Dienstag, 16. April 2024

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Bütikofer verteidigt das Vorziehen der Steuerreform trotz hoher Neuverschuldung

Thiel: Keine Konjunkturbelebung, hohe Arbeitslosenzahlen, Löcher in den Sozialkassen, Wegbrechen der Steuereinnahmen - die Bundesregierung will mit der Agenda 2010 dagegen steuern. Kritiker sagen, Rot-Grün hat einen Strategiewechsel vollzogen, der ungerecht und konjunkturschädlich ist. Reinhard Bütikofer, hat ver.di-Chef Frank Bsirske mit diesem Vorwurf so völlig unrecht?

26.10.2003
    Bütikofer: Frank Bsirske kann natürlich nicht 100 Prozent unrecht haben, weil er 92 Prozent der Stimmen von seiner Gewerkschaft gekriegt hat und weil er ein Grüner ist. Aber im wesentlichen hat er unrecht. Er verlässt sich zu sehr auf Polemik und zu wenig auf eine nüchterne Analyse der Realität. Natürlich können wir den ganzen von Ihnen mal so in einer kurzen Aufzählung zusammengefassten Problemen nicht nur mit der Agenda 2010 zu Leibe rücken, wir müssen auch noch über diese Agenda hinausgehende längerfristige Reformperspektiven anpacken, wie wir es jetzt bei der Rente aktuell diskutiert haben. Aber dazu kommen muss natürlich auch eine neue ökonomische Dynamik, und ich glaube, aus dem Zusammenhang heraus erschließt sich auch der ganze Sinn der Reformauseinandersetzung, die wir jetzt haben. Nicht für sich selbst genommen, nicht als Sparpaket ist das am Ende auch eine gerechtere Perspektive als die Fortsetzung des Status quo, sondern weil es dazu beiträgt, dass es zu dieser notwendigen wirtschaftlichen Dynamik kommen kann.

    Thiel: Aber dem Bürger vermittelt sich das nicht so ganz, ganz im Gegenteil. In Leipzig gibt es sogar wieder Montags-Demos gegen den sozialen Abbau.

    Bütikofer: Dem Bürger vermittelt sich das in dem Maße, in dem es uns gelingt, über den manchmal kleinkarierten Streit um Details hinaus die Grundrichtung dieser Reform deutlich zu machen und die Grundentscheidung, die man auch treffen kann als Bürger, wenn man vergleicht, welches Konzept die Regierung vorlegt und welches Konzept die Opposition vorlegt. Wir sagen: Wir müssen jetzt auch Einschnitte verantworten, wir müssen jetzt auch Sparmaßnahmen durchsetzen, auch Ausgliederungen von Leistungen, zum Beispiel im Gesundheitswesen. Aber wir tun das mit der klaren Perspektive, dem Sozialstaat ein neues, für die Zukunft sichereres Fundament zu geben, während von der Opposition aus - von Frau Merkel persönlich ganz besonders - ein Kurs gefahren wird, der zu recht schon apostrophiert worden ist als der Versuch, Maggie Thatcher in Deutschland zu kopieren.

    Thiel: Aber beim Wähler kommt es nicht so ganz an. Sie sprachen auch von einer Durststrecke, eher ist doch jetzt eine Talfahrt für Rot-Grün angesagt?

    Bütikofer: Nein, ich glaube, dass wir den Talboden erreicht haben und dass es uns, weil wir zum Beispiel jetzt bei der Entscheidung über die Rentenreform deutlich gemacht haben: Die Regierung hält ihren Kurs durch, sie meint es ernst mit der Begrenzung und der Senkung der Lohnnebenkosten, dass wir deswegen auch neues Vertrauen gewinnen können. Manchmal haben wir in der Vergangenheit Vertrauen dadurch verspielt, dass die Leute den Eindruck haben konnten: Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln und hin und her. Das ist klarer geworden, und ich denke, in dem Maße, in dem es dann auch sich als wirksam erweist, indem es sich zeigt, dass die Wachstumsraten, die jetzt fürs nächste Jahr prognostiziert werden, auch eintreten - in dem Maße werden die Leute dann auch ihre Skepsis überwinden, die sie jetzt haben, und wo ja auch viele viel dafür tun, damit aus dieser Skepsis pure Verwirrung wird. Das ist wirklich schon arg verantwortungslos, bis an die Grenze des Vaterlandverrates, was manche da treiben. Bei jeder einzelnen Maßnahme tun sie so, als wäre das nun der Anschlag auf die Tradition des Abendlandes. Im Übrigen wird aber natürlich, weil jeder begriffen hat, dass es Reformen geben muss, fleißig gefordert, dass es gründliche Reformen gibt - nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass, mach Reformen, aber lass es mich nicht spüren. So geht es natürlich nicht. Ich glaube, die Menschen haben da ein realistischeres Grundgefühl als viele, gerade von der Opposition, die uns da jeden Prügel zwischen die Beine schmeißt, den sie irgendwo unterwegs im Wald findet, als sie zugestehen wollen.

    Thiel: Aber wenn die Wachstumsprognosen dann jetzt nicht eintreffen, müssen Sie wieder nachbessern. Liegt es nicht vielleicht auch an den Entscheidungsprozessen, die vielleicht doch viel zu lang und zu kompliziert sind - und immer wieder muss man klein nachbessern. Hat man eigentlich nicht aus der Vergangenheit gelernt, wenn man die letzten drei Jahre sich mal anguckt?

    Bütikofer: Oh, wir haben gelernt. Wir haben zum Beispiel bei der Gesundheitsreform noch mit der Opposition nur verhandelt über die unmittelbar anliegenden Reformen, und bei der Rente haben wir jetzt daraus gelernt, indem wir gesagt haben: Nein, wir zeigen die längerfristige Perspektive gleich mit auf, damit jeder wissen kann, wohin aus unserer Sicht die Reise gehen soll. Das ist zum Beispiel, glaube ich, auch Vertrauen schaffend. Was die Wachstumszahlen betrifft: Natürlich kann ich jetzt hier nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass alle Prognosen so eintreten, wie sie jetzt gemacht werden. Aber die Aufhellung der internationalen Wirtschaftslage macht da ja doch Hoffnung, zumal wir es ja jetzt auch gerade wieder geschafft haben, beim Export sehr gut zu sein, so dass die Chance, wenn in Amerika, wenn in anderen Ländern die Konjunktur anspringt, auch in Deutschland daran teilzuhaben, durchaus gegeben ist.

    Thiel: Im Mittelpunkt steht das Sozialsystem, es steht in Frage - die ganzen Veränderungen, denen kann sich keiner entziehen. Aber wer soll in Zukunft denn noch Zugang zu den sozialen Systemen haben? Im Moment hat man ja eher den Eindruck, bei allen wird alles gekürzt.

    Bütikofer: Was ist der Unterschied des Sozialsystems der Zukunft gegenüber dem, das wir jetzt reformieren? Oder warum müssen wir es überhaupt reformieren? Die Reform muss sein, weil das Sozialsystem den veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realitäten nicht mehr entspricht. Das Sozialsystem ist ausgerichtet gewesen auf das Erwerbsleben eines männlichen Vollerwerbsarbeiters, der in der Regel, nachdem er ausgelernt hatte, bis zur Rente beim selben Betrieb war. Das gibt es immer noch, aber für viel weniger Menschen. Die gesellschaftliche Realität macht es notwendig, dass wir uns entscheiden: Wollen wir nur für einen immer kleiner werdenden Teil von sozusagen ‚Kernbelegschaften' Sozialpolitik machen, oder wollen wir wirklich für alle eine grundlegende Sicherung haben? Deswegen sage ich: Es geht um Paradigmenwechsel - in der Tat, um eine grundlegende Reform, nicht nur ein bisschen besser, ein bisschen nachstellen, die Schraube anziehen - Paradigmenwechsel von der Lebensstandardsicherung für ein bestimmtes Idealberufsbild oder Lebensarbeitszeitbild hin zu einer Grundsicherung hin für alle, wo dann wirklich niemand durch die Maschen fällt, verbunden allerdings, damit es nicht nur bei der Verwaltung von Ausgegrenztsein und von Armut bleibt, verbunden mit der immer wiederkehrenden Chance, zurückzukommen, Wege zurück angeboten zu bekommen. Wenn Sie die Sozialhilfe vergleichen mit dem, was wir jetzt im Arbeitslosengeld II machen - viele kritisieren das nach dem Motto: Da wird ja das Leistungsniveau nicht generell erhöht -, das ist meines Erachtens überhaupt nicht der interessante Punkt und der spannende Punkt. Der spannende Punkt ist, dass da etwas anderes grundlegend verbessert wird, nämlich der Zugang der früheren Sozialhilfeempfänger in die aktive Förderung, in die Chance, am ersten Arbeitsmarkt mal wieder einen Platz zu finden. Es ist noch nicht lange her: In unserem Land muss man ein halbes Jahr arbeitslos sein, um überhaupt mal vom Arbeitsamt aktiv gefördert zu werden. Das erscheint mir heute so paradox. Erst muss sozusagen die Qualifikation mal erst ein bisschen verrotten, damit man wieder was dafür macht. Und bei den Sozialhilfeempfängern gab es gar keinen Anspruch. Das ändert sich, die ganze Orientierung ist eine andere. Deswegen, glaube ich, ist das auch ein wichtiger Schritt in Richtung auf das Ziel einer Grundsicherung, das wir als Grüne verfolgt haben. Das schafft natürlich die Notwendigkeit, auch Abschied zu nehmen von ein paar liebgewordenen Mechanismen. Für die Arbeitslosenhilfeempfänger, das muss man zugeben, ist diese Umstellung auf Arbeitslosengeld II in vielem auch mit Nachteilen verbunden, während es für die Sozialhilfeempfänger eher eine Verbesserung ist.

    Thiel: Abschied nehmen von den liebgewordenen Mechanismen müssen zum Beispiel jetzt auch die Rentner. Da wird kurzfristig gekürzt. Verstehen Sie eigentlich die Proteste der älteren Generation, wenn die sich dagegen wehrt?

    Bütikofer: Ich habe zur Kenntnis genommen, dass in einer Umfrage das Ergebnis war, dass 52 Prozent der Rentnerinnen und Rentner gesagt hätten, sie hätten Verständnis dafür. Ich bin auch gerne bereit, und ich glaube, das muss die Politik auch, die Grundorientierung immer wieder zu erklären. Ich kann es vielleicht einmal in einer einfachen Zahl deutlich machen, vor welcher Herausforderung wir stehen. In den letzten 30 Jahren war das Verhältnis der 20- bis 60jährigen zu den über 60jährigen relativ konstant 10 : 4. In den nächsten 35 Jahren verdoppelt sich das. Es werden auf 10 Leute im Alter zwischen 20 und 60 in Zukunft ab 2035 acht Leute im Alter über 60 kommen. So steil ist diese demographische Veränderung in keinem andern europäischen Land. Das hat was mit der Geburtenentwicklung in der Zeit des Zweiten Weltkrieges zu tun usw., das kann man heute nicht mehr ändern. In der Situation kann man nicht einfach die Systeme fortschreiben. 1960 war die durchschnittliche Dauer des Rentenbezugs zehn Jahre. Heute ist es mehr als 16,5 Jahre im Schnitt. Nehmen Sie die Zahl und die andere Zahl im Verhältnis von den ökonomisch Aktiven zu denen über 60, dann sehen Sie, dass sich da etwas verschieben muss. Insofern, glaube ich, kann man mit den Rentnern, mit der älteren Generation, auch darüber reden, dass auch sie ihren Beitrag leisten muss. Die Jüngeren leisten ja diesen Beitrag schon. Lassen Sie mich ein konkretes Beispiel nehmen: Bei den Rentnern ist kritisiert worden - also von manchen, von Rentnern, aber auch von unserer politischen Konkurrenz -, dass die Rentner in Zukunft die ganzen Beiträge zur Pflegeversicherung selber bezahlen sollen, 0,85 Prozent dazu. Die Erwerbstätigen zahlen das schon, die mussten mit einem ganzen Feiertag dafür bezahlen. Da wird etwas nachgeholt, was bei allen anderen, bei den Jüngeren, heute schon für selbstverständlich genommen wird. Ich glaube, das können die Menschen einsehen.

    Thiel: Und den Jüngeren streichen Sie dann die Ausbildungszeiten aus der Rentenberechnung. Wird da Ihr grünes Klientel mitspielen?

    Bütikofer: Die Ausbildungszeiten werden nicht gestrichen. Erstens gibt es Übergangszeiten, zweitens wird nur insofern etwas geändert, als diese Ausbildungszeiten nicht mehr Renten erhöhend wirken. Als Anwartschaften werden sie nach wie vor gerechnet. Im Übrigen glaube ich nicht, dass wir als Grüne jetzt anfangen sollten, Klientelpolitik zu machen. Wir sind bis jetzt gut damit gefahren, dass wir versucht haben, uns ein Stück weit davon frei zu machen.

    Thiel: 43 Milliarden Neuverschuldung - wir sprachen schon darüber. Auch kreditfinanzierte Steuererleichterungen bringen Belastungen für die nachfolgende Generation. Bayern will sogar den Nachtragshaushalt stoppen, weil Schluss sein muss mit neuen Schulden; die CSU ist mit grünen Tönen zu vernehmen. Die Bundesregierung auf Zick-Zack-Kurs, Herr Bütikofer. Bisher hieß es doch immer, Haushaltskonsolidierung ist oberstes Gebot. Wo ist Ihre Linie?

    Bütikofer: Haushaltskonsolidierung bleibt auch Gebot, nur ist - glaube ich - den meisten einsichtig, dass man den Haushalt in einer Zeit von Stagnation und Rezession nicht durch eine noch dramatischere Radikalisierung des Sparens in den Griff kriegt. Was wir hinkriegen müssen ist, dass es wieder wirtschaftliche Dynamik gibt. Deswegen haben wir ja . . .

    Thiel: . . . und wenn sie nicht eintritt? . . .

    Bütikofer: . . . erst einmal reden wir darüber, was wir tun können, damit sie eintritt, denn das ist nicht unabhängig, das ist nicht wie ein Schicksal, das über uns kommt. Wir müssen mal warten, was im nächsten Jahr passiert, wir können was dafür tun, zum Beispiel das Vorziehen der Steuerreform - die Wirtschaftweisen sagen, das macht 0,3-0,4 Prozent Wirtschaftswachstum aus - ob wir das hinkriegen, ob das stattfindet, wie wir vorgeschlagen haben oder nicht. Also, wer sagt, wir wollen Wachstum, und dann sagt, aber beim Vorziehen der Steuerreform rühre ich mich nicht, traue ich mich nicht ran, der weiß nicht, was er will oder er betrügt. Die Grundlinie heißt: Wir bleiben bei dem Konsolidierungskurs, da hat der Hans Eichel völlig recht, da hat er auch unsere volle Unterstützung dafür, wir bleiben bei diesem Konsolidierungskurs, aber wir müssen auch bis zu einem gewissen Grade die Voraussetzungen, dass wir wirksam konsolidieren können, auch erst einmal schaffen. Und daran arbeiten wir jetzt. Herr Eichel - ich finde, das ist aller Ehren wert - hat die ganzen Zahlen auf den Tisch gelegt, auch wie es im nächsten Jahr aussehen wird. Ich finde, er hat niemandem - zu recht - die Gelegenheit gegeben, sich jetzt hinter irgendwelchen vagen Prognosen zu verstecken, und alle wissen, wie schwierig die Aufgabe wird. Bloß dann fängt es an, konkret zu werden. Wer jetzt die Höhe der Neuverschuldung beklagt, und dann - wie die Opposition das macht - vorschlägt, die Gesundheitsversorgung in Zukunft so zu organisieren, dass man einen minimalen sozialen Ausgleich nur gewährleisten kann, wenn man noch 30 Milliarden Steuern obendrauf packt, der hat es nicht begriffen. Entweder kann er das kleine Einmaleins nicht und muss noch einmal zu Adam Riese in die Klippschule gehen, oder er will wirklich die Leute hinters Licht führen.


    Thiel: Die Gefahr besteht ja, dass weitere Milliarden fehlen werden. Fachleute sprechen davon, dass eventuell 60 Milliarden gebraucht werden. Das Geld muss irgendwo herkommen. Was gibt es für Möglichkeiten? Haushaltssperre wurde kurzfristig vorgeschlagen, Mehrwertsteuererhöhung, Subventionsabbau?

    Bütikofer: Also Haushaltssperre - sagt mir meine Erfahrung - bringt nicht das große Geld, schon gar nicht am Ende des Jahres. Subventionsabbau würde großes Geld bringen. Das ist im Moment leider ein trauriges Kapitel in der politischen Debatte. Alle sagen Subventionsabbau, die Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück haben sich dafür feiern lassen, dass sie Subventionsabbau vorschlagen. Das erste Faktum war: Was die vorschlagen - auf drei Jahre - bleibt hinter dem zurück, was die Bundesregierung für dieses Jahr vorgeschlagen hat. Zweites Faktum ist: Sie sagen, wir machen Rasenmäher, und dann kürzen sie zwar - um diesen Bereich mal zu spezifizieren - in ihrem Vorschlag die Investitionen in die Schiene, aber die Subventionen im Verkehrsbereich, wo es um die Straßen, um das Auto geht, sollen unverändert bleiben. Das macht nicht viel Sinn. Die Union sperrt sich gegen die Streichung der Eigenheimzulage, gegen die Kürzung der Entfernungspauschale. Auch das macht keinen Sinn. Wir können vorrechnen, dass man mit Subventionsabbau wesentliche Löcher schließen könnte, und zwar langfristig. Das ist ja das Verlockende an der Sache. Wenn man es mal schafft, sich durchzuringen zu diesem Subventionsabbau, hat man nicht nur das Loch von heute gestopft, sondern man hat auch die Löcher von morgen verkleinert. Eine zweite Möglichkeit, die es sicher gibt, ist, dass man - das hat Hans Eichel auch thematisiert - noch einmal guckt, inwieweit eine Privatisierungsstrategie mehr Erlöse für den Bundeshaushalt bringen kann. Da bin ich absolut dafür. Das andere Wort, das M-Wort, das Sie da verwendet haben - Mehrwertsteuer -, das ist ein No-no. Meines Erachtens ist das genau Bestandteil einer Verunsicherungsstrategie, jetzt wieder eine Mehrwertsteuerdebatte anzufangen. Das würde ich gerne der Opposition überlassen. Ich teile da die Meinung von Eichel.

    Thiel: Die Steuererleichterungen für höhere Einkommen - vielleicht verschieben oder ganz aussetzen? Das müsste doch dem grünen Parteichef Bütikofer ganz gut gefallen, oder nicht?

    Bütikofer: Also, das kann man unter zwei Gesichtspunkten diskutieren: Unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit und unter dem Gesichtspunkt der ökonomischen Wirkungen. Auch unter dem Gesichtspunkt der Managebarkeit. Von Letzterem her habe ich meine Zweifel. Es ist ja mal ein kurzlebiger Vorstoß gemacht worden von Hamburg und Bremen, ob man nicht die Steuerreform aufsplitten kann, sozusagen die Erleichterungen für unten vorziehen, die Erleichterungen für oben noch ein Jahr warten lassen. Das hat sich ziemlich schnell totgelaufen. Das ist meines Erachtens nicht besonders Erfolg versprechend, diese Idee zu verfolgen. Auch von der ganzen Prozedur her wäre das sehr schwer, das noch zu instrumentieren. Wenn das noch jemand hinkriegt, würden wir uns da nicht in den Weg stellen, aber ich bin da eher skeptisch. Ich finde auch, wenn man es von der ökonomischen Wirkung her diskutiert, ist es nicht unbedingt indiziert, denn auch die Erleichterungen bei den höheren Einkommen können natürlich in zusätzliche Investitionen umgesetzt werden, um die Konjunktur anzuschieben. Das muss man einfach mal klar sehen. Vom Gerechtigkeitsaspekt her wäre ich auch eher dafür, dass man da an ein paar anderen Baustellen anfängt, zu arbeiten. Eine ist schon klar, das ist die Erbschaftssteuer. Da müssen wir nächstes Jahr ran, weil das Bundesverfassungsgericht gefordert hat, bis 2005 da eine Überarbeitung hinzubekommen. Und da bin ich durchaus bereit, da auch die Frage der Gerechtigkeit schärfer zu diskutieren - Freibeträge für die normalen Erbschaften, für das Häuschen von Oma oder so lassen, wie sie sind. Da braucht man nichts ändern. Und für die höheren Erbschaften kann man durchaus mit den Sätzen hochgehen. Ich würde es allerdings mit einer anderen Idee verbinden, nämlich mit der Idee, Geld in den Bildungssektor zu kanalisieren und zu sagen: Wenn ihr das Geld, was wir euch sonst mit der Erbschaftssteuer wegholen, in den Bildungssektor investiert, das wollen wir anerkennen, denn das brauchen wir eh in Deutschland. Das wäre vielleicht mal eine Debatte wert. Im Übrigen wissen Sie ja: Wir haben bei den Grünen in Cottbus beschlossen, dass wir noch mal die Vermögenssteuer diskutieren werden. Da ist ver.di vor allem ganz gespannt drauf, was dabei rauskommt. Da wird auch irgendein Vorschlag rauskommen in absehbarer Zeit, über den wir dann diskutieren werden. Also, vor der Diskussion drücke ich mich überhaupt nicht weg. Übrigens: Ich finde, was zu wenig diskutiert wird, wenn Steuergerechtigkeit das Thema ist, ist die Steuerhinterziehung und die Steuerflucht. Mir fällt einfach auf, dass es in Amerika ein Gesetz gibt, das stellt sicher: Entweder ich habe einen amerikanischen Pass, dann zahle ich auch Steuern, und dann werden mir Steuern, die ich im Ausland gezahlt habe, zwar angerechnet, aber prinzipiell bin ich in Amerika steuerpflichtig, oder ich kann den Pass auch hergeben. Aber Amerikaner sein und nicht Steuern zahlen wollen geht nicht zusammen. In Deutschland geht das gut zusammen - siehe Schumacher-Brüder. Und ich finde, da könnte man durchaus mal sich vom großen Bruder überm Teich was abgucken.

    Thiel: Die Agenda 2010 und viele andere Gesetze, auch die Steuer zum Beispiel kommen in den Vermittlungsausschuss. Da muss die SPD mit der Union verhandeln. Grün ist zwar dabei. Bleibt aber Ihre Partei in dieser großen Koalition nicht auf der Strecke, Herr Bütikofer?

    Bütikofer: Na ja, ich erinnere mich: Vor einem dreiviertel Jahr, als wir gesagt haben, wir stellen uns in diesem Jahr 2003 der Sozialreformdebatte, haben viele Journalisten gesagt: Ja, dabei bleibt ihr auf der Strecke, da werdet ihr zwischen den zwei großen Blöcken zermahlen. Jetzt, gegen Ende des Jahres, stellen wir fest: Mit unserer Idee der Bürgerversicherung sind wir der Anführer in der Debatte zu sagen, wo es hingehen soll, wo man mal eine langfristige Perspektive erkennen kann.

    Thiel: Bleiben wir mal konkret bei dem, was im Vermittlungsausschuss im November und Dezember passieren wird, bleiben wir bei den Arbeitsmarktreformen. Wo sind da Ihre Schmerzgrenzen, wo können Sie als "kleiner" Koalitionspartner noch Ihr Profil beweisen, wie weit ist die Schmerzgrenze dehnbar?

    Bütikofer: Ich sage es noch mal: Ich glaube, die Verhältnisse ändern sich da, und dieses Denken in diesen traditionellen Blöcken ändert sich da. Es sind jetzt die Grünen, die in der Perspektivdebatte mit tonangebend sind, einerseits - hätte man früher nie erwartet, ist aber so. Und andererseits ist in der Debatte über Veränderungen nicht mehr die schlichte Frontstellung, wie man sie kannte. Beispiel: Ich habe von der Union gehört, dass man die Zumutbarkeitsgrenzen für Arbeitslose drastisch verschlechtern muss. Einerseits sagt sie demagogisch, man darf niemandem etwas zumuten, aber andererseits sagt sie, für die Arbeitslosen soll es sozusagen bis in die Schmutzkonkurrenz gehen. Sei es drum. Es ist aber nicht mehr so, dass das alle in der Union so sagen. Von Herrn Althaus habe ich gehört, dass er öffentlich gesagt hat, diese Regelungen sind durchaus sachgemäß. Das heißt, es bilden sich da Chancen raus zu einer vernünftigen Kooperation zwischen Leuten aus dem schwarzen Lager, aus dem roten Lager, aus dem grünen Lager. Ganz aus dem Spiel sind bloß die Gelben, weil die nichts zu sagen haben.

    Thiel: Die Opposition wird doch die Regierungskoalition vor sich hertreiben. Man kann doch nicht erwarten, dass die Union nur deswegen allem zustimmen wird, weil sie es sich nicht leisten kann, dagegen zu sein, also zu blockieren.

    Bütikofer: Die Union ist kein einheitliches Lager. Das sieht man jeden Tag an den Konkurrenzkämpfen um eine aussichtslose Kanzlerkandidatur 2006. Die Union hat nicht nur persönliche Querelen, sie hat auch keine klare Perspektive. Zwischen einem Merz und einem Seehofer ist eine größere Kluft als zwischen einem Seehofer und irgendjemand bei der SPD oder bei uns. Zwischen einer Frau Merkel und einem Herrn Stoiber ist auch vom Grunde her - nicht nur, weil der eine ein bisserl bayerischer wirkt, sondern von der Bereitschaft her, sozialstaatliche Verantwortung weiterhin ernst zu nehmen - ein gewisser Unterschied. Und deswegen funktioniert die Union nicht wie ein Heerlager, das auf ein Kommando sich in Bewegung setzt und marschiert. Deswegen haben wir auch die Chance, da durchaus wechselnde Mehrheiten hinzukriegen.

    Thiel: Und zum Schluss zur Koalition: Der Renitenzfaktor in den Fraktionen wird mit Sicherheit steigen, wenn es dann wieder um den Kompromiss des Kompromisses geht. Wie groß ist Ihr Optimismus, dass die Koalition steht und nicht nachher wieder Gewissensfragen zur Abstimmung gestellt werden und einige ausscheren?

    Bütikofer: Ich nenne das nicht den Renitenzfaktor. Also, renitent wäre anders. Renitent würde sagen: Ohne Rücksicht auf Konsequenzen beharre ich auf meinem "Hier stehe ich, ich weiß nichts mehr, ich will nicht mehr". So ist es ja nicht. Und deswegen bin ich da optimistisch. Die Koalition ist gestanden am 17. Oktober. Das war aus meiner Sicht das Nadelöhr, durch das wir durchmussten. Und seit wir durch dieses Nadelöhr durch sind, bin ich auch optimistisch, dass wir die weiteren Entscheidungen gemeinsam durchfechten werden. Diese Koalition hat wesentlich mehr Leben und wesentlich mehr Kraft, als es im Moment die Kommentatoren uns gemeinhin zutrauen. Das wird sich im nächsten Frühjahr - auch in den Umfragen - niederschlagen.