstaltete. Und so habe ich mir langsam ein Feld nach dem anderen erschlossen. Es war wie eine Ersatzuniversität für mich, und dafür habe ich auch noch ein Gehalt bekommen.
    "Da ist noch viel Beschönigung der DDR-Verhältnisse"
    Wentzien: Was sagen Sie, Ulrike Poppe, über den Ausgang der Wahl in Thüringen und den dort ja mutmaßlich eventuell kommenden Ministerpräsidenten der Linken, der eine rot-rot-grüne Regierung bilden wird, Bodo Ramelow, 25 Jahre nach dem Fall der Mauer?
    Poppe: Ja, auch mir geht es so, dass ich nicht so das Vertrauen habe in die Linkspartei, aber ich weiß wohl, das ist eine sehr heterogene Partei und es gibt durchaus da vernünftige, gute Leute da. Das erlebe ich auch in Brandenburg. Aber es gibt eben auch noch viel altes Denken und es gibt Vorbehalte gegen die Demokratie und es gibt, gerade auch in der Parteibasis, oft noch – und das hat wieder jetzt mit meiner Tätigkeit als Landesbeauftragte für die Aufarbeitung zu tun –, ... Da kommt eben gerade aus der Ecke der linken Basis auch viel Gegenwind, also gegen eine Aufarbeitung, da ist noch viel Beschönigung der DDR-Verhältnisse, viel Ignoranz gegenüber denjenigen, die zu DDR-Zeiten im Gefängnis waren oder Repressionen erduldet haben. Das ist manchmal recht schwierig, und allzu schnell werden dann auch Verhältnisse gleichgesetzt beziehungsweise wird gesagt, na ja, heute ist genauso viel Unrecht wie damals. Natürlich gibt es heute auch Unrecht, auch eine Demokratie kann keine vollendete Gerechtigkeit garantieren. Aber man kann sich wehren. Es gibt einen Rechtsstaat. Auch vor Gericht bekommt man nicht immer recht, aber es gibt einen Rechtsweg, der uns damals ja insofern nicht offenstand, als dass es keine Verwaltungsgerichtsbarkeit gab. Man konnte also gegen staatliche Entscheidungen nicht klagen. Und es gibt heute eine Öffentlichkeit und man kann Unrecht öffentlich machen, man kann es benennen – und auch das war uns ja damals nicht möglich. Also ich sehe immer noch die großen Vorteile und möchte sie auch immer wieder verteidigen, aber das sehen durchaus nicht alle so und ich denke, gerade die Klientel der Linken ist da ziemlich ignorant.
    Wentzien: Also Ihnen kommt eine potenziell durch einen linken Ministerpräsidenten geführte Landesregierung zu schnell?
    Poppe: Ja, wir werden sehen, wie das so funktioniert, aber ich hätte mir eine andere Entscheidung gewünscht, ja.
    Sprecherin: In unserer Reihe "Zeitzeugen" hörten Sie Birgit Wentzien im Gespräch mit Ulrike Poppe.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.