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Bundeskanzlerin stärkt Atomkraftlobby den Rücken

Trotz des Vorfalls im Atommülllager Asse plädiert Bundeskanzlerin Angela Merkel für eine Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke. "Ich glaube nicht, dass es vernünftig ist, innerhalb der nächsten zwölf Jahre auszusteigen", so Merkel. Gleichzeitig brauche Deutschland "einen Fortschritt bei der Endlagerung von hochradioaktivem Material".

Angela Merkel im Gespräch mit Stephan Detjen |
    Stephan Detjen: Frau Bundeskanzlerin, dieser Sommer brachte eine neue Eiszeit im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen. Auf dem Höhepunkt der Kaukasus-Krise fiel mir ein Zitat auf, das Ihnen zugeschrieben wurde während Ihres Estland-Besuchs. Da sollen Sie gesagt haben, es gebe auch in dieser Situation immer noch viele Gründe, Russland zu lieben. Was lieben Sie am Russland Medwedews und Putins?

    Angela Merkel: Also erstens tue ich mich etwas schwer, immer mit "Eiszeiten" und "kalten Kriegen" zu operieren. Wir haben einen Konflikt gehabt, ein sogenannter "eingefrorener Konflikt" ist aufgebrochen, und wir haben als Europäische Union jetzt ja auch darauf reagiert in der geeigneten Form.

    Trotzdem haben wir gesagt, wir wollen die Kontakte zu Russland auch nicht abbrechen. Man muss sich dann auch ehrlich die Meinung austauschen und sagen, was man voneinander hält, aber nicht auf Gesprächslosigkeit umschalten.

    Ich habe in der Tat in den baltischen Ländern bei meinem Besuch natürlich darauf hingewiesen, dass Russland nicht nur ein großes Land ist, sondern ein kulturell hoch spannendes Land, ein Land, dessen Menschen ich sehr, sehr gerne habe und ein Land, von dem ich mir wünschen würde, dass es auch in der Infrastruktur, in der Modernität seiner Industrie, in den Lebensbedingungen wirklich vorankommt. Und Russland als ein Land mit sehr, sehr vielen Zeitzonen ist ja unermesslich in seiner Ausdehnung und hat für uns deshalb natürlich auch etwas Faszinierendes. Aber Gemeinsamkeit der Zusammenarbeit beruht natürlich auf einem gemeinsamen Wertesystem, und darum müssen wir in den Kontakten mit Russland immer wieder kämpfen.

    Detjen: Wenn man sich die Zeitzonen vor Augen führt - Sie haben das ja, glaube ich, lange ganz bildhaft getan, auf Ihrem Schreibtisch stand lange ein Bild der Zarin Katharina der Großen, vielleicht steht es immer noch da.

    Merkel: Es steht immer noch da, ja.

    Detjen: Was lernen Sie daraus über die gegenwärtige Situation? Es ist auch ein Stück russischer Geschichte: das Großmachtstreben.

    Merkel: Ja, Russland ist halt auch ein sehr großes, ein sehr rohstoffreiches Land. Aber Russland hat genauso viel Interesse, natürlich seinen Lebensstandard auch zu heben. Die Energieeffizienz ist noch nicht so gut, und wir können deshalb natürlich auch in den wirtschaftlichen Kontakten mit Russland vieles sehr gut hinbekommen.

    Wir waren jetzt der Meinung, und das hat die Europäische Union ja auch deutlich gemacht, dass die Reaktion auf den Konflikt in Südossetien unverhältnismäßig ausgefallen ist. Und wir halten auch die Anerkennung von Abchasien und Südossetien für mit dem Völkerrecht nicht vereinbar. Und daraus werden natürlich auch Gesprächsgegenstände für die nächsten Treffen resultieren. Das heißt aber nicht, dass man in anderen Gebieten nicht auch weiterarbeiten kann. Und ich sehe mit einer gewissen Hoffnung jetzt auch dem Besuch des französischen Präsidenten als Ratspräsidenten in Moskau entgegen, dass er in der Klärung auch gerade des Sechs-Punkte-Plans noch ein Stück weiterkommt.

    Detjen: Sie haben auf dem Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs gesagt, Russland steht an einem Scheideweg. Das impliziert ja Alternativen. Die eine Option ist klar: Fortschritt der Partnerschaftsverhandlungen mit der EU. Was ist eigentlich die andere Alternative für Russland?

    Merkel: Nun ja, ich meine, die Alternative ist, sich eben auf diesem gemeinsamen Wertefundament zu bewegen, und ich sehe durchaus auch Punkte der Hoffnung, denn immerhin hat ja sowohl der Ministerpräsident als auch der Präsident die Ergebnisse des EU-Rates auch nicht verworfen, sondern durchaus begrüßt. Und die Alternative ist natürlich, dass man dann nicht mehr so eng zusammenarbeiten kann. Die will ich aber nicht, das will ich ausdrücklich sagen. Und ich möchte jetzt auch nicht in Spekulationen verfallen, sondern ausdrücklich sagen: Wir als Europäische Union - das haben wir auch in unserem Papier deutlich gemacht - wollen durchaus die Kontakte weiter pflegen. Aber es kann natürlich nicht sein, dass ein Sechs-Punkte-Plan, den wir gemeinsam auch entwickelt haben, dann zum Schluss nicht eingehalten wird.

    Detjen: Schließen Sie denn für sich aus, dass Russland, dass die russische Führung noch an einer ganz anderen Option arbeitet - an der Vorstellung einer antiwestlichen Blockbildung mit China, mit dem Iran? Die ersten Schritte dazu hat es ja gegeben.

    Merkel: Nun ja, es ist ja so, dass Russland in verschiedenen Allianzen auch tätig ist. Auf der einen Seite gibt es die Kontakte zur EU, siehe das EU-Russland-Partnerschaftsabkommen. Aber Russland arbeitet natürlich zum Beispiel auch in der Shanghai-Organisation. Und dort haben wir natürlich gesehen, dass auch Allianzen mit China nicht in jedem Punkt möglich sind, sondern auch dort ist sehr deutlich gesagt worden: Wenn es Konfliktfälle gibt, sollte sich doch besser die UNO damit befassen oder in diesem Falle vielleicht auch die OSZE. Also ich fand, dass die Signale hier durchaus vergleichbar waren und wir jetzt durchaus auf unsere gemeinsame Wertebasis pochen können.

    Detjen: Ihr Vorgänger, Gerhard Schröder, hat dem Westen in der hinter uns liegenden Woche sehr deutlich vorgeworfen, schwere Fehler im Umgang mit Russland gemacht zu haben. Er hat auf die militärische Annäherung der USA an Georgien hingewiesen, an die gemeinsamen Pläne einer Stationierung eines Raketenabwehrsystems in Tschechien, in Polen. Schröder hat gesagt, das musste auf Russland wie eine Einkreisung wirken. Hat sich der Westen aus Ihrer Sicht fehlerfrei gegenüber Russland verhalten?

    Merkel: Wir haben jedenfalls sehr, sehr viele Angebote gemacht der Kooperation. Wir haben ja zum Beispiel in der Lösung des Kosovo-Konfliktes über Jahre sehr, sehr eng zusammengearbeitet inklusive des Ahtisaari-Plans. Russland war immer dabei. Es ist immer in der UN so bearbeitet worden - die Resolution, auf der wir jetzt gehandelt haben. Auch die Anerkennung ist eine Resolution, die von Russland mit verabschiedet wurde. Das heißt also, hier kann von einem Ausschluss Russlands überhaupt gar keine Rede sein. Deutschland hat sich sehr dafür eingesetzt, dann auch noch einmal eine letzte Verhandlungsrunde zu machen.

    Was das Raketenabwehrsystem anbelangt, so verfolgen wir eine Position, die immer gesagt hat: Russland sollte und kann Teil davon auch werden. Auch der polnische Außenminister hat angesichts der Unterzeichnung dieses bilateralen Vertrages jetzt nochmal gesagt, damit sollen die Gespräche mit Russland nicht beendet sein. Ich plädiere ausdrücklich für solche Gespräche, aber Russland weiß auch, dass dieses System nicht gegen Russland gerichtet ist, sondern gegen Staaten, die uns sehr, sehr viel mehr Sorgen machen. Aber ich sag nochmal: Der Gedanke der Kooperation ist mir hier auch wichtig.

    Aber ich teile die Einschätzung meines Vorgängers an der Stelle nicht, dass man so jetzt das wertet. Ich sage, Russland hat ein Recht darauf, dass man auch seine Interessen wahrnimmt, so wie wir ein Recht darauf haben, unsere Interessen wahrzunehmen. Und das ist in vielerlei Hinsicht gelungen und an einigen Stellen eben im Augenblick nicht so, dass alle damit zufrieden sind. Und darüber muss geredet werden.

    Detjen: Dabei geraten auch die USA wieder in den Blick. Also die USA haben mit ihrer Politik gegenüber Georgien - der Stationierung von militärischen Beobachtern, mit den Raketenplänen in Tschechien und Polen - einseitig gehandelt, außerhalb der NATO. Sie haben Europa ein Stück wieder gespalten und damit Russland einerseits provoziert, aber andererseits auch möglicherweise ermuntert, mit diesem brachialen Hegemonialstreben im Kaukasus vorzugehen.

    Merkel: Also, Tatsache ist, dass Georgien ein Land ist, das eine territoriale Integrität hat, die übrigens auch vom UN-Sicherheitsrat wieder mit der russischen Stimme auch bestätigt wurde. Zweitens gibt es bilaterale Abkommen zwischen der tschechischen Republik und Polen mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Da ist ein Partner jenseits des Atlantiks, zwei sind Mitglieder der Europäischen Union und im übrigen auch unsere Nachbarn.

    Nichtsdestotrotz werde ich als deutsche Bundeskanzlerin dafür werben, dass wir nicht alle Wege über bilaterale Abkommen gehen, sondern dass wir vermehrt in der NATO miteinander arbeiten und dann auch das Gespräch mit Russland suchen. Und genau das ist der Weg, für den wir weiter werben werden, und ich hoffe auch, dass wir damit Erfolg haben.

    Detjen: In den USA ist am Donnerstag dieser Woche John McCain zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten jetzt offiziell nominiert worden. Der hatte ja noch rigidere Töne gegenüber Russland angeschlagen, er hat den Rauswurf Russlands aus der G8 gefordert. Welche Erwartungen haben Sie eigentlich an die künftige amerikanische Außenpolitik - unter welchem Präsidenten dann auch immer?

    Merkel: Also egal, welcher der beiden Senatoren gewählt wird, ob jetzt Herr Obama oder McCain, so werden wir ja weiter eine Außenpolitik machen, die unseren Interessen entspricht. Und Europa hat ein Interesse - und Deutschland - daran, gute Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika zu haben, sowohl aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch aus Gründen eines gemeinsamen Wertesystems.

    Auf der anderen Seite haben wir ein Interesse daran, eben auch die Nachbarschaft zu Russland zu pflegen. Und ich glaube, das es unter dem Strich, angesichts der vielen Probleme, die wir auf der Welt haben - von den Regelungen im Nahen Osten, von dem iranischen Atomprogramm, das ja von Nordkorea bis sonst wo hin - es viele gute Gründe gibt, darum zu werben, dass wir unsere außenpolitischen Schwierigkeiten in einem hohen Maß an Gemeinsamkeit auch lösen. Ich glaube, dass das auch die neuen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten, die jetzt feststehen und die jetzt um die Präsidentschaft kämpfen, jeder für sich so handhaben werden - rein aus amerikanischem Interesse heraus. Und ich halte nichts davon, jetzt Russland aus dem Verbund der G8-Staaten herauszunehmen. Und wir werden mit der neuen Präsidentschaft natürlich darüber sprechen.

    Detjen: Es gibt einen Punkt, Frau Bundeskanzlerin, bei der Erklärung der europäischen Staats- und Regierungschefs, der den Blick dann auch wieder auf die Innenpolitik lenkt. Sie haben dort beschlossen, dass Europa verstärkte Anstrengungen zur Sicherung seines Energiebedarfs - wir haben schon darüber gesprochen - unternehmen müsse, und zwar auch, heißt es da, mit Blick auf die Diversifizierung der Energiequellen. Ist das sozusagen Wind auf Ihre innenpolitischen nuklearen Mühlen - oder anders gefragt: Können Sie damit argumentieren, dass die Verlängerung von Laufzeiten für Kernkraftwerke in Deutschland schlicht und ergreifend erforderlich ist, um die gemeinsamen europäischen Ziele zu erreichen?

    Merkel: Also, erstmal haben wir innerhalb der Europäischen Union Länder, die in viel höherem Maße abhängig sind von einseitigen Energielieferungen, für die das Problem der Diversifizierung viel stärker da steht als für Deutschland.

    Deutschland ist in hohem Maße diversifiziert - heute noch, und die Aufgabe heißt als Erstes für mich immer: Energie sparen. Das ist das Allerwichtigste. Zweitens werden wir einen zunehmenden Anteil von erneuerbaren Energien haben, drittens werden wir auf absehbare Zeit auf Kohlekraftwerke nicht verzichten können, und da ist es dann allemal besser, moderne effiziente Kohlekraftwerke zu haben, als die alten weiter laufen zu lassen, weil man die Neubauten nicht genehmigen will. Und viertens erzeugen wir heute noch einen beträchtlichen Anteil von über einem Viertel unseres Stroms aus Kernenergie, und in einigen regionalen Teilen, zum Beispiel in Bayern, weitaus mehr, zum Beispiel 60 Prozent des Stroms aus Kernenergie.

    Und ich glaube nicht, dass es vernünftig ist, innerhalb der nächsten zwölf Jahre hier auszusteigen, sondern deshalb plädiere ich schon auch, aber in einer Reihe von vielen Maßnahmen, für eine Verlängerung der Laufzeiten, weil ich glaube, wir haben die sichersten Kernkraftwerke. Wir könnten auch für die Sicherheit von Kernkraftwerken auf der Welt, die neu gebaut werden, eine sehr, sehr wichtige Rolle spielen. Und wir werden unseren Strompreis unnötig verteuern oder aber uns in Abhängigkeiten von anderen Kernenergieproduzenten in Europa in unserer Nachbarschaft begeben.

    Detjen: Sie sagen, Deutschland hat die sichersten Kernkraftwerke. Das wird gerade in diesen Tagen wieder konterkariert durch die Probleme, die man bei dem Versuchslager Asse gesehen hat. Das illustriert ja eigentlich nur einmal mehr, dass man die Technik, zumindest die Folgen, die Hinterlassenschaften der Kerntechnik doch noch nicht wirklich im Griff hat.

    Merkel: Also Asse ist, wie Sie schon sagten, ein Versuchswerk gewesen, was richtigerweise - ich will das ausdrücklich jetzt unterstreichen - unter das Regime des Strahlenschutzes kommt, angesichts der Probleme, die wir heute kennen. Zweitens, wir haben in dieser Legislaturperiode durch den Umweltminister genehmigt endlich ein Lager für schwach- und mittelradioaktive Stoffe, nämlich Schacht Konrad. Das ist ein Fortschritt auf dem Gebiet des Endlagers. Das ist die gleiche Kategorie von Abfällen, wie wir sie ja auch in Asse haben. Da geht es auch nicht um Abfälle aus Kernkraftwerken. Das muss man noch einmal deutlich unterscheiden. Und wir brauchten auch einen Fortschritt bei der Endlagerung von hochradioaktivem Material. Darum geht es ja bei Kernkraftwerken. Und hier ist ein Moratorium vereinbart bei Gorleben, und da müssen Entscheidungen natürlich getroffen werden, wie das weitergehen soll. Aber die Vergleichbarkeit ist hier ja nicht gegeben. Richtig ist, dass diese Dinge unter das Regime des Strahlenschutzes kommen.

    Detjen: Sie haben, Frau Bundeskanzlerin, in den vergangenen Tagen ein ganz anderes Feld beackert, überirdisch. Sie haben eine Bildungsreise durch die Republik gemacht, haben Schulen, Bildungseinrichtungen in verschiedenen Bundesländern besucht. Das war eine Reise in ein Entwicklungsland, zumindest wenn man den Bildungsbericht der Bundesregierung liest, der in diesem Sommer veröffentlicht wurde und ein recht düsteres Bild der Lage an Schulen und in der vorschulischen Bildung zeichnet.

    Merkel: Also, dass sich unser Land entwickelt, in dem Sinne will ich es als Entwicklungsland nehmen. Ansonsten haben wir natürlich ein relativ hohes Niveau, auch von Bildung, aus dem heraus wir starten. Das zeigt ja auch, dass wir nicht überall Spitze sind und uns verbessern müssen, aber nun bei PISA-Studien auch nicht dastehen, dass man sagen kann, hier geht gar nichts voran.

    Wir haben eine Aufgabe vor uns, die zeigt der Bildungsbericht überdeutlich, dass nämlich in dem gesamten industrialisierten Gebiet mit hoher Wertschöpfung, Rhein-Main-Gebiet zum Beispiel, Erlangen, Nürnberg, in den großen Zentren, wir bei den unter 25-Jährigen zwischen 30 bis 50 Prozent junge Menschen haben mit Migrationshintergrund. Und hier ist die Bildungsaufgabe eine sehr besondere. Das heißt nicht, dass wir nicht auch Defizite bei deutschstämmigen Kindern und Jugendlichen hätten, aber hier treten diese Schwierigkeiten in hohem Maße auf.

    Deshalb hat die Bundesregierung auch in den letzten Jahren gesagt, wir müssen schon bei den unter 3-Jährigen mehr frühkindliche Betreuung anbieten. Es gibt von den unionsregierten Ländern die Initiative, die jetzt Gott sei Dank überall übernommen wird, auch Sprachtests zu machen, möglichst schon deutlich vor der Einschulung, um Sprachdefizite dann auch überhaupt noch überwinden zu können. Und wir haben natürlich zu lange in Deutschland gedacht, man muss sich darum nicht kümmern. Und die Union, die CSU und CDU waren es, die dann gesagt haben, die einheitliche Sprache ist die erste Voraussetzung für die Integration.

    Ich habe hier die Staatsministerin für Integrationsfragen ins Kanzleramt geholt weil ich gesagt habe, es ist eine Schwerpunktaufgabe. Wir haben einen nationalen Integrationsplan verabschiedet. Wir sind also in der Entwicklung, aber wir müssen Versäumnisse von vielen, vielen Jahren nachholen.

    Detjen: Jetzt waren es aber gerade auch die Unionsparteien und die Ministerpräsidenten von CDU und CSU, die immer darauf beharrt haben, dass das Thema Bildung Ländersache ist. Gerade in den Verhandlungen über die Föderalismusreform sind auch Kompetenzen vom Bund wieder an die Länder zurück gegeben worden. Warum trauen Sie den Ländern jetzt nicht zu, diese Probleme auch allein zu lösen und erklären das Thema Bildung zur nationalen Angelegenheit, zur Chefsache?

    Merkel: Wenn ich sage, dass das eine nationale Angelegenheit ist, dann heißt das ja nicht, dass nicht die Kommunen und die Länder dabei auch große Kompetenzen haben. Wir machen den Bildungsgipfel ja auch nicht als Bundesregierung, sondern wir machen ihn in Dresden anlässlich einer Ministerpräsidentenkonferenz zwischen Bund und Ländern gemeinsam, genauso wie wir den Integrationsplan gemeinsam verabschiedet haben.

    Und ich glaube, dass der Blickwinkel der Menschen in unserem Lande nicht nach Kompetenzen geht, sondern der Blickwinkel geht danach, welche Aufgabe muss gelöst werden. Da hat der Bund Aufgaben zum Beispiel in der beruflichen Bildung, bei der Festlegung von Berufsbildern, von Modulen. Da hat die Bundesagentur für Arbeit Aufgaben, wenn jemand ohne Schulabschluss kommt, dass dann vielleicht Schulabschlüsse nachgeholt werden können. Das heißt, es gibt immer wieder Schnittstellen. Der Bund macht die rechtlichen Regelungen für die Kinder- und Jugendhilfegesetze. Wir haben einen großen Teil von Sprachkursen im Bereich der Integration.

    Das heißt, wir sind gemeinsam verantwortlich. Niemand will einem anderen die Verantwortung streitig machen. Dass die Schulpolitik in der Verantwortung der Länder ist, hat sich bewährt. Der Wettbewerb zwischen den Ländern, den finde ich richtig. Aber wir müssen den Menschen schon gemeinsam auf seinem Lebensweg begleiten. Und deshalb diese gemeinsame Anstrengung.

    Detjen: Gerade das, was Sie ansprachen, das Thema Wettbewerb zwischen den Ländern, das Thema Wettbewerbsföderalismus war ja ganz zentral auch von der Union mit dem Thema Schule und Bildung verknüpft worden. Also, man hatte schon den Eindruck, dass Ihre Partei davon ausgeht, die Frage, wer dafür zuständig ist, die Frage von Kompetenzen ist zumindest relevant und interessiert die Leute. Hat es da neue Erkenntnisse gegeben?

    Merkel: Nein. Ich sage noch mal, wir haben verschiedene Zuständigkeiten, und das ist auch richtig. Und diese Zuständigkeiten heißen, dass für die Schulpolitik und im übrigen nicht erst seit der letzten Föderalismusreform sondern in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die Länder zuständig sind.

    Durch die Pisa-Studie ist Bewegung auch in die Zusammenarbeit der Länder gekommen, nämlich dahin gehend, dass man einheitliche Bildungsstandards zwischen den Kultusministern auch verabredet. Und da bedarf man überhaupt nicht der Mitwirkung des Bundes. Das können die Kultusminister untereinander machen. Wenn aber das Kind dann aus der Schule heraus kommt, dann ist die berufliche Bildung eine Aufgabe, die weitgehend in Bundeskompetenz zusammen mit den Industrieverbänden geregelt wird.

    Wenn wir jetzt durch die Verkürzung der Gymnasialzeiten zum Beispiel mehr Abiturienten haben, die an die Hochschulen kommen, haben Bund und Länder einen Hochschulpakt miteinander verabredet. Es gibt eine Exzellenzinitiative für Hochschulen, die vom Bund gefördert wird. Forschungsmäßig gut ausgestattete Professoren haben natürlich dann auch wieder eine Rückwirkung auf die Lehre.

    Die haben eine gemeinsame Kraftanstrengung beim Ausbau von Krippen für die unter 3-Jährigen verabredet für die nächsten Jahre. Und wir haben immer noch ein laufendes Programm aus der vorigen Legislaturperiode, wo wir uns auch für die Ganztagsschulen mit engagieren, im übrigen mit Zustimmung der Länder. Das heißt, es gibt eine Vielzahl von Verzahnungen und über diese Punkte wollen wir sprechen, weil es natürlich uns alle betrifft, wenn wir an verschiedenen Stellen sehen, dass wir viele Kinder zum Beispiel ohne Schulabschluss haben, aber man vielleicht durch ein Engagement der Bundesagentur für Arbeit schon in den letzten Schulklassen mit mehr praktischen Fähigkeiten dafür sorgen könnte, dass die nicht nach der Schule als erstes ihren Hauptschulabschluss machen. Und darüber zu sprechen ist doch mehr als vernünftig.

    Detjen: Aber das ist jetzt eine Bilanz der Lage, wie sie ist, der Zuständigkeiten, wie sie ist mit ihren Vorteilen, auch mit ihren Problemen. Nach Ihrer Reise, wo sehen Sie denn ganz konkret für sich die Rolle, wo die Bundeskanzlerin da etwas befördern könnte, was die Ministerpräsidenten bei ihren Koordinierungsbemühungen alleine nicht auf den Weg bringen können?

    Merkel: Darum geht es überhaupt nicht. Es geht darum, dass das Thema Bildung auch von der Bundeskanzlerin gemeinsam mit den Ministerpräsidenten vertreten wird, eine Stimme bekommt und zum Beispiel Erzieherinnen und Erzieher und Lehrer auch mal die Aufmerksamkeit bekommen, die viele Grundsteinlegungen und BDI-Jahrestagungen auch von mir bekommen. Und ich finde, dieses Engagement hat ein Recht.

    Es gibt unglaublich viel Bewegung in den Ländern. Über neue Bildungsmodelle sich darüber auch einmal auszutauschen, sich zu informieren, halte ich für ausgesprochen wichtig. Das heißt, mein Politikverständnis ist nicht, dass das, was ich mache, kein anderer machen darf, sondern dass es ab und zu auch Sachen gibt, die man gemeinsam machen kann. Und meine Bildungsreise hat mich darin eigentlich auch bestärkt.

    Detjen: Geht es dabei auch um das Image einer Kanzlerin, einer Regierung, einer Kanzlerin vor allen Dingen, die sehr populär ist, die am Image ihrer Partei aber noch arbeiten muss? Das wird ja auch in den Umfragen sehr deutlich. Die CDU steht nicht so gut da, wie man das erwarten könnte angesichts der Schwäche der SPD.

    Merkel: Es geht, um es mal etwas pathetisch zu sagen, um die Zukunft unseres Landes. Und ich habe angesichts von 60 Jahren sozialer Marktwirtschaft gesagt, wenn wir jungen Menschen Aufstieg in unserer Republik ermöglichen wollen, so wie das in den 50er, 60er, 70er Jahren der Fall war, dann gehört Bildung heute als zentrales Thema dazu. Und deshalb habe ich von der Bildungsrepublik Deutschland gesprochen.

    Und meine Aufgabe als Bundeskanzlerin ist es, die Themen voran zu treiben mit dem Bund und den Ländern, mit den Kommunen, die für die Zukunft dieser Bundesrepublik Deutschland von entscheidender Bedeutung sind. Und genau das tue ich. Und wenn wir jetzt auf die Frage der Partei kommen, dann kann ich nur sagen, eine Partei, die Partei der sozialen Marktwirtschaft sein will, muss sich um die Aufstiegschancen der Menschen kümmern und deshalb auch um das Thema Bildung. Und in der CDU kann ich ja sowieso nicht unterscheiden nach einem Landesmitglied, nach einem Bundeszuständigen, sondern da müssen wir als Partei Vorstellungen entwickeln. Und zu unseren Vorstellungen gehört zum Beispiel nicht, dass wir eine Einheitsschule haben, sondern dass wir die unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Kinder durchaus auch fördern. Und hier gibt es einen Unterschied zur SPD.

    Die SPD möchte die Hauptschule abschaffen, wie sie gesagt hat. Ich sage, wenn ich nach Bayern gucke, dass die Hauptschule dort eine der besten Voraussetzungen ist, um gute Facharbeiter für ganz wichtige Betriebe in unserem Land zu bekommen. Und darüber müssen wir streiten. Und da hat die CDU eben eine klare Position, für die ich genau so werbe wie diejenigen, die vor Ort dann für die aktuelle Schulpolitik verantwortlich sind.

    Detjen: Frau Bundeskanzlerin, das nehme ich aber anders wahr. Das Thema Schule war früher ein Thema, das auch ideologisch besetzt war, an dem sich die Parteien ungemein scharf unterschieden haben. Das geht ja heute gar nicht mehr so. In Hamburg macht die CDU mit Ole von Beust zur Zeit mit den Grünen zusammen eine Politik, wo die Hauptschulen faktisch abgeschafft werden, wo Einheitsschulen weiter gefördert werden, weitere gemeinsame Grundschuljahre, 6-jährige Grundschule - das waren alles Dinge, die die CDU früher kategorial abgelehnt hat, und zwar flächendeckend überall.

    Merkel: Also, wir haben bereits in den neuen Bundesländern Sachsen und Thüringen ja zum Beispiel nur noch ein zweigliedriges Schulsystem, weil man dort auch bestimmte demografische Veränderungen gesehen hat. Und wir kommen angesichts der geringen Kinderzahl im ländlichen Bereich - das ist im übrigen auch in Schleswig-Holstein inzwischen so - zu der Frage, soll die Schule weit weg sein vom Wohnort auch für die kleinen Kinder schon, oder versuche ich auch, das Prinzip der Wohnortnähe noch ein Stück zusammen zu bringen und komme dann zu einem zweigliedrigen Schulsystem.

    In Hamburg ist eine Koalitionsvereinbarung geschlossen worden und kein CDU-Parteiprogramm. Und insofern nehme ich das zur Kenntnis, aber ich muss nicht alles richtig finden, was dort im Augenblick passiert. Wir werden immer aufgefordert sein, Koalitionsprogramme zu machen, und in den Ländern gehört dazu eben auch Schulpolitik. Aber die Unionsprogrammatik ist die Abschaffung der Hauptschule mit Sicherheit nicht.

    Detjen: Lassen Sie mich doch noch mal auf die Profilierung der Parteien zu sprechen kommen. Die SPD trifft sich an diesem Wochenende in Schwielowsee, legt erste Richtlinien für den Wahlkampf vor. Es ist damit zu rechnen, dass - wenn nicht an diesem Wochenende, dann aber doch in absehbarer Zeit - ihr Vizekanzler und Außenminister Frank-Walter Steinmeier der Kanzlerkandidat der SPD wird. Wie kann man dann eigentlich hier in Berlin noch zusammen regieren, wenn Sie abends auf Wahlveranstaltungen gegeneinander antreten und am nächsten Morgen zusammen am Kabinettstisch sitzen?

    Merkel: Also, erstens wird die SPD ihre Entscheidung alleine fällen. Und deshalb warte ich auf diese Entscheidung natürlich. Und zweitens sage ich, dass wir ja heute schon die Situation haben, dass wir Wahlkämpfe führen, dass der stellvertretende SPD-Vorsitzende Herr Steinmeier genauso wie der stellvertretende SPD-Vorsitzende Herr Steinbrück durchaus Unterschiedliches zu der CDU-Vorsitzenden und Kanzlerin Angela Merkel auf diesen Veranstaltungen sagt.

    Wir haben eine Koalitionsvereinbarung, wir haben die Notwendigkeit, uns hier auch aufeinander zu verlassen. Das tun wir auch und das werden wir auch weiter tun. Und gleichzeitig haben wir alle unsere parteipolitischen Ideale, für die wir dann kämpfen, davon möglichst viel umzusetzen. Dass das auseinander fällt, das ist bekannt. Aber ich habe keine Sorge, dass die Grundlage für eine Zusammenarbeit nicht gegeben ist. Schwieriger wiegt dort, dass im Zusammenhang mit Hessen bestimmte Versprechungen nicht eingehalten wurden. Aber auch da gilt, der Koalitionsvertrag wird hier weitergeführt und die Arbeit in der Bundesregierung.