Reinhard Bütikofer: Ich habe vor wenigen Tagen in einem Interview die Frage gestellt gekriegt: Wann werden wir endlich mal die positiven Wirkungen von Hartz IV erleben? Und ich musste dann die Interviewerin darauf hinweisen, dass Hartz IV erst in fünf Monaten in Kraft tritt. Ich glaube, das ist symptomatisch für eine bestimmte Art von öffentlicher Debatte. Wenn man es nüchtern betrachtet, und wenn man nochmal einen Schritt zurücktritt und sich erinnert, wie die Diskussion angefangen hat, dann muss jedem klar sein: Wenn man anfängt, eine langjährige Fehlentwicklung umzubauen, dann kann man nicht erwarten, dass man gleich, noch bevor die Maßnahmen alle wirken, die Früchte ernten. Das ist ja nirgends im Leben so, man muss manchmal Vorkehrungen treffen, investieren auf Zukunft. Und was wir jetzt machen, geht zentral darum, die Beschäftigungsschwelle zu senken. Wir waren angekommen in Deutschland an einem Punkt, wo man 2,5 Prozent Wachstum gebraucht hätte, um überhaupt noch einen zusätzlichen Arbeitsplatz hinzukriegen. Jetzt sind wir dabei, diese Schwelle zu senken. Die OECD sagt uns: Ihr macht dabei Fortschritte. Nun kann man natürlich sagen, es ist noch nicht alles eingefahren, die Ernte ist noch nicht in der Scheuer. Stimmt genau. Und trotzdem glaube ich, wir sind auf dem richtigen Weg.
Thiel: Aber warum kommt der Aufschwung noch nicht beim Arbeitsmarkt an?
Bütikofer: Der Aufschwung liegt derzeit noch unter dem Niveau, das man immer noch braucht. Die letzten Zahlen, die ich gesehen habe, sagen: Wir haben die Beschäftigungsschwelle schon ein Stückchen gesenkt, wir können jetzt neue Jobs schaffen zwischen 1,5 und 2 Prozent Wachstum. Das ist immer noch mehr, als wir im Moment hinkriegen.
Thiel: Über die Verschiebung des Auszahlungstermins von dem Arbeitslosengeld II will die Bundesregierung nach der Sommerpause entscheiden. Ist das nicht jetzt schon ein Vorstoß, der politisch gescheitert ist?
Bütikofer: Also, ich sehe das durchaus kritisch, ich habe mich ja auch schon, als das zum ersten Mal in der Koalition diskutiert wurde, entsprechend geäußert. Ich glaube, man darf das nicht zulassen, dass da eine solche so genannte Auszahlungslücke entsteht. Der Bundeskanzler hat einen entsprechenden Auftrag gegeben, so dass eine Lösung vorgelegt wird. Ich gehe davon aus, dass es zu dieser Lösung kommt. Es hat ja zuletzt auch nochmal gewichtige juristische Vorbehalte gegeben gegen die Überlegung, die man sich da im BMWA gemacht hat, und ich glaube nicht, dass das letzte Wort sein kann.
Thiel: War das psychologisch gut, mitten in der Sommerpause oder kurz vor dem Sommerurlaub derartige Ideen in die Landschaft zu werfen und dann erst einmal die Diskussion toben zu lassen?
Bütikofer: Nun ja, wenn man die Wahl hätte, würde man es sich wahrscheinlich anders aussuchen. Nur, was auch illusionär wäre, ist die Vorstellung, man könne eine solche tief eingreifende und breit gestaffelte Reform wie die, die jetzt unter der Überschrift Hartz IV firmiert, hinkriegen, ohne dass es dabei Schwierigkeiten und Probleme und Fehler und Fehlkommunikation und Friktion und alles Mögliche gibt. Das ist einfach nicht möglich. Wo etwas neu gemacht werden muss, wird auch mal etwas falsch gemacht. Das Entscheidende: Der Maßstab, um den es geht, ist doch, dass die Probleme dann gelöst werden. Und ich würde dann schon auch dafür werben, dass man das jetzt nicht durch eine Panikmache noch erschwert, dass die Probleme gelöst werden. Zum Beispiel – ich sage jetzt mal diese Frage mit der Anrechnung von Sparkonten der Kinder. Da wird skandalisiert, dass es da einen Höchstbetrag gibt, der anrechnungsfrei bleibt. Es wird kaum thematisiert, dass bisher nach der Sozialhilfegesetzgebung für Sozialhilfeempfänger es auch schon einen Freibetrag gab, der bei einem Drittel lag dessen, was für die Zukunft gelten soll – so dass man sagen kann, dass für alle die, die bis jetzt Sozialhilfe hatten, für alle die, die bis jetzt Arbeitslosenhilfe und ergänzende Sozialhilfe hatten, sich an der Stelle de facto was verbessert.
Thiel: Aber wundert Sie es denn nicht, dass diese Hartz IV–Reform ein erhöhtes Empörungspotential hat? Zum Beispiel: Nachdem man gerade propagiert hat, wir müssen die private Vorsorge stärken, müssen Langzeitarbeitslose jetzt ihre Lebensversicherungen verkaufen.
Bütikofer: Also, richtig ist, dass natürlich da ein Kritikpotential da ist. Es gibt, das muss ich auch zugeben, es gibt in dieser Reform ja auch Widersprüche. Sie haben gerade diesen einen angesprochen. Wir wollen mehr private Vorsorge, und auf der anderen Stelle wird hier die Anrechnung der privaten Vorsorge begrenzt. Zum Teil sind das - das muss man aber mal dazu sagen - Dinge, die uns im Vermittlungsverfahren die Union aufgezwungen hat. Und ich finde das außerordentlich scheinheilig - um nicht ein böseres Wort zu gebrauchen -, dass an jeder Stelle von der Union mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, versucht worden ist, die Regelungen anzuschärfen. Und jetzt stellen sich die Herrschaften hin und machen die sozialrevolutionäre Nummer und sagen, das ist alles nicht zumutbar. Und als besonderen Clou verkünden sie dann am Ende, dass man das alles verschieben soll, das heißt, die notwendige Reformanstrengung auf die lange Bank schieben, damit noch möglichst lange möglichst viel öffentliches Chaos existiert und man drin wühlen kann. Da habe ich den Eindruck, da geht’s nicht mehr darum, sich anzustrengen, Probleme zu lösen. Da gibt es noch nicht mal mehr genug Geradheit, um bei dem zu bleiben, was man selber vor wenigen Monaten vertreten hat, sondern da wird nur noch um den parteipolitischen Profit gerungen. Und genau so kommt es linkspopulistisch von der PDS daher. Das Allerübelste ist, dass jetzt auch noch der gute Name der Montagsdemonstrationen missbraucht wird.
Thiel: Diese Montagsdemonstrationen, die ja nun gerade den Druck auf Hartz IV erhöhen, machen Sie eigentlich nicht nachdenklich? Denken Sie, es sind tatsächlich nur bestimmte Kreise, die dort demonstrieren, die ein bestimmtes Interesse haben - frustrierte Gewerkschaftler vielleicht oder rechte Gruppen, oder ist der Unmut in weiten Teilen der Bevölkerung nicht doch größer verbreitet?
Bütikofer: Ich sage es gern nochmal. Ich bin mir sicher, das ist jetzt nicht nur von bestimmten Interessengruppen gemacht. Die Leute sind verunsichert, die Leute haben Sorgen, die Leute haben zum Teil Angst und sie sind auch einfach empört. Das ist wahr. Aber die Frage ist doch: Was ist jetzt die Aufgabe der Politik in der Situation? Kann es heißen: Ja, wenn die Reform erst mal bittere Seiten hat, machen wir sie lieber nicht. Kann das eine Antwort sein? Können wir uns hinstellen und sagen: Wir gucken zu, wie das ganze Ding an die Wand läuft, weil wir nicht den Mut haben, uns jetzt dafür einzusetzen, dass man, solange es noch möglich ist, den Sozialstaat reformiert? Und ist es die Verantwortung der Politik nicht vielleicht doch, dann immer wieder mit aller Geduld zu erklären, was der Sinn dieser Reform ist, dass man nämlich Arbeitslose nicht nur verwaltet, sondern ihnen grundsätzlich den Weg zum Arbeitsmarkt öffnet? Es ist doch charakteristisch für unsere Debatte, dass jetzt ganz viele Regelungen, die bis jetzt für Sozialhilfeempfänger schon gegolten haben, die offensichtlich niemand wahrgenommen hat, jetzt skandalisiert werden. Ich will das jetzt gar nicht kritisieren, ich stelle das erst mal nur fest. Wenn jetzt darüber diskutiert wird, wenn man sagt: Kann man das zumuten, kann man das nicht: Bis jetzt haben wir das schon einer Million Menschen zugemutet in diesem Land. Das ist ein klares Zeichen dafür, was eigentlich da stattgefunden hatte. Bestimmte Leute, nämlich diese Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger waren außen vor, hinter der Chinesischen Mauer quasi, die haben nicht mehr dazugehört. Jetzt, wo man den Versuch macht, die wieder einzugemeinden in den Arbeitsmarkt, auch mit Zumutungen, ohne Zweifel, indem man zum Beispiel sagt, auch niedrig bezahlte Angebote muss man annehmen, jetzt wird vielleicht manchen zum ersten Mal klar, dass das gar nicht so richtig war, wie das oft beschrieben worden ist als Faulenzerei auf Kosten der Gesellschaft, dass da durchaus auch hart zugegriffen wird. Nur die Frage ist: Können wir uns die Reform sparen? Ich komme immer wieder auf diesen Punkt - zugespitzt formuliert: Ist es sozialer, zuzugucken wie die Beschäftigungsschwelle immer höher wird, zuzugucken, wie immer mehr Leute draußen sind? Oder ist es sozialer, die Politik so zu ändern, dass wieder mehr Leute die Chance haben, einen Job zu finden?
Thiel: Sie erklären es hier, Sie erklären es in den Zeitungen, Sie gehen auch zu den Menschen raus. Sie waren in dieser Woche im Osten. Da gibt’s eine Tour durch den Osten vom Bundesvorstand, Sie waren in Cottbus. Verstehen es die Menschen dort vor Ort auch?
Bütikofer: Ich habe zum Beispiel mit einem älteren Mann gesprochen, der gesagt hat: Ich kann es alles akzeptieren, was Ihr da macht, bloß an der und der Stelle - und dann hat er ein konkretes Beispiel genannt, wo es um die Frage geht, wieviel Wohnraum jemand haben darf. Und seine Sorge war, dass das bürokratisch gehandhabt wird und dass da keine Spielräume eingeräumt werden - für einen konkreten Fall, wo jemand zwar mehr Wohnraum hat als ihm angeblich zustehen soll, aber es ist eigentlich billiger Wohnraum, wo es völlig verrückt wäre, zu sagen: Du hast zu viel, Du musst jetzt umziehen. Und ich glaube, solche Sorgen, oder die Sorge, dass man da bestimmte Dinge durch entsprechende Verwaltungsvorschriften abfedern muss, ich glaube, das muss man alles total ernst nehmen. Und ich glaube, man muss auch ernst nehmen Kritikpunkte an dieser Veränderung, die wir ja selber hatten. Ich kann keinem Gewerkschaftler widersprechen, wenn er sagt, dass wir jetzt bei der Hartz-Reform keine Mindestzumutbarkeitsgrenze mehr haben, ist falsch. Ich bin selber der Meinung, dass das falsch ist. Wir haben lange drum gekämpft, dass man sagt, wenigstens soll es das ortsübliche Lohnniveau sein. Das haben wir nicht durchsetzen können, deshalb führe ich jetzt die Debatte um Mindestlohnregelung - gesetzliche, tariflich, branchenspezifisch und regional differenzierte, gesetzliche Mindestlohnregelungen. Das ist ein Angebot, weil ich natürlich die Kritik teile. Es darf unser Tarifsystem am unteren Rand nicht völlig ausfransen. Es betrifft inzwischen viel mehr als die Arbeitslosen. Es betrifft ja auf breiter Front die Leute.
Thiel: Wollen Sie ein Mindestlohn-Gesetz?
Bütikofer: Ja.
Thiel: Wann kommt das?
Bütikofer: Das kann ich so schnell nicht sagen. Die Debatte fängt jetzt bei manchen richtig erst an. Ich weiß, dass die IG Metall sich jetzt neu auf diese Debatte einlässt. Wir haben unlängst eine Anhörung gemacht als Grüne, wo wir Wirtschaft und Gewerkschaft alle mal zu diesem Thema zusammengebracht haben. Da gab es von der IG Metall noch viele Vorbehalte, auch von der Chemiegewerkschaft. Das fängt an, in Bewegung zu geraten, ist mein Eindruck. Bei der SPD ist es ähnlich. Traditionell hat man gesagt: Das ist doch ein Tarifgeschäft. Franz Müntefering hat unlängst gesagt, er hat sich seine Meinung noch nicht abschließend gebildet. Da sehe ich auch eine neue Offenheit, weil man eben mehr und mehr sieht, dass die Kraft der Tarifpartner alleine, einen Arbeitslohn zu garantieren, von dem man noch leben kann, dass die in vielen Bereichen nicht mehr ausreicht.
Thiel: Die Wohlfahrtsverbände melden sich dann nun diese Woche und sagen, es wird mehrere Tausend Stellen für Langzeitarbeitslose geben. Das klappt aber nur mit der Zuschussregelung von Hartz IV. Neue Arbeitsplätze werden mit einem bis zwei Euro pro Stunde unterstützt. Kleinstjobs also doch, die den Niedriglohnsektor im Grunde genommen fördern?
Bütikofer: Ja, ich glaube, dass das Strategie sein kann, um Menschen, die aus dem Arbeitsmarkt raus waren, den Weg zurück zu öffnen. Niemand hat die Vorstellung - jedenfalls nicht bei uns -, dass das Dauerbeschäftigungsverhältnisse werden sollen. Ich habe auch von Wolfgang Clement gehört, dass er sagt: Also vielleicht sechs Monate, vielleicht neun Monate. Aber ich glaube, dass das eine von verschiedenen Brücken zurück in den Arbeitsmarkt sein kann.
Thiel: Muss man aber in diesem Zusammenhang nicht auch die Hinzuverdienstgrenzen doch noch erhöhen?
Bütikofer: Also dafür bin ich sehr. Aus der grünen Position ist das einfach zu formulieren. Am liebsten hätten wir die Regelung so, dass man sagt, wenn dazu verdient wird: Jeden zweiten Euro muss man abgeben und den ersten behält man selbst. Also nur die Hälfte wird einem weggenommen. Und das wäre für die Leute mit Sicherheit auch eine vernünftige Brücke, weil ja bisher schon ganz viele, denen viel weggenommen wird, trotzdem zusätzlich arbeiten gehen, weil sie den Weg suchen zurück in ein normales Beschäftigungsverhältnis. Ich glaube, dadurch könnte man die Anreize verbessern. Das ist sicher richtig.
Thiel: Auf der anderen Seite steht die Diskussion um die Managergehälter. Ist das nur eine Neiddebatte?
Bütikofer: Na ja, ich sage mal ganz einfach: Da kann man ja schon neidisch werden, wenn man hört, dass der Manager der großen Firma 240-mal so viel verdient wie…
Thiel: …der Vorsitzende der grünen Partei?
Bütikofer: Ach, vielleicht ist die Spanne nicht ganz so groß. Aber ich bin viel näher an dem Facharbeiterlohn. Ich habe nicht das Doppelte vom Facharbeiterlohn. Und der Manager hat 240-mal so viel. Also da ist etwas aus den Fugen geraten. Ich glaube, dass diese Debatte einen wichtigen Punkt trifft, unter anderem auch zugespitzt dadurch, dass viele von denen, die sich da krösusmäßig bedienen lassen, den anderen ständig den Gürtel enger schnallen. Ich glaube, da geht es um die Frage von Moralität in der Gesellschaft und in der Wirtschaft, und da geht es um die Frage, die für mich eine der Zentralfrage dieser ganzen Reformdebatte ist: Kriegen wir es am Ende nach allen Auseinandersetzungen, über die wir uns streiten, hin, eine neue Balance zu finden zwischen Veränderung und Gerechtigkeit.
Thiel: Gut. Aber mit der Moral hat es ja nicht geklappt. Muss der Gesetzgeber jetzt noch mal handeln?
Bütikofer: Es hat nicht geklappt, und wenn es weiter nicht klappt, muss er handeln. Und dann muss er eine Veröffentlichungspflicht für diese Gehälter vorschreiben.
Thiel: Ihr Parteifreund und ver.di-Chef Frank Bsirske hat in jüngster Zeit kein gutes Haar an der Bundesregierung gelassen. Die Politik sei unsozial und erfolglos, schrieb er jüngst, die Agenda 2010 stoße bei immer mehr Menschen auf Unverständnis und Wut. Wir sprachen schon darüber. Sie sagen, es ist keine überzogene Kritik. Aber vielleicht können Sie in diesem Zusammenhang mal Ihr Verhältnis zu den Gewerkschaften derzeit beschreiben.
Bütikofer: Das ist nicht mit einem Satz zu machen. Die Gewerkschaften sind nämlich auch kein monolitischer Block. Ich habe mit den meisten führenden Gewerkschaftsvertretern in der letzten Zeit immer wieder gesprochen, und da wird das sehr deutlich. Ich glaube, die Gewerkschaften stehen selber vor einer Weichenstellung. Die müssen sich selber entscheiden, ob sie Teil einer Modernisierungsanstrengung sein wollen, in die sie dann ihre Gesichtspunkt mit einbringen, ihre Anliegen gestaltend mit einbringen, oder ob sie gestikulierend protestierend am Rande stehen wollen und kommentieren. Und unser Angebot ist - und insbesondere auch von uns Grünen oder von mir gegenüber Frank Bsirske immer wieder -, lasst uns zusammenarbeiten. Ich bin interessiert an wirkungsstarken Gewerkschaften. Aber der Notwendigkeit, den Sozialstaat umzubauen, kann man sich nicht verweigern. Und manchmal habe ich den Eindruck, dass es besser wäre, sich zu überlegen, was eigentlich die langfristige Perspektive sein kann. Jetzt mal ganz nüchtern machtpolitisch betrachtet: Gäbe es die rot-grüne Bundesregierung nicht, dann wäre der Flächentarifvertrag schon längst beim Teufel. Gäbe es die rot-grüne Bundesregierung nicht, dann wären wichtige Gewerkschaftsrechte schon längst beim Teufel. Und wenn Gewerkschaften, egal wie, dazu beitragen, dass man das, was wir an Reformanstrengungen machen, für Teufelswerk hält und sagt, dagegen muss man jetzt alle Kräfte mobilisieren, und dann am Schluss sich eine Regierung einhandelt, die nur noch überlegt, ob sie schon in den ersten hundert Tagen oder gleich danach lang erkämpfte Gewerkschaftsrechte abschafft, dann frage ich mich, ob das aus Gewerkschaftsperspektive eine vernünftige Rechnung ist. Ich sage nicht, wir sind das kleinere Übel, das ist nicht mein Argument. Ich sage, wir haben da gemeinsame Wurzeln, wir kämpfen aus einer gemeinsamen Erfahrung heraus mit den Gewerkschaften für eine soziale Perspektive dieses Landes. Ob das jetzt Frank Bsirske gefällt oder nicht, meine These ist, der Sozialstaat kann nur eine Zukunft haben, wenn wir ihn grundlegend verändern. Und das heißt, wegkommen von einer Orientierung an einer Lebensstandardsicherung für den Mainstream der Arbeitnehmerschaft und hinkommen zu einer Existenzsicherung für alle in dieser Gesellschaft. Das ist eine schwierige Umbauoperation, das ist nicht mehr derselbe Sozialstaat, wie wir ihn geerbt hatten. Es ist aber ein Sozialstaat, der unter den Bedingungen der Globalisierung den Individuen eine Sicherheit bieten kann gegen die Privatisierung der Lebensrisiken. Und die Alternative dazu ist: Statt reformieren privatisieren, statt umbauen abschaffen. An der Stelle muss man, glaube ich, sich als Gewerkschafter – ich bin seit über 30 Jahren selber Gewerkschafter – aktiv für eine gestaltende Rolle entscheiden. Und ich habe mit dem Hubertus Schmoldt in der Vergangenheit als Ökologe viele Auseinandersetzungen gehabt und viele Dissense gehabt. Aber an der Stelle gäbe ich ihm Recht, wenn er einfordert, wir können als Gewerkschaften mehr erreichen, wenn wir uns jetzt da einmischen. Es gibt so viele gemeinsame Projekte, die man in den Vordergrund rücken muss: Bürgerversicherungen, die Frage der beruflichen Aus- und Weiterbildung, die ganze Revolution im Bildungswesen, die wir brauchen, damit diese Gesellschaft gerechter wird. Da können wir was anpacken. Aber wenn, egal jetzt unter welcher Überschrift, die Gewerkschaften sich einfach nur kontra Rot-Grün aufstellen, dann verspielen sie eigene Möglichkeiten. Das heißt, ich glaube, sie nützen dann dem eigenen Interesse nichts.
Thiel: Reinhard Bütikofer, das politische Sommertheater bestimmt in diesem Jahr die Union - begleitet von heimlicher Freude der Bündnisgrünen?
Bütikofer: Dass uns nichts Menschliches fremd ist, und auch die Schadenfreude nicht, gestehe ich zu.
Thiel: Hat denn Stoiber mit seiner dementierten Kritik an Merkel und Westerwelle recht?
Bütikofer: Klar hat er! Nein, ich habe mich darüber aus einem anderen Grund gefreut. Ich meine, Stoiber sagt das ja, glaube ich, nicht einfach nur, um sich an denen zu reiben, sondern weil er ernsthaft in Sorge ist um die Perspektiven der Union. Und ich meine, er hat ja schon Recht, sich Sorgen zu machen. Frau Merkel, die ihre Partei schon letztes Jahr eingeschworen hat auf die Kopfpauschale als die revolutionäre Perspektive, die lässt jetzt die Verfassungsmäßigkeit prüfen. Also ich meine, wenn irgendwas Leichtmatrosentum ist, dann das, wenn man erst mal beschließt, wir machen es, und dann sagt, wir gucken mal, ob es geht. Aber worüber ich mich gefreut habe, ist, dass er in seiner Art der Problematisierung der Lage der Opposition auch ein Signal sendet an so manchen Hasenfuß bei Rot-Grün. Stoiber glaubt in der Tat, wir können 2006 gewinnen. Ich glaube es auch.
Thiel: Woher nehmen Sie den Optimismus?
Bütikofer: Zum Teil liegt es daran, dass wir in der Tat das starke Führungsduo mit Schröder und Fischer haben. Zum Teil liegt es daran, dass wir jetzt unter diesen ganzen Schmerzen, über die wir am Anfang geredet haben, die Neuorientierung auskämpfen. Ich sage das nicht, weil ich da leicht drüber weg gehen will, aber ich habe bei den Grünen die Erfahrung gemacht: Wir haben in der letzten Legislaturperiode als Grüne, mit vielen Niederlagen gepflastert, grundlegende Neuorientierung auskämpfen müssen und sind dadurch stärker geworden, dass wir es gemacht haben, dass wir uns dem gestellt haben. Und ich glaube, das gilt für die Neuorientierung in der Sozialpolitik und in der Innenpolitik jetzt für Rot-Grün insgesamt. Und ich glaube, dass am Ende, wenn alle Demonstrationen gehalten sind und alle Argumente vorgetragen sind, die Leute doch sehen werden, die Menschen sich nicht hinters Licht führen lassen werden, auch nicht von Linkspopulisten der PDS, doch sehen werden: Es macht einen Unterschied, wer das Heft in der Hand hat. Ich war kürzlich ja in den USA und habe mir den demokratischen Parteitag angeguckt. Ich habe am Rand dessen auch Ralph Nader gehört, der in Harvard vor 600 Studenten gesprochen hat. Und es waren nur Leute, die nah an ihm dran waren, denen er versucht hat zu verkaufen, Demokraten oder Republikaner, Kerry oder Bush macht keinen Unterschied. Da haben noch nicht einmal 20 Prozent geklatscht. Und ich glaube, wenn man ernsthaft den Deutschen einreden will, ob Schröder und Fischer mit ihrer Außenpolitik und mit ihrer Innenpolitik oder ob Merkel/Westerwelle mit deren Außenpolitik und deren Innenpolitik, das macht einen Unterschied - die Leute werden sich nicht sagen lassen, dass das egal ist. Die Menschen werden sich das sehr genau überlegen, darauf setze ich. Wir müssen das durchstehen, wir müssen bis dahin kommen, wir dürfen uns nicht beirren lassen und nicht verhärten lassen und dürfen uns durch viel falsche Kritik nicht daran hindern lassen, die richtige Kritik anzunehmen. Auch das gehört zu einem klaren Kurs. Aber ich sehe die Chance durchaus.
Thiel: Richtige Kritik auch, wenn immer wieder gefordert wird, das Kabinett umzubilden auf dem Weg bis 2006?
Bütikofer: Also, erst mal bin ich für die Frage nicht zuständig, sondern die kann sich eigentlich nur an den Bundeskanzler richten. Aber ich will doch etwas dazu sagen. Ich glaube, dass in der Situation die Vorstellung: "Jetzt wechselt man Köpfe aus, dann wird es besser" irgendwie an der Sache vorbei geht. Ich glaube, das wäre ein Selbstbetrug und von der Öffentlichkeit müsste es als Versuch gewertet werden, von den Sachen abzulenken, um die es geht.
Thiel: Aber warum kommt der Aufschwung noch nicht beim Arbeitsmarkt an?
Bütikofer: Der Aufschwung liegt derzeit noch unter dem Niveau, das man immer noch braucht. Die letzten Zahlen, die ich gesehen habe, sagen: Wir haben die Beschäftigungsschwelle schon ein Stückchen gesenkt, wir können jetzt neue Jobs schaffen zwischen 1,5 und 2 Prozent Wachstum. Das ist immer noch mehr, als wir im Moment hinkriegen.
Thiel: Über die Verschiebung des Auszahlungstermins von dem Arbeitslosengeld II will die Bundesregierung nach der Sommerpause entscheiden. Ist das nicht jetzt schon ein Vorstoß, der politisch gescheitert ist?
Bütikofer: Also, ich sehe das durchaus kritisch, ich habe mich ja auch schon, als das zum ersten Mal in der Koalition diskutiert wurde, entsprechend geäußert. Ich glaube, man darf das nicht zulassen, dass da eine solche so genannte Auszahlungslücke entsteht. Der Bundeskanzler hat einen entsprechenden Auftrag gegeben, so dass eine Lösung vorgelegt wird. Ich gehe davon aus, dass es zu dieser Lösung kommt. Es hat ja zuletzt auch nochmal gewichtige juristische Vorbehalte gegeben gegen die Überlegung, die man sich da im BMWA gemacht hat, und ich glaube nicht, dass das letzte Wort sein kann.
Thiel: War das psychologisch gut, mitten in der Sommerpause oder kurz vor dem Sommerurlaub derartige Ideen in die Landschaft zu werfen und dann erst einmal die Diskussion toben zu lassen?
Bütikofer: Nun ja, wenn man die Wahl hätte, würde man es sich wahrscheinlich anders aussuchen. Nur, was auch illusionär wäre, ist die Vorstellung, man könne eine solche tief eingreifende und breit gestaffelte Reform wie die, die jetzt unter der Überschrift Hartz IV firmiert, hinkriegen, ohne dass es dabei Schwierigkeiten und Probleme und Fehler und Fehlkommunikation und Friktion und alles Mögliche gibt. Das ist einfach nicht möglich. Wo etwas neu gemacht werden muss, wird auch mal etwas falsch gemacht. Das Entscheidende: Der Maßstab, um den es geht, ist doch, dass die Probleme dann gelöst werden. Und ich würde dann schon auch dafür werben, dass man das jetzt nicht durch eine Panikmache noch erschwert, dass die Probleme gelöst werden. Zum Beispiel – ich sage jetzt mal diese Frage mit der Anrechnung von Sparkonten der Kinder. Da wird skandalisiert, dass es da einen Höchstbetrag gibt, der anrechnungsfrei bleibt. Es wird kaum thematisiert, dass bisher nach der Sozialhilfegesetzgebung für Sozialhilfeempfänger es auch schon einen Freibetrag gab, der bei einem Drittel lag dessen, was für die Zukunft gelten soll – so dass man sagen kann, dass für alle die, die bis jetzt Sozialhilfe hatten, für alle die, die bis jetzt Arbeitslosenhilfe und ergänzende Sozialhilfe hatten, sich an der Stelle de facto was verbessert.
Thiel: Aber wundert Sie es denn nicht, dass diese Hartz IV–Reform ein erhöhtes Empörungspotential hat? Zum Beispiel: Nachdem man gerade propagiert hat, wir müssen die private Vorsorge stärken, müssen Langzeitarbeitslose jetzt ihre Lebensversicherungen verkaufen.
Bütikofer: Also, richtig ist, dass natürlich da ein Kritikpotential da ist. Es gibt, das muss ich auch zugeben, es gibt in dieser Reform ja auch Widersprüche. Sie haben gerade diesen einen angesprochen. Wir wollen mehr private Vorsorge, und auf der anderen Stelle wird hier die Anrechnung der privaten Vorsorge begrenzt. Zum Teil sind das - das muss man aber mal dazu sagen - Dinge, die uns im Vermittlungsverfahren die Union aufgezwungen hat. Und ich finde das außerordentlich scheinheilig - um nicht ein böseres Wort zu gebrauchen -, dass an jeder Stelle von der Union mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, versucht worden ist, die Regelungen anzuschärfen. Und jetzt stellen sich die Herrschaften hin und machen die sozialrevolutionäre Nummer und sagen, das ist alles nicht zumutbar. Und als besonderen Clou verkünden sie dann am Ende, dass man das alles verschieben soll, das heißt, die notwendige Reformanstrengung auf die lange Bank schieben, damit noch möglichst lange möglichst viel öffentliches Chaos existiert und man drin wühlen kann. Da habe ich den Eindruck, da geht’s nicht mehr darum, sich anzustrengen, Probleme zu lösen. Da gibt es noch nicht mal mehr genug Geradheit, um bei dem zu bleiben, was man selber vor wenigen Monaten vertreten hat, sondern da wird nur noch um den parteipolitischen Profit gerungen. Und genau so kommt es linkspopulistisch von der PDS daher. Das Allerübelste ist, dass jetzt auch noch der gute Name der Montagsdemonstrationen missbraucht wird.
Thiel: Diese Montagsdemonstrationen, die ja nun gerade den Druck auf Hartz IV erhöhen, machen Sie eigentlich nicht nachdenklich? Denken Sie, es sind tatsächlich nur bestimmte Kreise, die dort demonstrieren, die ein bestimmtes Interesse haben - frustrierte Gewerkschaftler vielleicht oder rechte Gruppen, oder ist der Unmut in weiten Teilen der Bevölkerung nicht doch größer verbreitet?
Bütikofer: Ich sage es gern nochmal. Ich bin mir sicher, das ist jetzt nicht nur von bestimmten Interessengruppen gemacht. Die Leute sind verunsichert, die Leute haben Sorgen, die Leute haben zum Teil Angst und sie sind auch einfach empört. Das ist wahr. Aber die Frage ist doch: Was ist jetzt die Aufgabe der Politik in der Situation? Kann es heißen: Ja, wenn die Reform erst mal bittere Seiten hat, machen wir sie lieber nicht. Kann das eine Antwort sein? Können wir uns hinstellen und sagen: Wir gucken zu, wie das ganze Ding an die Wand läuft, weil wir nicht den Mut haben, uns jetzt dafür einzusetzen, dass man, solange es noch möglich ist, den Sozialstaat reformiert? Und ist es die Verantwortung der Politik nicht vielleicht doch, dann immer wieder mit aller Geduld zu erklären, was der Sinn dieser Reform ist, dass man nämlich Arbeitslose nicht nur verwaltet, sondern ihnen grundsätzlich den Weg zum Arbeitsmarkt öffnet? Es ist doch charakteristisch für unsere Debatte, dass jetzt ganz viele Regelungen, die bis jetzt für Sozialhilfeempfänger schon gegolten haben, die offensichtlich niemand wahrgenommen hat, jetzt skandalisiert werden. Ich will das jetzt gar nicht kritisieren, ich stelle das erst mal nur fest. Wenn jetzt darüber diskutiert wird, wenn man sagt: Kann man das zumuten, kann man das nicht: Bis jetzt haben wir das schon einer Million Menschen zugemutet in diesem Land. Das ist ein klares Zeichen dafür, was eigentlich da stattgefunden hatte. Bestimmte Leute, nämlich diese Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger waren außen vor, hinter der Chinesischen Mauer quasi, die haben nicht mehr dazugehört. Jetzt, wo man den Versuch macht, die wieder einzugemeinden in den Arbeitsmarkt, auch mit Zumutungen, ohne Zweifel, indem man zum Beispiel sagt, auch niedrig bezahlte Angebote muss man annehmen, jetzt wird vielleicht manchen zum ersten Mal klar, dass das gar nicht so richtig war, wie das oft beschrieben worden ist als Faulenzerei auf Kosten der Gesellschaft, dass da durchaus auch hart zugegriffen wird. Nur die Frage ist: Können wir uns die Reform sparen? Ich komme immer wieder auf diesen Punkt - zugespitzt formuliert: Ist es sozialer, zuzugucken wie die Beschäftigungsschwelle immer höher wird, zuzugucken, wie immer mehr Leute draußen sind? Oder ist es sozialer, die Politik so zu ändern, dass wieder mehr Leute die Chance haben, einen Job zu finden?
Thiel: Sie erklären es hier, Sie erklären es in den Zeitungen, Sie gehen auch zu den Menschen raus. Sie waren in dieser Woche im Osten. Da gibt’s eine Tour durch den Osten vom Bundesvorstand, Sie waren in Cottbus. Verstehen es die Menschen dort vor Ort auch?
Bütikofer: Ich habe zum Beispiel mit einem älteren Mann gesprochen, der gesagt hat: Ich kann es alles akzeptieren, was Ihr da macht, bloß an der und der Stelle - und dann hat er ein konkretes Beispiel genannt, wo es um die Frage geht, wieviel Wohnraum jemand haben darf. Und seine Sorge war, dass das bürokratisch gehandhabt wird und dass da keine Spielräume eingeräumt werden - für einen konkreten Fall, wo jemand zwar mehr Wohnraum hat als ihm angeblich zustehen soll, aber es ist eigentlich billiger Wohnraum, wo es völlig verrückt wäre, zu sagen: Du hast zu viel, Du musst jetzt umziehen. Und ich glaube, solche Sorgen, oder die Sorge, dass man da bestimmte Dinge durch entsprechende Verwaltungsvorschriften abfedern muss, ich glaube, das muss man alles total ernst nehmen. Und ich glaube, man muss auch ernst nehmen Kritikpunkte an dieser Veränderung, die wir ja selber hatten. Ich kann keinem Gewerkschaftler widersprechen, wenn er sagt, dass wir jetzt bei der Hartz-Reform keine Mindestzumutbarkeitsgrenze mehr haben, ist falsch. Ich bin selber der Meinung, dass das falsch ist. Wir haben lange drum gekämpft, dass man sagt, wenigstens soll es das ortsübliche Lohnniveau sein. Das haben wir nicht durchsetzen können, deshalb führe ich jetzt die Debatte um Mindestlohnregelung - gesetzliche, tariflich, branchenspezifisch und regional differenzierte, gesetzliche Mindestlohnregelungen. Das ist ein Angebot, weil ich natürlich die Kritik teile. Es darf unser Tarifsystem am unteren Rand nicht völlig ausfransen. Es betrifft inzwischen viel mehr als die Arbeitslosen. Es betrifft ja auf breiter Front die Leute.
Thiel: Wollen Sie ein Mindestlohn-Gesetz?
Bütikofer: Ja.
Thiel: Wann kommt das?
Bütikofer: Das kann ich so schnell nicht sagen. Die Debatte fängt jetzt bei manchen richtig erst an. Ich weiß, dass die IG Metall sich jetzt neu auf diese Debatte einlässt. Wir haben unlängst eine Anhörung gemacht als Grüne, wo wir Wirtschaft und Gewerkschaft alle mal zu diesem Thema zusammengebracht haben. Da gab es von der IG Metall noch viele Vorbehalte, auch von der Chemiegewerkschaft. Das fängt an, in Bewegung zu geraten, ist mein Eindruck. Bei der SPD ist es ähnlich. Traditionell hat man gesagt: Das ist doch ein Tarifgeschäft. Franz Müntefering hat unlängst gesagt, er hat sich seine Meinung noch nicht abschließend gebildet. Da sehe ich auch eine neue Offenheit, weil man eben mehr und mehr sieht, dass die Kraft der Tarifpartner alleine, einen Arbeitslohn zu garantieren, von dem man noch leben kann, dass die in vielen Bereichen nicht mehr ausreicht.
Thiel: Die Wohlfahrtsverbände melden sich dann nun diese Woche und sagen, es wird mehrere Tausend Stellen für Langzeitarbeitslose geben. Das klappt aber nur mit der Zuschussregelung von Hartz IV. Neue Arbeitsplätze werden mit einem bis zwei Euro pro Stunde unterstützt. Kleinstjobs also doch, die den Niedriglohnsektor im Grunde genommen fördern?
Bütikofer: Ja, ich glaube, dass das Strategie sein kann, um Menschen, die aus dem Arbeitsmarkt raus waren, den Weg zurück zu öffnen. Niemand hat die Vorstellung - jedenfalls nicht bei uns -, dass das Dauerbeschäftigungsverhältnisse werden sollen. Ich habe auch von Wolfgang Clement gehört, dass er sagt: Also vielleicht sechs Monate, vielleicht neun Monate. Aber ich glaube, dass das eine von verschiedenen Brücken zurück in den Arbeitsmarkt sein kann.
Thiel: Muss man aber in diesem Zusammenhang nicht auch die Hinzuverdienstgrenzen doch noch erhöhen?
Bütikofer: Also dafür bin ich sehr. Aus der grünen Position ist das einfach zu formulieren. Am liebsten hätten wir die Regelung so, dass man sagt, wenn dazu verdient wird: Jeden zweiten Euro muss man abgeben und den ersten behält man selbst. Also nur die Hälfte wird einem weggenommen. Und das wäre für die Leute mit Sicherheit auch eine vernünftige Brücke, weil ja bisher schon ganz viele, denen viel weggenommen wird, trotzdem zusätzlich arbeiten gehen, weil sie den Weg suchen zurück in ein normales Beschäftigungsverhältnis. Ich glaube, dadurch könnte man die Anreize verbessern. Das ist sicher richtig.
Thiel: Auf der anderen Seite steht die Diskussion um die Managergehälter. Ist das nur eine Neiddebatte?
Bütikofer: Na ja, ich sage mal ganz einfach: Da kann man ja schon neidisch werden, wenn man hört, dass der Manager der großen Firma 240-mal so viel verdient wie…
Thiel: …der Vorsitzende der grünen Partei?
Bütikofer: Ach, vielleicht ist die Spanne nicht ganz so groß. Aber ich bin viel näher an dem Facharbeiterlohn. Ich habe nicht das Doppelte vom Facharbeiterlohn. Und der Manager hat 240-mal so viel. Also da ist etwas aus den Fugen geraten. Ich glaube, dass diese Debatte einen wichtigen Punkt trifft, unter anderem auch zugespitzt dadurch, dass viele von denen, die sich da krösusmäßig bedienen lassen, den anderen ständig den Gürtel enger schnallen. Ich glaube, da geht es um die Frage von Moralität in der Gesellschaft und in der Wirtschaft, und da geht es um die Frage, die für mich eine der Zentralfrage dieser ganzen Reformdebatte ist: Kriegen wir es am Ende nach allen Auseinandersetzungen, über die wir uns streiten, hin, eine neue Balance zu finden zwischen Veränderung und Gerechtigkeit.
Thiel: Gut. Aber mit der Moral hat es ja nicht geklappt. Muss der Gesetzgeber jetzt noch mal handeln?
Bütikofer: Es hat nicht geklappt, und wenn es weiter nicht klappt, muss er handeln. Und dann muss er eine Veröffentlichungspflicht für diese Gehälter vorschreiben.
Thiel: Ihr Parteifreund und ver.di-Chef Frank Bsirske hat in jüngster Zeit kein gutes Haar an der Bundesregierung gelassen. Die Politik sei unsozial und erfolglos, schrieb er jüngst, die Agenda 2010 stoße bei immer mehr Menschen auf Unverständnis und Wut. Wir sprachen schon darüber. Sie sagen, es ist keine überzogene Kritik. Aber vielleicht können Sie in diesem Zusammenhang mal Ihr Verhältnis zu den Gewerkschaften derzeit beschreiben.
Bütikofer: Das ist nicht mit einem Satz zu machen. Die Gewerkschaften sind nämlich auch kein monolitischer Block. Ich habe mit den meisten führenden Gewerkschaftsvertretern in der letzten Zeit immer wieder gesprochen, und da wird das sehr deutlich. Ich glaube, die Gewerkschaften stehen selber vor einer Weichenstellung. Die müssen sich selber entscheiden, ob sie Teil einer Modernisierungsanstrengung sein wollen, in die sie dann ihre Gesichtspunkt mit einbringen, ihre Anliegen gestaltend mit einbringen, oder ob sie gestikulierend protestierend am Rande stehen wollen und kommentieren. Und unser Angebot ist - und insbesondere auch von uns Grünen oder von mir gegenüber Frank Bsirske immer wieder -, lasst uns zusammenarbeiten. Ich bin interessiert an wirkungsstarken Gewerkschaften. Aber der Notwendigkeit, den Sozialstaat umzubauen, kann man sich nicht verweigern. Und manchmal habe ich den Eindruck, dass es besser wäre, sich zu überlegen, was eigentlich die langfristige Perspektive sein kann. Jetzt mal ganz nüchtern machtpolitisch betrachtet: Gäbe es die rot-grüne Bundesregierung nicht, dann wäre der Flächentarifvertrag schon längst beim Teufel. Gäbe es die rot-grüne Bundesregierung nicht, dann wären wichtige Gewerkschaftsrechte schon längst beim Teufel. Und wenn Gewerkschaften, egal wie, dazu beitragen, dass man das, was wir an Reformanstrengungen machen, für Teufelswerk hält und sagt, dagegen muss man jetzt alle Kräfte mobilisieren, und dann am Schluss sich eine Regierung einhandelt, die nur noch überlegt, ob sie schon in den ersten hundert Tagen oder gleich danach lang erkämpfte Gewerkschaftsrechte abschafft, dann frage ich mich, ob das aus Gewerkschaftsperspektive eine vernünftige Rechnung ist. Ich sage nicht, wir sind das kleinere Übel, das ist nicht mein Argument. Ich sage, wir haben da gemeinsame Wurzeln, wir kämpfen aus einer gemeinsamen Erfahrung heraus mit den Gewerkschaften für eine soziale Perspektive dieses Landes. Ob das jetzt Frank Bsirske gefällt oder nicht, meine These ist, der Sozialstaat kann nur eine Zukunft haben, wenn wir ihn grundlegend verändern. Und das heißt, wegkommen von einer Orientierung an einer Lebensstandardsicherung für den Mainstream der Arbeitnehmerschaft und hinkommen zu einer Existenzsicherung für alle in dieser Gesellschaft. Das ist eine schwierige Umbauoperation, das ist nicht mehr derselbe Sozialstaat, wie wir ihn geerbt hatten. Es ist aber ein Sozialstaat, der unter den Bedingungen der Globalisierung den Individuen eine Sicherheit bieten kann gegen die Privatisierung der Lebensrisiken. Und die Alternative dazu ist: Statt reformieren privatisieren, statt umbauen abschaffen. An der Stelle muss man, glaube ich, sich als Gewerkschafter – ich bin seit über 30 Jahren selber Gewerkschafter – aktiv für eine gestaltende Rolle entscheiden. Und ich habe mit dem Hubertus Schmoldt in der Vergangenheit als Ökologe viele Auseinandersetzungen gehabt und viele Dissense gehabt. Aber an der Stelle gäbe ich ihm Recht, wenn er einfordert, wir können als Gewerkschaften mehr erreichen, wenn wir uns jetzt da einmischen. Es gibt so viele gemeinsame Projekte, die man in den Vordergrund rücken muss: Bürgerversicherungen, die Frage der beruflichen Aus- und Weiterbildung, die ganze Revolution im Bildungswesen, die wir brauchen, damit diese Gesellschaft gerechter wird. Da können wir was anpacken. Aber wenn, egal jetzt unter welcher Überschrift, die Gewerkschaften sich einfach nur kontra Rot-Grün aufstellen, dann verspielen sie eigene Möglichkeiten. Das heißt, ich glaube, sie nützen dann dem eigenen Interesse nichts.
Thiel: Reinhard Bütikofer, das politische Sommertheater bestimmt in diesem Jahr die Union - begleitet von heimlicher Freude der Bündnisgrünen?
Bütikofer: Dass uns nichts Menschliches fremd ist, und auch die Schadenfreude nicht, gestehe ich zu.
Thiel: Hat denn Stoiber mit seiner dementierten Kritik an Merkel und Westerwelle recht?
Bütikofer: Klar hat er! Nein, ich habe mich darüber aus einem anderen Grund gefreut. Ich meine, Stoiber sagt das ja, glaube ich, nicht einfach nur, um sich an denen zu reiben, sondern weil er ernsthaft in Sorge ist um die Perspektiven der Union. Und ich meine, er hat ja schon Recht, sich Sorgen zu machen. Frau Merkel, die ihre Partei schon letztes Jahr eingeschworen hat auf die Kopfpauschale als die revolutionäre Perspektive, die lässt jetzt die Verfassungsmäßigkeit prüfen. Also ich meine, wenn irgendwas Leichtmatrosentum ist, dann das, wenn man erst mal beschließt, wir machen es, und dann sagt, wir gucken mal, ob es geht. Aber worüber ich mich gefreut habe, ist, dass er in seiner Art der Problematisierung der Lage der Opposition auch ein Signal sendet an so manchen Hasenfuß bei Rot-Grün. Stoiber glaubt in der Tat, wir können 2006 gewinnen. Ich glaube es auch.
Thiel: Woher nehmen Sie den Optimismus?
Bütikofer: Zum Teil liegt es daran, dass wir in der Tat das starke Führungsduo mit Schröder und Fischer haben. Zum Teil liegt es daran, dass wir jetzt unter diesen ganzen Schmerzen, über die wir am Anfang geredet haben, die Neuorientierung auskämpfen. Ich sage das nicht, weil ich da leicht drüber weg gehen will, aber ich habe bei den Grünen die Erfahrung gemacht: Wir haben in der letzten Legislaturperiode als Grüne, mit vielen Niederlagen gepflastert, grundlegende Neuorientierung auskämpfen müssen und sind dadurch stärker geworden, dass wir es gemacht haben, dass wir uns dem gestellt haben. Und ich glaube, das gilt für die Neuorientierung in der Sozialpolitik und in der Innenpolitik jetzt für Rot-Grün insgesamt. Und ich glaube, dass am Ende, wenn alle Demonstrationen gehalten sind und alle Argumente vorgetragen sind, die Leute doch sehen werden, die Menschen sich nicht hinters Licht führen lassen werden, auch nicht von Linkspopulisten der PDS, doch sehen werden: Es macht einen Unterschied, wer das Heft in der Hand hat. Ich war kürzlich ja in den USA und habe mir den demokratischen Parteitag angeguckt. Ich habe am Rand dessen auch Ralph Nader gehört, der in Harvard vor 600 Studenten gesprochen hat. Und es waren nur Leute, die nah an ihm dran waren, denen er versucht hat zu verkaufen, Demokraten oder Republikaner, Kerry oder Bush macht keinen Unterschied. Da haben noch nicht einmal 20 Prozent geklatscht. Und ich glaube, wenn man ernsthaft den Deutschen einreden will, ob Schröder und Fischer mit ihrer Außenpolitik und mit ihrer Innenpolitik oder ob Merkel/Westerwelle mit deren Außenpolitik und deren Innenpolitik, das macht einen Unterschied - die Leute werden sich nicht sagen lassen, dass das egal ist. Die Menschen werden sich das sehr genau überlegen, darauf setze ich. Wir müssen das durchstehen, wir müssen bis dahin kommen, wir dürfen uns nicht beirren lassen und nicht verhärten lassen und dürfen uns durch viel falsche Kritik nicht daran hindern lassen, die richtige Kritik anzunehmen. Auch das gehört zu einem klaren Kurs. Aber ich sehe die Chance durchaus.
Thiel: Richtige Kritik auch, wenn immer wieder gefordert wird, das Kabinett umzubilden auf dem Weg bis 2006?
Bütikofer: Also, erst mal bin ich für die Frage nicht zuständig, sondern die kann sich eigentlich nur an den Bundeskanzler richten. Aber ich will doch etwas dazu sagen. Ich glaube, dass in der Situation die Vorstellung: "Jetzt wechselt man Köpfe aus, dann wird es besser" irgendwie an der Sache vorbei geht. Ich glaube, das wäre ein Selbstbetrug und von der Öffentlichkeit müsste es als Versuch gewertet werden, von den Sachen abzulenken, um die es geht.