Die Autofähre von Stockholm Richtung Helsinki hat gerade abgelegt. Jetzt heißt es für die Passagiere erst mal einen Platz auf dem Sonnendeck finden, oder bei schlechterem Wetter in einem der verschiedenen Restaurants. Früher oder später aber kommt fast jeder in das Geschäft für zollfreie Waren auf dem Mitteldeck.
Zigaretten, Parfüm und Alkohol, jede Menge Alkohol, und das für skandinavische Verhältnisse unschlagbar günstig. Manche kommen mit kleinen Handkarren, um sich gleich mit mehreren Kartons Bierdosen zu versorgen. Den zollfreien Einkauf verdanken die Passagiere den Aland Inseln, einem kleinen Inselarchipel zwischen Schweden und Finnland. Fähren, die hier halt machen, dürfen obwohl mitten in der EU, ihre Waren zollfrei anbieten. Eine der vielen Besonderheiten des Inselarchipels. Kein Wunder, dass fast alle Fähren zwischen Schweden und Finnland einen kurzen Zwischenstopp in Mariehamn, der Hauptstadt der Alandinseln einlegen.
Nur die wenigsten Fahrgäste der riesigen Autofähren, die hier im Halbstundentakt an- und ablegen steigen jedoch aus. Dabei sei das Inselreich wirklich fantastisch, erklärt mir Jan-Erik Mattsson gleich nach der Ankunft:
"Aland ist ein wirklich kleines Land. Eine grüne Insel mit roten Felsen im Blauen Meer. Wir haben insgesamt 6500 kleine Inseln, von denen heute 65 bewohnt sind. Aber auch die anderen sind für jedermann zugänglich."
Jan-Erik Mattsson ist der amtierende Minister für Handel, Industrie, Landwirtschaft, Fischerei und Tourismus. Formal gehören die Aland-Inseln zwar zu Finnland. Praktisch aber verwalten sich die wenigen Insulaner auf dem Archipel fast völlige autonom.
"Heute leben hier auf den Inseln etwa 27.000 Menschen. Alleine 11.000 davon hier in Mariehamn. Die meisten der 16 Gemeinden sind über Strassen erreichbar. Fünf allerdings sind im Archipel, wo man nur mit kleinen Fähren hinkommt. Im Sommer fahren die häufiger und das Auto kann man auch mitnehmen."
Erstmal aber bleibe ich auf der Hauptinsel, die von den Insulanern hier Festland genannt wird. Etwa 30 Kilometer von der Hauptstadt Mariehamn entfernt treffe ich mich mit Graham Robbins, einem Engländer der vor Jahren hier auf die Inseln kam, weil seine schwedische Freundin hier Arbeit gefunden hatte:
"Ich hatte bis dahin noch nie irgendwas von den Aland Inseln gehört muss ich zugeben. Dabei ist es so was wie ein Paradies im Baltischen Meer und eines der größten Inselarchipele der Welt. Besonders im Sommer ist es paradiesisch. Es ist heiß und man kann im Meer schwimmen. Alle diese kleinen Inselchen in dieser unberührten Natur, das ist wirklich ein wunderbarer Ort."
Doch so abgelegen die Gegend auch scheint, die Inseln hatten über Jahrhunderte eine wichtige Bedeutung für das ganze Baltikum, erklärt mir Graham Robbins, der Archäologie studiert hatte, bevor er hierher kam. Während wir auf eine Anhöhe steigen, die uns einen fantastischen Blick über die Insellandschaft erlaubt. Direkt vor uns erinnern große Granitquader an ein riesiges Bauwerk, von dem nur noch einige Ruinen erkennbar sind.
"Wir sind jetzt hier auf dem höchsten Punkt in der Gegend von Bomarsund, auf 62 Metern über dem Meeresspiegel. Aland ist nicht besonders bergig. Der höchste Punkt auf den Aland Inseln ist 120 Meter. Von hier hat man einen ziemlich guten Blick nach Osten in Richtung des Archipels, nach Norden das offene Wasser und die Inselbucht Lumpan Richtung Süden."
Jahrhundertelang gehörten die Inseln wie auch das heutige Finnland zum schwedischen Königreich, bis Russland 1808 Finnland und auch die strategisch wichtigen Alandinseln eroberte. Wenige Jahre später begann das russische Militär hier in Bomarsund ein riesiges Verteidigungsbollwerk zu errichten, dessen Dimensionen man heute nur noch mit Hilfe eines versierten Experten wie Graham Robbins erahnen kann:
"Richtung Südosten, vor uns nahe am Wasser lag die Festung. Es war ein großes 300 Meter langes hufeinsenartiges Gebäude, das mit Granit verkleidet war, um besser gegen Kanonenbeschuss geschützt zu sein. Insgesamt hatte es 15.000 Quadratmeter Nutzfläche und ist damit das größte Gebäude, das jemals auf Aland gebaut wurde. Es sollte zweieinhalbtausend Menschen unterbringen und hatte auf zwei Stockwerken Schießscharten für Kanonen. Insgesamt hatte man 100 Kanonen im Gebäude."
Doch das Bollwerk nützte den russischen Verteidigern dann gar nichts, als eine riesige Armada englischer und französischer Kriegsschiffe im Sommer 1854 auf Aland landete. Während unbemerkt ein Teil der Angreifer die unbewachten Höhenzüge rund um das Fort mit Kanonen bestückte, eröffneten die Schiffe das Feuer von See.
Fast glaubt man bei der detailreichen Schilderung von Graham Robbins, die Kanonensalven und das Kampfgetümmel noch von Ferne über das Meer hören zu können:
"Am morgen des 13. August griffen die Franzosen einen Wachturm im Westen an und nahmen ihn innerhalb von vierundzwanzig Stunden ein. Am 14. August war es eher ruhig, aber am 15. schossen die Kanonen aus allen Rohren. Gleichzeitig hatten die Franzosen ihre Kanonen auf die Rückseite der Festung bringen können, so dass die Festung jetzt von allen Seiten angegriffen werden konnte. Und wenn man die Soldaten und alle Schiffsbesatzungen zusammenzählt war die Zahl der Angreifer bei etwa 20.000. Die Russen waren also hoffnungslos unterlegen. Das ganze dauerte drei Tage. Am Nachmittag des 16. August gaben sie schließlich auf."
Der Fall der Festung in Bomarsund war der Beginn des Krim-Krieges. Denn eigentlich ging es den Engländern und Franzosen damals darum das mit ihnen verbündete Osmanische Reich am Schwarzen Meer vor russischen Angriffen zu schützen. Und um die Russen daran zu hindern ihre im Norden stationierten Truppen in den Süden zu verlegen, begann der Krim-Krieg also hier, tausende Kilometer vom Schwarzen Meer entfernt. Als der dann zwei Jahre später 1856 mit einer Niederlage der Russen in Sewastopol zu Ende ging, einigten sich die Kriegsparteien in einem Friedensvertrag die Alandinseln völlig zu demilitarisieren. Das Inselreich gehörte weiter zu Russland, aber alles Militärische war hier von nun an verboten. Und ist es bis heute. So sind die Aland Inseln das vermutlich älteste bis heute kontinuierlich bestehende demilitarisierte Gebiet weltweit.
1917, als Finnland sich von Russland unabhängig erklärte, wollten die Aländer eigentlich wieder zu Schweden gehören, denn hier auf den Inseln wird nicht finnisch, sondern bis heute ausschließlich schwedisch gesprochen. Der damals gerade neu gegründete Völkerbund entschied dann aber, dass die Alandinseln bei Finnland bleiben, aber mit einer sehr weitgehenden Autonomie. Sogar eine eigene Fahne, eine eigene Post mit eigenen Briefmarken gibt es mittlerweile. Ein System, das für die Insulaner offenbar bestens funktioniert. Verdient wird hier gut. Arbeitslosigkeit gibt es praktisch gar nicht. Nur das Leben auf den kleineren abgelegenen Inseln wird immer schwieriger.
Ich mache mich auf nach Björkö, einer der kleinen bewohnten Inseln nahe am finnischen Festland. Erstmal geht es wieder auf eine, diesmal sehr viel kleinere, Fähre.
Das Restaurant an Bord ist offenbar so etwas wie bei uns die Eckkneipe, wo man sich trifft und den neuesten Tratsch mit den Leuten von den Nachbarinseln austauscht. Wie bei uns ein Linienbus hält die Fähre, mal an dieser mal an jener Insel bevor es für mich nach etwa zwei Stunden Zeit ist, auszusteigen. Von dort muss ich erst noch eine kleine Insel überqueren, an deren Ende mich dann eine Kabelfähre endlich nach Björkö bringt, wo ich mich mit Kenneth Holström treffe, der hier vor einigen Jahren ein altes Bauernhaus gekauft hat.
Das Haus stand jahrelang leer. Wie die meisten Inselbewohner, waren auch die Bauern dieses Hauses schon vor Jahrzehnten weggezogen. Das ganze Leben spielte sich damals hauptsächlich hier in der großen Wohnküche ab, in der man noch heute vier hölzerne Bettnischen erkennen kann, erklärt mir Kenneth Holström:
"Man merkt sofort, dass hier eine Menge Leute gelebt haben. Diese etwa 50 Quadratmeter große Küche hier, mit dem großen großen Steinofen in der Mitte, das war früher das Zentrum des Lebens. Im Winter lebten alle hier. Daher hatte man diese Bettkästen, wo jeweils mindestens zwei Leute drin schliefen, das war schon mal für acht Leute und wer alt oder krank war, der konnte dann noch oberhalb des Ofens schlafen. Es war ja der einzige Raum, der im Winter geheizt wurde. Zweimal im Monat wurde hier Brot gebacken, hier wurde gekocht, hier fand alles statt. Das ganze Leben fand rund ums Feuer statt. So war das früher überall in Skandinavien. Es ist für mich ein Blick zurück in die Vergangenheit, wie ich es noch als Kind erinnere bei der Familie meines Vaters."
Aufgewachsen ist Kenneth auf Aland, aber lebte dann jahrelang in Südkalifornien, bevor es ihn dann doch wieder zurück in seine Heimat zog. Sein Geld verdient er mit Bootsreparaturen in Mariehamn. Den Sommer aber liebt er in dieser abgelegenen Naturidylle zu verbringen. So wie es viele hier auf den Inseln machen. Aber das ganze Jahr über hier zu leben, das kann auch er sich nicht mehr vorstellen. Dafür sei es ihm dann doch zu einsam. Heute hat Björkö nur noch etwa zehn Einwohner, die das ganze Jahr über hier leben. Eva Sundberg und Anders Stenmark sind zwei davon, die zeigen, dass man mittlerweile auch hier gut leben kann, ohne auf die Welt da draußen verzichten zu müssen.
Als ich komme sitzt Anders gerade im Wohnzimmer und sieht sich im Internet Musikvideos an. Vor über zwanzig Jahren war er als Ingenieur von der Regierung hierher geschickt worden, um Leute zu animieren auf den noch bewohnten Inseln wieder als Landwirte zu arbeiten. Doch immer weniger Aländer waren dazu bereit. Schließlich entschieden sich Anders und seine Frau Eva es selbst mit Schafzucht zu versuchen. Im Winter sei es natürlich ziemlich einsam hier. Da sitzen sie dann abends oft zu Hause und spielen traditionelle Aländische Musik, meint Andersch und holt wie zum Beweis seine Geige hervor. Eva, seine Frau, begleitet ihn auf der schwedischen Zitter:
"Viele der Lieder habe ich hier in verschiedenen Gegenden der Alandinseln gehört. Südlich von hier gab es eine wirklich lebendige Tradition. Da gibt es ein paar Geiger von denen ich gelernt habe. Es gibt etliche hier. Diese Musik lernt man nicht von Noten. Das hab ich durchs zuhören gelernt. Ich komme aus Schweden, aber meine Eltern kommen von Aland und als ich mit der Geige anfing, begann ich mich für die Musik hier zu interessieren und merkte, dass es hier auf den Inseln noch eine lebendige Tradition gibt."
Ein paar hundert Meter weiter, entlang der einzigen Straße auf der Insel leben Ethel und Gösta Karlsson. Die beiden sind so um die 80 und haben seit ihrer Geburt hier in ihrem Elternhaus nie irgendwo anders gelebt. Alle ihre Nachbarn gingen irgendwann weg, aber das kam für sie nie in Frage, meint Ethel etwas traurig:
"In diesen Häusern haben viele Leute gelebt. Vielleicht konnten ja nicht alle bleiben, aber in jedem Haus hätte doch zumindest einer bleiben können. Es war schon sehr einsam, als sie alle gingen und nur noch ein paar Alte zurück blieben. Wenn doch zumindest einige geblieben wären, das wäre schön gewesen."
Wenn sie erzählt, denkt man automatisch an die Geschichten von Astrid Lindgren:
"Wir bauten Weizen an und für die Tiere Hafer und Roggen. Zwei Pferde hatten wir, fünf sechs Kühe, zwei Schweine, ein Schaf für Wolle, Hennen und jede Menge Katzen."
Auch die Häuser, überhaupt alles hier auf den Aland Inseln erinnert frappierend an Bullerbü oder Michel aus Lönneberga. Eben eine skandinavische Inselidylle, wie man sie so offenbar in Schweden heute nirgendwo mehr finden kann. Für Astrid Lingren Neuverfilmungen kamen schwedischen Filmteams in den letzten Jahren extra hier auf die Alandinseln.
Aber so idyllisch wie bei Astrid Lindgren war das Leben hier nur selten. Elektrizität kam erst 1959 auf ihre Insel, erinnerst sich Ethel Carlson. Und damit kam für sie auch das Radio. So hören Ethel und ihr Bruder Gösta Sonntags immer den Gottesdienst im Radio. Diesmal aber hat ihr Nachbar Kenneth Holström sie gefragt ob sie nicht mitkommen wollen, auf Asterholmen einer Nachbarinsel, vielleicht fünf oder sechs Kilometer entfernt, wird an diesem Sonntag ein Gottesdienst gefeiert. Er fahre mit der Fähre dorthin und könne sie mitnehmen. Ach nein, meint Gösta, auf der Insel sei er doch schon mal gewesen. 1938 oder 39 habe er da mal Heu hingebracht. Nein, da bleibe er lieber zu Hause. Ethel dagegen ist ganz begeistert von der Idee. In all den Jahrzehnten war sie noch nie auf dieser Nachbarinsel. Und so geht es am Sonntag auf die kleine Fähre. Nach etwa 20 Minuten sind wir auf Asterholmen. Eine Kirche gibt es hier nicht. Der Gottesdienst findet in einem Privathaus statt, wo sich etwa 20 Gläubige im Wohnzimmer treffen.
Bevor es losgeht wird erst mal getratscht. Viele haben sich monatelang nicht gesehen. Ethel war zwar noch nie hier, aber natürlich kennt irgendwie jeder jeden. Dann wird gemeinsam gesungen.
Solche Wohnzimmer-Gottesdienste, das sei hier auf den Inseln ganz üblich, erklärt mir die Pfarrerin Karin Sandholm:
"Ja, drei-vier Mal im Sommer und auch im Winter hat man viele solche Gottesdienste im Haus. Sie müssen ja immer in die Kirche kommen und dann ist es ja besser da man auch kommt zu den Leuten."
Im Anschluss sitzen alle noch lange bei Gebäck und Getränken zusammen und erzählen sich alte Geschichten. Ethel Karlsson meint lachend, dass ihr Bruder bestimmt etwas neidisch sein werde, wenn sie ihm abends davon berichten wird. Und dann vermischt sich das Stimmgewirr immer mehr mit den Geräuschen der Inselwelt.
Zigaretten, Parfüm und Alkohol, jede Menge Alkohol, und das für skandinavische Verhältnisse unschlagbar günstig. Manche kommen mit kleinen Handkarren, um sich gleich mit mehreren Kartons Bierdosen zu versorgen. Den zollfreien Einkauf verdanken die Passagiere den Aland Inseln, einem kleinen Inselarchipel zwischen Schweden und Finnland. Fähren, die hier halt machen, dürfen obwohl mitten in der EU, ihre Waren zollfrei anbieten. Eine der vielen Besonderheiten des Inselarchipels. Kein Wunder, dass fast alle Fähren zwischen Schweden und Finnland einen kurzen Zwischenstopp in Mariehamn, der Hauptstadt der Alandinseln einlegen.
Nur die wenigsten Fahrgäste der riesigen Autofähren, die hier im Halbstundentakt an- und ablegen steigen jedoch aus. Dabei sei das Inselreich wirklich fantastisch, erklärt mir Jan-Erik Mattsson gleich nach der Ankunft:
"Aland ist ein wirklich kleines Land. Eine grüne Insel mit roten Felsen im Blauen Meer. Wir haben insgesamt 6500 kleine Inseln, von denen heute 65 bewohnt sind. Aber auch die anderen sind für jedermann zugänglich."
Jan-Erik Mattsson ist der amtierende Minister für Handel, Industrie, Landwirtschaft, Fischerei und Tourismus. Formal gehören die Aland-Inseln zwar zu Finnland. Praktisch aber verwalten sich die wenigen Insulaner auf dem Archipel fast völlige autonom.
"Heute leben hier auf den Inseln etwa 27.000 Menschen. Alleine 11.000 davon hier in Mariehamn. Die meisten der 16 Gemeinden sind über Strassen erreichbar. Fünf allerdings sind im Archipel, wo man nur mit kleinen Fähren hinkommt. Im Sommer fahren die häufiger und das Auto kann man auch mitnehmen."
Erstmal aber bleibe ich auf der Hauptinsel, die von den Insulanern hier Festland genannt wird. Etwa 30 Kilometer von der Hauptstadt Mariehamn entfernt treffe ich mich mit Graham Robbins, einem Engländer der vor Jahren hier auf die Inseln kam, weil seine schwedische Freundin hier Arbeit gefunden hatte:
"Ich hatte bis dahin noch nie irgendwas von den Aland Inseln gehört muss ich zugeben. Dabei ist es so was wie ein Paradies im Baltischen Meer und eines der größten Inselarchipele der Welt. Besonders im Sommer ist es paradiesisch. Es ist heiß und man kann im Meer schwimmen. Alle diese kleinen Inselchen in dieser unberührten Natur, das ist wirklich ein wunderbarer Ort."
Doch so abgelegen die Gegend auch scheint, die Inseln hatten über Jahrhunderte eine wichtige Bedeutung für das ganze Baltikum, erklärt mir Graham Robbins, der Archäologie studiert hatte, bevor er hierher kam. Während wir auf eine Anhöhe steigen, die uns einen fantastischen Blick über die Insellandschaft erlaubt. Direkt vor uns erinnern große Granitquader an ein riesiges Bauwerk, von dem nur noch einige Ruinen erkennbar sind.
"Wir sind jetzt hier auf dem höchsten Punkt in der Gegend von Bomarsund, auf 62 Metern über dem Meeresspiegel. Aland ist nicht besonders bergig. Der höchste Punkt auf den Aland Inseln ist 120 Meter. Von hier hat man einen ziemlich guten Blick nach Osten in Richtung des Archipels, nach Norden das offene Wasser und die Inselbucht Lumpan Richtung Süden."
Jahrhundertelang gehörten die Inseln wie auch das heutige Finnland zum schwedischen Königreich, bis Russland 1808 Finnland und auch die strategisch wichtigen Alandinseln eroberte. Wenige Jahre später begann das russische Militär hier in Bomarsund ein riesiges Verteidigungsbollwerk zu errichten, dessen Dimensionen man heute nur noch mit Hilfe eines versierten Experten wie Graham Robbins erahnen kann:
"Richtung Südosten, vor uns nahe am Wasser lag die Festung. Es war ein großes 300 Meter langes hufeinsenartiges Gebäude, das mit Granit verkleidet war, um besser gegen Kanonenbeschuss geschützt zu sein. Insgesamt hatte es 15.000 Quadratmeter Nutzfläche und ist damit das größte Gebäude, das jemals auf Aland gebaut wurde. Es sollte zweieinhalbtausend Menschen unterbringen und hatte auf zwei Stockwerken Schießscharten für Kanonen. Insgesamt hatte man 100 Kanonen im Gebäude."
Doch das Bollwerk nützte den russischen Verteidigern dann gar nichts, als eine riesige Armada englischer und französischer Kriegsschiffe im Sommer 1854 auf Aland landete. Während unbemerkt ein Teil der Angreifer die unbewachten Höhenzüge rund um das Fort mit Kanonen bestückte, eröffneten die Schiffe das Feuer von See.
Fast glaubt man bei der detailreichen Schilderung von Graham Robbins, die Kanonensalven und das Kampfgetümmel noch von Ferne über das Meer hören zu können:
"Am morgen des 13. August griffen die Franzosen einen Wachturm im Westen an und nahmen ihn innerhalb von vierundzwanzig Stunden ein. Am 14. August war es eher ruhig, aber am 15. schossen die Kanonen aus allen Rohren. Gleichzeitig hatten die Franzosen ihre Kanonen auf die Rückseite der Festung bringen können, so dass die Festung jetzt von allen Seiten angegriffen werden konnte. Und wenn man die Soldaten und alle Schiffsbesatzungen zusammenzählt war die Zahl der Angreifer bei etwa 20.000. Die Russen waren also hoffnungslos unterlegen. Das ganze dauerte drei Tage. Am Nachmittag des 16. August gaben sie schließlich auf."
Der Fall der Festung in Bomarsund war der Beginn des Krim-Krieges. Denn eigentlich ging es den Engländern und Franzosen damals darum das mit ihnen verbündete Osmanische Reich am Schwarzen Meer vor russischen Angriffen zu schützen. Und um die Russen daran zu hindern ihre im Norden stationierten Truppen in den Süden zu verlegen, begann der Krim-Krieg also hier, tausende Kilometer vom Schwarzen Meer entfernt. Als der dann zwei Jahre später 1856 mit einer Niederlage der Russen in Sewastopol zu Ende ging, einigten sich die Kriegsparteien in einem Friedensvertrag die Alandinseln völlig zu demilitarisieren. Das Inselreich gehörte weiter zu Russland, aber alles Militärische war hier von nun an verboten. Und ist es bis heute. So sind die Aland Inseln das vermutlich älteste bis heute kontinuierlich bestehende demilitarisierte Gebiet weltweit.
1917, als Finnland sich von Russland unabhängig erklärte, wollten die Aländer eigentlich wieder zu Schweden gehören, denn hier auf den Inseln wird nicht finnisch, sondern bis heute ausschließlich schwedisch gesprochen. Der damals gerade neu gegründete Völkerbund entschied dann aber, dass die Alandinseln bei Finnland bleiben, aber mit einer sehr weitgehenden Autonomie. Sogar eine eigene Fahne, eine eigene Post mit eigenen Briefmarken gibt es mittlerweile. Ein System, das für die Insulaner offenbar bestens funktioniert. Verdient wird hier gut. Arbeitslosigkeit gibt es praktisch gar nicht. Nur das Leben auf den kleineren abgelegenen Inseln wird immer schwieriger.
Ich mache mich auf nach Björkö, einer der kleinen bewohnten Inseln nahe am finnischen Festland. Erstmal geht es wieder auf eine, diesmal sehr viel kleinere, Fähre.
Das Restaurant an Bord ist offenbar so etwas wie bei uns die Eckkneipe, wo man sich trifft und den neuesten Tratsch mit den Leuten von den Nachbarinseln austauscht. Wie bei uns ein Linienbus hält die Fähre, mal an dieser mal an jener Insel bevor es für mich nach etwa zwei Stunden Zeit ist, auszusteigen. Von dort muss ich erst noch eine kleine Insel überqueren, an deren Ende mich dann eine Kabelfähre endlich nach Björkö bringt, wo ich mich mit Kenneth Holström treffe, der hier vor einigen Jahren ein altes Bauernhaus gekauft hat.
Das Haus stand jahrelang leer. Wie die meisten Inselbewohner, waren auch die Bauern dieses Hauses schon vor Jahrzehnten weggezogen. Das ganze Leben spielte sich damals hauptsächlich hier in der großen Wohnküche ab, in der man noch heute vier hölzerne Bettnischen erkennen kann, erklärt mir Kenneth Holström:
"Man merkt sofort, dass hier eine Menge Leute gelebt haben. Diese etwa 50 Quadratmeter große Küche hier, mit dem großen großen Steinofen in der Mitte, das war früher das Zentrum des Lebens. Im Winter lebten alle hier. Daher hatte man diese Bettkästen, wo jeweils mindestens zwei Leute drin schliefen, das war schon mal für acht Leute und wer alt oder krank war, der konnte dann noch oberhalb des Ofens schlafen. Es war ja der einzige Raum, der im Winter geheizt wurde. Zweimal im Monat wurde hier Brot gebacken, hier wurde gekocht, hier fand alles statt. Das ganze Leben fand rund ums Feuer statt. So war das früher überall in Skandinavien. Es ist für mich ein Blick zurück in die Vergangenheit, wie ich es noch als Kind erinnere bei der Familie meines Vaters."
Aufgewachsen ist Kenneth auf Aland, aber lebte dann jahrelang in Südkalifornien, bevor es ihn dann doch wieder zurück in seine Heimat zog. Sein Geld verdient er mit Bootsreparaturen in Mariehamn. Den Sommer aber liebt er in dieser abgelegenen Naturidylle zu verbringen. So wie es viele hier auf den Inseln machen. Aber das ganze Jahr über hier zu leben, das kann auch er sich nicht mehr vorstellen. Dafür sei es ihm dann doch zu einsam. Heute hat Björkö nur noch etwa zehn Einwohner, die das ganze Jahr über hier leben. Eva Sundberg und Anders Stenmark sind zwei davon, die zeigen, dass man mittlerweile auch hier gut leben kann, ohne auf die Welt da draußen verzichten zu müssen.
Als ich komme sitzt Anders gerade im Wohnzimmer und sieht sich im Internet Musikvideos an. Vor über zwanzig Jahren war er als Ingenieur von der Regierung hierher geschickt worden, um Leute zu animieren auf den noch bewohnten Inseln wieder als Landwirte zu arbeiten. Doch immer weniger Aländer waren dazu bereit. Schließlich entschieden sich Anders und seine Frau Eva es selbst mit Schafzucht zu versuchen. Im Winter sei es natürlich ziemlich einsam hier. Da sitzen sie dann abends oft zu Hause und spielen traditionelle Aländische Musik, meint Andersch und holt wie zum Beweis seine Geige hervor. Eva, seine Frau, begleitet ihn auf der schwedischen Zitter:
"Viele der Lieder habe ich hier in verschiedenen Gegenden der Alandinseln gehört. Südlich von hier gab es eine wirklich lebendige Tradition. Da gibt es ein paar Geiger von denen ich gelernt habe. Es gibt etliche hier. Diese Musik lernt man nicht von Noten. Das hab ich durchs zuhören gelernt. Ich komme aus Schweden, aber meine Eltern kommen von Aland und als ich mit der Geige anfing, begann ich mich für die Musik hier zu interessieren und merkte, dass es hier auf den Inseln noch eine lebendige Tradition gibt."
Ein paar hundert Meter weiter, entlang der einzigen Straße auf der Insel leben Ethel und Gösta Karlsson. Die beiden sind so um die 80 und haben seit ihrer Geburt hier in ihrem Elternhaus nie irgendwo anders gelebt. Alle ihre Nachbarn gingen irgendwann weg, aber das kam für sie nie in Frage, meint Ethel etwas traurig:
"In diesen Häusern haben viele Leute gelebt. Vielleicht konnten ja nicht alle bleiben, aber in jedem Haus hätte doch zumindest einer bleiben können. Es war schon sehr einsam, als sie alle gingen und nur noch ein paar Alte zurück blieben. Wenn doch zumindest einige geblieben wären, das wäre schön gewesen."
Wenn sie erzählt, denkt man automatisch an die Geschichten von Astrid Lindgren:
"Wir bauten Weizen an und für die Tiere Hafer und Roggen. Zwei Pferde hatten wir, fünf sechs Kühe, zwei Schweine, ein Schaf für Wolle, Hennen und jede Menge Katzen."
Auch die Häuser, überhaupt alles hier auf den Aland Inseln erinnert frappierend an Bullerbü oder Michel aus Lönneberga. Eben eine skandinavische Inselidylle, wie man sie so offenbar in Schweden heute nirgendwo mehr finden kann. Für Astrid Lingren Neuverfilmungen kamen schwedischen Filmteams in den letzten Jahren extra hier auf die Alandinseln.
Aber so idyllisch wie bei Astrid Lindgren war das Leben hier nur selten. Elektrizität kam erst 1959 auf ihre Insel, erinnerst sich Ethel Carlson. Und damit kam für sie auch das Radio. So hören Ethel und ihr Bruder Gösta Sonntags immer den Gottesdienst im Radio. Diesmal aber hat ihr Nachbar Kenneth Holström sie gefragt ob sie nicht mitkommen wollen, auf Asterholmen einer Nachbarinsel, vielleicht fünf oder sechs Kilometer entfernt, wird an diesem Sonntag ein Gottesdienst gefeiert. Er fahre mit der Fähre dorthin und könne sie mitnehmen. Ach nein, meint Gösta, auf der Insel sei er doch schon mal gewesen. 1938 oder 39 habe er da mal Heu hingebracht. Nein, da bleibe er lieber zu Hause. Ethel dagegen ist ganz begeistert von der Idee. In all den Jahrzehnten war sie noch nie auf dieser Nachbarinsel. Und so geht es am Sonntag auf die kleine Fähre. Nach etwa 20 Minuten sind wir auf Asterholmen. Eine Kirche gibt es hier nicht. Der Gottesdienst findet in einem Privathaus statt, wo sich etwa 20 Gläubige im Wohnzimmer treffen.
Bevor es losgeht wird erst mal getratscht. Viele haben sich monatelang nicht gesehen. Ethel war zwar noch nie hier, aber natürlich kennt irgendwie jeder jeden. Dann wird gemeinsam gesungen.
Solche Wohnzimmer-Gottesdienste, das sei hier auf den Inseln ganz üblich, erklärt mir die Pfarrerin Karin Sandholm:
"Ja, drei-vier Mal im Sommer und auch im Winter hat man viele solche Gottesdienste im Haus. Sie müssen ja immer in die Kirche kommen und dann ist es ja besser da man auch kommt zu den Leuten."
Im Anschluss sitzen alle noch lange bei Gebäck und Getränken zusammen und erzählen sich alte Geschichten. Ethel Karlsson meint lachend, dass ihr Bruder bestimmt etwas neidisch sein werde, wenn sie ihm abends davon berichten wird. Und dann vermischt sich das Stimmgewirr immer mehr mit den Geräuschen der Inselwelt.