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Bürgersprechstunde bei der Kanzlerin

Die Kanzlerin hat zum Thema Bürgerbeteiligung einen neuen Schritt gewagt. Im Erfurter Kaisersaal hat sie sich mit 100 Frauen und Männern getroffen. In Heidelberg und Bielefeld sollen weitere dieser Treffen folgen.

Von Blanka Weber |
    "Es geht gleich los, heute sind definitiv Sie die Hauptpersonen. Ich bin nur der Gästebetreuer. Meine Rolle ist nur eine kleine."

    Sagt der Moderator Tilmann Schöberl. Die Gäste sitzen in einem Oval, 100 geladene Personen, von der Schülerin bis zum Rentner; ausgewählt unter anderem von regionalen Zeitungen. Ein Querschnitt. Von der Migrantin bis zum Unternehmer.

    Als Angela Merkel den Raum im Erfurter Kaisersaal betritt, wirkt das geplante Bürgernähe noch etwas holprig.

    Vertauschte Rollen nennt es die Kanzlerin, sie sei in erster Linie gekommen, um zuzuhören, sagt sie im Blitzlichtgewitter der Fotografen. Lächeln ist nicht ihre Stärke:

    "So. Wer sagt denn, dass Schluss ist mit Fotografieren ... ?"

    Es ist ein Experiment, hat sie im Vorfeld immer wieder erklärt. Man betrete Neuland mit diesem offenen Gespräch, das die Opposition, die SPD, bereits als Wahlkampf kritisiert. So geht es auch manchen Teilnehmern nach dem Sicherheitscheck im Gebäude. Ein 24-Jähriger aus der Medienbranche raucht seine Zigarette draußen, im Hintergrund dröhnen die Stromaggregate. Er war auch bei den Vor-Veranstaltungen des Zukunftsdialoges dabei und fühlte sich - trotz der Ehre - nicht ganz ernst genommen. Entsprechend skeptisch ist er nun und spricht vom Feedback für die Politik:

    "Und da trägt man natürlich Sorge, dass das nur der Evaluierung dient. Wie sieht der Bürger die aktuelle Regierung?"

    Minuten später wird er in der Runde sitzen. Zu Wort kommt er am Abend nicht. Zumindest nicht live vor Kamera und Mikrofon. Übertragen wird im Internet, im lokalen Radio - und zeitversetzt bei Phoenix.

    Angela Merkel steht in dunkler Hose und beigefarbenem Blazer im Oval ihres Publikums und stellt klar, es soll um konstruktive Ansätze aus der Sicht der Bürger gehen:

    "Wie wollen wir zusammenleben, nicht, wie tun wir es heute, sondern ein bisschen wie denken wir uns das, sollte es in fünf bis zehn Jahren sein. Was ist heute gut? Was sollte man bewahren? Was ist heute nicht so gut? Was sollte sich verändern?"

    Fragen nach der Identität der Menschen ob mit oder ohne Migrationshintergrund, nach der Sicherheit und der Generationengerechtigkeit waren die Themen beim ersten Bürgerdialog in Erfurt. Bei vielen im Publikum standen jedoch ganz andere, nämlich Existenzsorgen, im Fokus. So, wie bei einem Berufspendler, der unter der Woche fern seiner Familie auf dem Bau arbeitet:

    "Also gleiche Arbeit in der gleichen Branche müsste deutschlandweit auch gleich bezahlt werden, damit man nicht dieses Gependle hat."

    90 Minuten waren für dieses Meeting mit der Kanzlerin geplant. Schon vorab äußerten sich Teilnehmer skeptisch, wie in der kurzen Zeit mit hundert Menschen ein Gespräch entstehen soll.

    Heikle Themen wie Islamkritik, Legalisierung von Cannabis und der Ruf nach einem weicheren Waffenrecht wurden nicht debattiert in Erfurt - obwohl gerade diese Fragen schon Wochen vorher die meisten Klicks auf der extra eingerichteten Webseite zum Zukunftsdialog bekamen.

    Mehr Zeit für Familie, bessere Kinderbetreuung, mehr Ausgaben des Staates für die Qualität der Bildung und motivierte Lehrer - das stand oben auf der Liste der Diskutanten:

    "Im Sinne der Bürger ist, wenn der Staat so tut, als könnte er alles abnehmen. Das ist ja auch Einmischung."

    Diskutant:

    "Es ist ja auch eine Frage der Identität, dass ich vieles selber machen kann."

    Angela Merkel:

    "Hm, hab verstanden."

    Diskutant:

    "Wenn ich einen Wunsch äußern darf? Natürlich ist das mit Kosten verbunden. Vorschlag? Wir haben gesprochen über Familien. Warum kann die Gesellschaft am Anfang des Lebens nicht mal für einen Elternteil finanzieren, das sie 2 Jahre zu Hause bleiben?"

    Angela Merkel:
    "Also Sie sagen zwei Jahre, wir haben ja heute ein Jahr. Okay - nehmen wir mit ... so jetzt war hier der junge Mann."

    Auch ein Familienvater, dem die neuesten technischen Möglichkeiten nicht ganz geheuer sind, meldet sich zu Wort.

    "Ist meine EC-Karte sicher? Ist der Große, der zehn Jahre alt ist, im Internet surft, eigentlich sicher? Das macht mir für die Zukunft in zehn Jahren bisschen Angst."

    Moderator:

    "Ja, tun wir da genug?"

    Familienvater:

    "Das ist ein Thema, das wir unbedingt aufnehmen müssen, denn wir haben ja hier eine Diskussion, die sagt, pfuscht uns hier nicht rein, aber als Eltern sagt man, krieg ich alles mit, was strömt auf mein Kind ein?"

    Sie geht offen auf die Menschen zu, wenngleich sie manchmal etwas hölzern wirkt:

    "Sie waren schon dran. Wer schon dran war, hat keine Chance mehr ... "

    Der Bürgerdialog in Erfurt - Angela Merkels Auftakt beim Ausloten der Zukunft des Landes, aber auch der Topthemen für den nächsten Wahlkampf. 1,5 Millionen Euro will das Bundespresseamt für diese Form der Bürgernähe bereitstellen. Ein Podium, dessen Erfolg abhängt von kritischen Köpfen, Querdenkern und konstruktiven Ideengebern.