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Bundespräsident Köhler mahnt zu weiteren Reformen

Bundespräsident Köhler hat die Koalition zu energischen Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit aufgefordert. Dies sei weiterhin die wichtigste innenpolitische Aufgabe. Zur Diskussion über die Hartz-Gesetze meinte Köhler, es sei ein Trugschluss gewesen, die Arbeitslosigkeit nur durch eine andere Art der Vermittlung beseitigen zu wollen. Positiv wertete Köhler die Stimmung und das Klima während der Fußball-Weltmeisterschaft.

Moderation: Dieter Jepsen-Föge | 18.06.2006
    Dieter Jepsen-Föge: Herr Bundespräsident, Sie haben nicht nur die Fußballweltmeisterschaft eröffnet, Sie haben sich auch die beiden ersten Spiele der deutschen Mannschaft angesehen und haben auch den Besuch beim dritten Spiel angekündigt. Haben wir einen einfach nur fußballbegeisterten Bundespräsidenten, oder sind das Termine, die für Sie Pflicht sind?

    Horst Köhler: Nun, das wichtigste Motiv ist, ich bin selber fußballbegeistert. Also, als Junge und auch bei der Bundeswehr habe ich immer Fußball gespielt. Deshalb ist das ein inneres Anliegen. Dann kommt natürlich hinzu, dass jetzt viele Staatspräsidenten kommen. Und wenn zum Beispiel einer kommt wie der Präsident von Ghana, Herr Kufuor, dann lasse ich es mir nicht nehmen, ihn selbst zum Fußballspiel zu begleiten. Das ist eine ganz natürliche und lockere Art, dann auch über Politik zu reden.

    Jepsen-Föge: Sie tun das also gern?

    Köhler: Sehr gern sogar, ja.

    Jepsen-Föge: So viel Schwarz-Rot-Gold, Herr Bundespräsident, wie in diesen Zeiten der Fußballweltmeisterschaft, gab es ja in Deutschland nie. Manche meinen, vielleicht habe es das in der Phase der Wiedervereinigung 1989/90 gegeben. Werten Sie dies als Ausdruck für Normalität oder für eine Form von problematischem Vorspiel eines neuen Nationalismus?

    Köhler: Nein, überhaupt nicht. Ich sehe da erst einmal nur etwas Schönes, und zwar, dass die Menschen, die die Fahne schwenken oder sie um sich drapieren, dass die Freude haben, dass sie sich mit den deutschen Farben mit ihrem Nationalteam identifizieren. Erst mal das sehe ich. Zweitens: Dass sie Freude haben, dass die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland stattfindet. Das heißt, das ganz wichtige Wettbewerbe hier her kommen wie Brasilien, und es ist ein Freudenfest. Ich würde es noch nicht bewerten, als dass jetzt nun ein Fahnenrausch durchs Land geht, aber doch als einen Hinweis, dass sich das Land weiter normalisiert, dass man jetzt unverkrampfter auf seine eigene Nationalfahne zeigt und sich mit ihr schmückt. Und ich denke, das sollten wir doch als gut finden.

    Jepsen-Föge: Auch ein Hinweis darauf, dass ein Volk so etwas braucht, mit dem es sich identifizieren kann, und wenn es der Fußball ist, der Sport und nicht die Politik oder die anderen Leistungen sind?

    Köhler: Nein, ich glaube, dass man schon sehen muss, aber das war schon vorher angelegt, dass in der heutigen Welt, die ja mit dem Stichwort Internationalisierung oder Globalisierung zum Teil auch charakterisiert wird, dass die Menschen gleichzeitig ein Bedürfnis entwickeln, bei all der Internationalität, Globalisierung, doch zu wissen, wo sie ihre Wurzeln haben, sie können auch sagen, wo ihre Heimat ist, wo sie sich identifizieren mit Traditionen, mit kulturellen Gebräuchen. Und das ist etwas ganz Normales. Ich glaube, diese Reaktion haben auch die Deutschen, die in der Globalisierung sich bewähren müssen. Und das, finde ich, ist gut, sollten wir akzeptieren als etwas ganz Natürliches, kann uns die Weltmeisterschaft helfen auch in der Wahrnehmung von draußen, also wie unsere Nachbarn auf uns schauen, doch zur Kenntnis zu nehmen, dass sich die Nachbarn überhaupt nicht mehr wundern, dass Deutsche mit der Nationalfahne zum Fußballspiel gehen. Und wenn sie jetzt noch, was offensichtlich auch der Fall ist, sehen, dass die Deutschen gute Gastgeber sind, dass die Deutschen Humor haben, glaube ich, können wir rundum zufrieden sein. Wir haben eine Situation, wo ich sagen würde, unverkrampft, locker, Freude am Spiel und an der Begegnung mit Menschen aus anderen Ländern, das ist das, was unserem Land gut tut.

    Jepsen-Föge: Es hat ja vor Beginn der Weltmeisterschaft die Furcht gegeben, die Deutschen könnten nicht nur keine guten Gastgeber sein, sondern es gab die Furcht vor rassistischen Übergriffen. Es gab Warnungen im Ausland an ihre eigenen Mannschaften, bestimmte so genannte no go areas, also bestimmte Gebiete nicht zu betreten. Nun hat es zwar Prügelszenen gegeben von Hooligans, aber überhaupt nichts, was da bisher befürchtet worden war. Erleichtert Sie das oder würden Sie sagen: Lobt den Tag nicht vor dem Abend?

    Köhler: Ach, erst einmal erleichtert es mich. Ich würde trotzdem sagen: Noch ist nicht alles gelaufen und man wird sehen, aber insgesamt habe ich eigentlich ein gutes Gefühl, weil es sich eben zeigt, dass die Deutschen gastfreundlich sind, dass sie zum Beispiel der Mannschaft aus Togo mit der gleichen Freundlichkeit und Fröhlichkeit entgegen gehen wie der Mannschaft aus England oder den Vereinigten Staaten. Und das zeigt doch für mich, dass tatsächlich dieses Land insgesamt weltoffen ist. Das zeigt natürlich nicht, dass wir übersehen können und übersehen dürfen, dass es tatsächlich Probleme gibt.

    Die haben wir uns zum Teil selber eingebrockt, indem wir nämlich die Menschen, die zu uns gekommen sind, Zuwanderer, wir haben verschlafen, sie in unsere Gesellschaft zu integrieren. Das müssen wir jetzt zum Teil mit Begleiterscheinungen bezahlen, die können uns nicht gleichgültig sein. Es gibt Fremdenfeindlichkeit in bestimmten Vierteln. Und gegen das muss man mit aller Entschiedenheit angehen. Aber wir dürfen auch nicht den Fehler machen, jetzt aus diesen Fällen, auch noch weitgehend Einzelfällen, uns selber einzureden, wir seien in toto ein fremdenfeindliches oder sogar rechtsextremes Land. Das ist einfach nicht zutreffend.

    Jepsen-Föge: Aber da will ich denn doch noch einmal nachfragen: Es ist ja vor kurzem der so genannte Migrationsbericht veröffentlicht worden, der ja nun statistisch nachgewiesen hat, ein wie hoher Bevölkerungsanteil wirklich Migrantenhintergrund hat, nicht nur die Ausländer, sondern auch Deutsche, die aber Migrantenhintergrund haben. Meinen Sie das, wenn Sie sagen, wir haben da etwas verschlafen, dass wir nicht realisiert haben, dass wir tatsächlich ein Einwanderungsland sind und die, die hier eingewandert sind, dann auch integrieren müssen?

    Köhler: Ja, das haben wir verschlafen. Wir haben nicht bemerkt, dass über, glaube ich, jetzt zehn Millionen Menschen aus anderen Ländern, auch mit anderen Religionen, zu uns gekommen sind. Wir haben sie praktisch ignoriert. Und das ist auch keine gute Form der Integration. Aber jetzt ist das Problem ja erkannt, weil wir wissen, dass wir mehr tun sollen. Aber wir sagen auch deutlich, und das halte ich für richtig: Die, die zu uns kommen, müssen auch Integrationsbereitschaft zeigen, vor allen Dingen, indem sie die Sprache lernen.

    Für uns, das hängt vielleicht damit zusammen, dass ich einige Jahre im Ausland war, kann es sogar ein großer Vorteil sein, wenn Länder aus anderen Kulturen zu uns kommen. Das kann uns auch eine Bereicherung geben, kann unsere Kreativität fördern. Deutschland ist darauf angewiesen, dass wir in jeder Form sozusagen Kreativität nutzen und bei uns möglich machen. Und Migranten sind oft entschlossenere Menschen, bereitwillige Menschen, auch dazu zu lernen. Also, ich sehe da eher mehr Vorteile, dass wir jetzt diese Aufgeschlossenheit zur Integration von Migranten haben. Nur müssen wir es jetzt auch anpacken und durchziehen.

    Jepsen-Föge: Seit genau zwei Jahren sind Sie nun im Amt des Bundespräsidenten. In Ihrer Antrittsrede hatten Sie gemahnt, Deutschland sei in wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Sie haben gesagt, man habe keine Zeit zu verlieren. Sie haben seitdem immer wieder schnelle Reformen angemahnt. Wie sehr haben Sie den Eindruck, dass das Wort des Bundespräsidenten gehört wird? Und anders gefragt: Wie zufrieden sind Sie mit dem Tempo der Reformen?

    Köhler: Nun, ich glaube, insgesamt hat sich das Land auf den Weg gemacht. Und da zögere ich überhaupt nicht, nicht zuletzt dadurch, dass Gerhard Schröder die Agenda 2010 politisch auf den Weg gebracht hat. Damit ist sozusagen eine Kurskorrektur in die richtige Richtung erfolgt. Ich denke, dass die Große Koalition jetzt an dieser Linie weiter arbeitet, und das ist auch richtig so. Ich wünsche mir, dass die Große Koalition tatsächlich große Aufgaben anpackt. Für mich ist die wichtigste innenpolitische Aufgabe, die Arbeitslosigkeit entschlossen und ehrgeizig zu bekämpfen.

    Hier – das habe ich auch schon öffentlich gesagt, und deshalb ist es nur eine Wiederholung – wünschte ich mir eben noch mehr Fähigkeiten, Kraft, sich auf Prioritäten zu konzentrieren, das heißt, alles das zu machen, was arbeitslosen Menschen Arbeit gibt, vor allen Dingen unseren jungen Menschen eine Perspektive gibt durch Arbeit. Das schließt dann eben auch ein, es ist ein wichtiger Teil für mehr Arbeit, dass eben junge Menschen die offen sind oder empfänglich gegenüber Fremdenfeindlichkeit oder rechtsextrem, dass die wieder eine Perspektive für sich erkennen und deshalb diesen Leuten nicht zulaufen.

    Jepsen-Föge: Ihre Formulierung lautet dann immer wieder: Vorfahrt für Arbeit. Um in diesem Bild zu bleiben: Welche Stopschilder vor allem müssen weggeräumt werden, wenn wir einmal über die Reformen sprechen, die ja beschlossen sind. An diesem Freitag ist etwa beschlossen worden – auch vom Bundesrat, der Bundestag hatte zugestimmt – die angekündigte Erhöhung drei Prozentpunkte mehr Mehrwertsteuer. Das ist ja doch auch nach Ihren Kriterien nicht die Richtung, in die die Reformen gehen müssten.

    Köhler: Es ist kein Geheimnis, dass ich mir wünschte, dass die Mehrwertsteuer stärker zur Reformpolitik genutzt wird. Und wenn Sie so wollen, gibt es dafür zwei hauptsächliche Ansatzpunkte, nämlich die höhere Mehrwertsteuer zu nutzen, um die sogenannten Lohnneben- oder Lohnzusatzkosten zu senken. Das ist ein reformerischer Weg, den wir, glaube ich, begehen müssen oder sollten, auch um den modernen Arbeits- und Produktionsprozessen Rechnung zu tragen. Ein zweiter Teil der Priorität sollte aus meiner Sicht sein, mehr in Bildung, Forschung und Entwicklung zu investieren. Hier geben wir zu wenig Geld aus, und das ist natürlich kein gutes Omen für die Zukunft.

    Jepsen-Föge: Ist das Ihr Eindruck von dieser Große Koalition, dass Große Koalition heißt: Politik auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner?

    Köhler: Ich glaube, natürlich sind es zwei Parteien, die großen Parteien, Volksparteien, die einen heftigen Wahlkampf gegeneinander führten, die Parteiprogramme haben, unterschiedliche Schwerpunkte und auch Akzente. Das macht es nicht unbedingt leichter. Aber ich denke, dass das Verantwortungsbewusstsein in beiden Parteien so groß ist, dass man am Ende weiß, dass man das Volk, die Menschen draußen auf der Straße, diese Regierung daran messen werden, dass sie zum Beispiel Fortschritte, und zwar nachhaltige Fortschritte, bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erzielen. Daran messe auch ich die Bundesregierung.

    Jepsen-Föge: Welche Maßnahmen würden Sie denn erwarten? Ist das Steuersystem so, wie es jetzt entwickelt wird, wie es reformiert wird, leistungsfreundlich, leistungsfördernd, investitionsfördernd und damit Arbeitsplätze schaffend?

    Köhler: Nun, ich glaube, dieses Urteil kann ich so noch nicht geben. Ich denke, dass wir tatsächlich auch Reformbedarf haben im Steuersystem. Vor allen Dingen ist dieses Steuersystem zu kompliziert. Keiner kann mehr wirklich richtig beurteilen, ist das überhaupt alles noch gerecht, was wir in unserem Steuersystem zusammengebastelt haben. Wir wollen Steuergerechtigkeit haben. Aber um das überhaupt beurteilen zu können, müssen wir wissen, wo kommen Steuern an, wer zahlt sie überhaupt, wer kann Steuerzahlungen ausweichen? Alles das wissen wir kaum, und deshalb wünsche ich mir und halte ich es in der langen Sicht auch für ganz, ganz wichtig, dass wir ein viel einfacheres Steuersystem bekommen, das nicht nur auf diese Weise sozusagen wirtschaftliche Dynamik freisetzt, sondern auch den einzelnen Steuerbürger in die Lage versetzt, selber beurteilen zu können, wie gerecht das System ist.

    Jepsen-Föge: Von den Reformen – Sie haben die Agenda 2010 des Bundeskanzlers Gerhard Schröder ja immer wieder gelobt, auch jetzt gerade – ein Markenzeichen und ein Name war ja Harz, die Harz-Reformen I – IV. Aber damit war ja auch die Erwartung verknüpft, die Arbeitslosigkeit sehr deutlich zu reduzieren, zu halbieren. Nichts davon ist geschehen. Zweifelt da auch ein Ökonom daran, ob wir wirklich praktikable Mittel haben, dieses Ziel zu erreichen?

    Köhler: Nein, der Grundgedanke der Agenda 2010 war ja nicht Harz I bis IV, sondern der Grundgedanke war, dass Deutschland und die deutsche Volkswirtschaft sich vorbereiten muss auf Wettbewerb im 21. Jahrhundert, sich darauf ausrichten muss. Und das heißt, wir brauchen mehr Freiraum für Investitionen, wir brauchen weniger Bürokratie, wir müssen auch sozusagen an den sozialstaatlichen Absicherungen arbeiten, die sich der Staat derzeit nicht mehr erlauben kann. Harz IV war von Anfang an aus meiner Sicht zu stark auf organisatorische Verbesserung ausgerichtet. Also, Arbeitslosigkeit kann man nicht beseitigen, indem man nur anders vermittelt. Das war in gewisser Weise ein Trugschluss. Aber die grundlegende Entscheidung, zum Beispiel Sozialhilfe und Arbeitslosengeld zusammen zu legen und damit auch, wenn Sie so wollen, stärkeren Druck zu machen – ich benutze durchaus dieses Wort –, sich um einen Arbeitsplatz zu bemühen, aus eigenem Antrieb, diese Grundrichtung war richtig und ich glaube auch, dass sie sich schon jetzt beginnt auszuzahlen in Verbesserungen am Arbeitsmarkt.

    Jepsen-Föge: Herr Professor Papier, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat in einem Interview der FAZ jetzt zum Wochenende darauf hingewiesen, dass das Grundgesetz den Sozialstaat, so wie er jetzt ausgebaut worden ist, keineswegs festschreibt. Es sei durchaus möglich, das Verhältnis, wie er schreibt, von Solidarität und Eigenverantwortung neu zu justieren. Und Papier erinnert daran, dass der Sozialstaat nur geben könne, was der Abgabenstaat vorher den Bürgern genommen habe. Sehen auch Sie, dass der Sozialstaat in diesem Sinne neu justiert werden muss, also mehr in Richtung Eigenverantwortung und weniger Leistungen durch den Staat?

    Köhler: Richtig ist, dass der Präsident des Bundesverfassungsgerichts darauf hingewiesen hat, dass unsere Verfassung das Sozialstaatsprinzip verankert. Und das muss bleiben und wird auch in Zukunft so bleiben. Also, keiner, der bei uns Reformen im sozialen Bereich anstrebt und betreibt, kann und soll und darf sozusagen das Sozialstaatsprinzip vergessen. Das ist ein wichtiger Punkt. Und in der Tat denke ich, dass das Grundgesetz ja nicht im einzelnen vorschreibt, wie bestimmte soziale Ausgleichsmaßnahmen zu definieren sind. Wir müssen ein neues Verhältnis finden in der Tat zwischen kollektiver Absicherung und Eigenverantwortung. In einer Denkschrift der katholischen Kirche heißt es, wir müssen das Soziale neu denken, nicht zuletzt zum Beispiel, indem wir schon heute wissen und entsprechend handeln müssen, dass wir auch unseren Kindern und Enkeln soziale Absicherung und Chancen für die Zukunft geben müssen. Und das heißt, wir müssen heute mehr Ressourcen für Investitionen, für Forschung und Entwicklung aufwenden. Und das können wir nicht, wenn wir gleichzeitig alles beim alten lassen im jetzigen Sozialbereich.

    Jepsen-Föge: Herr Bundespräsident, die Globalisierung ängstigt ja viele Bürger. Die Globalisierung ist sozusagen auch ein Begriff, mit dem viele Ängste verbunden werden und viel Kritik an den wirtschaftlichen Problemen. Von allen Seiten werden da mehr die Gefahren als die Chancen bewertet. Ich kann mir vorstellen, dass das nun gerade Sie, der ehemaligen Präsident des Internationalen Währungsfonds, der immer mit Globalisierung zu tun gehabt hat, zumindest differenzierten, wenn nicht völlig anders sieht. Woher kommt das? Spüren Sie das auch, diese Angst und diese heftige Kritik an der Globalisierung? Wo ist sie berechtigt und wo ist sie unberechtigt?

    Köhler: Die Deutschen waren in Ihrer Geschichte und vor allem in der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg im Grunde Gewinner der Globalisierung. Und auch jetzt wieder. Wir sind froh, wenn Sie so wollen, dass wir Export-Weltmeister sind. Das heißt, wir sind die Nation, die am meisten exportiert von allen vergleichbaren großen Industrieländern. Und das heißt, Globalisierung war für uns von Nutzen. Tatsache ist aber auch: Globalisierung bringt große Herausforderungen. Und dies sind natürlich Herausforderungen im Wettbewerb. Wir wissen, dass zum Beispiel China, Indien mit Produkten auf unsere Märkte kommen, die Arbeitsplätze bei uns bedrohen. Das kann man gar nicht wegdiskutieren. Und da macht sich Unsicherheit breit. Ich glaube, wir müssen in Deutschland noch mehr erklären, was Globalisierung bedeutet. Zum Beispiel wenn wir uns freuen über einen billigen Fernsehapparat, den wir hier kaufen im Supermarkt, dann haben wir mehr Kaufkraft frei für etwas anderes. Und das alles ist Globalisierung.

    Man muss das erklären. Man muss deutlich machen, dass Deutschland sich anstrengen muss, weil neue fleißige Wettbewerber auf die Märkte kommen. Wir wissen, dass Unsicherheit herrscht, aber wir sollen jetzt nicht in Panik geraten, sondern sehen, dass wir uns mit unserer Erfahrung auf internationalen Märkten, mit unserer Fähigkeit der Ingenieurkultur, des Anlagenbaus, Maschinenbaus – das alles wird gebraucht in der Welt – dass wir keine Angst haben müssen, uns am Ende durchzusetzen.

    Jepsen-Föge: Die wirtschaftlichen Probleme, die wir haben, vor allem die Arbeitslosigkeit, sind ja in Deutschland ungleich verteilt. Sie sind deutlich größer in Ostdeutschland, in der ehemaligen DDR. Da ist die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch. Da gibt es Probleme der Abwanderung, vor allen Dingen der Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher. Nun wird aktuell wieder gestritten über den sogenannten Solidarpakt II, das heißt über den Finanztransfers von West nach Ost. Haben Sie den Eindruck, dass die Solidarität des Westens für den Osten, das Gefühl von Zusammenhalt in Deutschland schwindet?

    Köhler: Nein, das Gefühl habe ich nicht. Und das sehen Sie ja, wenn Sie mit den Menschen reden. Westdeutsche fahren nach Ostdeutschland in Urlaub an die Ostsee. Ich begegne ihnen in Dresden oder in Sachsen-Anhalt, in Magdeburg. Ich glaube nicht, dass die Solidarität schwindet. Was ich glaube, ist, dass da mehr Aufmerksamkeit hinsichtlich der Frage ist, werden die Mittel, die von Westen nach Osten fließen, bestmöglich ausgegeben. Auch hier warne ich davor, den Ostdeutschen, also den Regierungen in dem Fall, zu unterstellen, sie würden leichtfertig und unsinnig Geld ausgeben, das für andere Zwecke vorgesehen war. Wahr ist aber auch, und das muss man schon ernst nehmen, in Ostdeutschland wird relativ noch weniger ausgegeben für Investitionen als in Westdeutschland. Und das geht dann natürlich nicht auf. Wenn relativ viel Geld nach Osten fließt, wenn das aber nicht in Investitionen fließt, dann bleibt eine Daueralimentierung die Folge. Und ich glaube, das ist nicht einmal im Interesse der Menschen in Ostdeutschland. Wir sollen ihnen weiter helfen. Wir wissen, dass die Menschen in Ostdeutschland fleißig sind, dass sie verantwortungsbewusst sind. Die Menschen in Ostdeutschland können stolz sein, welchen Wandel und welche Errungenschaften sie erreicht haben. Aber wir müssen jetzt daran denken, dass wir auch in der Zukunft sozusagen neue Strukturen schaffen, die wirtschaftliche Dynamik ermöglichen, dass die Wirtschaft dort auf eigenen Beinen steht.

    Jepsen-Föge: Herr Bundespräsident, zum Schluss: zwei Jahre Amtszeit liegen hinter Ihnen, drei Jahre liegen noch vor Ihnen. Was werden die großen Themen sein, die Sie selber beschäftigen werden, die absehbar sind? Man weiß ja nie, was an Problemen hinzukommt, aber was haben Sie sich gleichsam vorgenommen? Vielleicht fange ich einmal an, nicht in die Innenpolitik zu gucken, sondern auch mal raus. Sie gehen ja auf Reisen. Es fällt auf, dass Sie ganz intensiv afrikanische Staaten bereist haben. Warum legen Sie so ein Schwergewicht auf den afrikanischen Kontinent? Haben Sie das in Zukunft vor? Und dann die Frage nach dem, was Sie sozusagen in der Innenpolitik hier öffentlich machen wollen.

    Köhler: Wir haben ja die Globalisierung schon angesprochen. Ein Land wie Deutschland muss weltoffen sein. Ich glaube, dass wir eher außenpolitisch zu wenig daraus machen, dass unser Land in der ganzen Welt einen glänzenden Ruf hat. Man unterstellt den Deutschen mehr als anderen Fairness, Effizienz, Zuverlässigkeit und auch, wenn Sie so wollen, Glaubwürdigkeit. Und daraus, glaube ich, könnte man außenpolitisch noch mehr machen. Und das ist notwendig. Die Welt verändert sich in rasantem Tempo durch das Aufkommen neuer Kräfte, neuer politischer Pole, zum Beispiel in Asien. Und wir müssen einen Weg finden, wie wir als Deutschland mit Europa und in Europa unsere Position behaupten. Und im Zusammenhang mit meinen Reisen nach Afrika, kann ich nur sagen: In Afrika habe ich viel Gutes kennen gelernt, vor allen Dingen kluge Menschen.

    Ich habe Schriftsteller kennen gelernt, die mit einer intellektuellen Kraft und moralischen Autorität sozusagen die Dinge formulieren, da können wir noch ein bisschen mehr zuhören. Und ich möchte einfach nicht auf Dauer erleben, dass afrikanische junge Menschen über das Wasser Mittelmeer kommen und ertrinken. Wir müssen helfen, im eigenen Interesse, dass sie zu Hause bleiben können, dort Arbeit finden. Und das heißt, sie brauchen Hilfe zur Selbsthilfe, wie es auch die Deutschen bekommen haben nach dem Zweiten Weltkrieg. Innenpolitisch ist es ganz eindeutig mein Schwergewicht und mein Schwerpunkt, und ich halte daran fest, den Finger drauf zu legen, wie kommen wir schneller voran beim Abbau der Arbeitslosigkeit. Das bleibt für mich eine Schlüsselfrage und damit verwoben ist die Aufgabe, mehr zu tun in Bildung, Wissenschaft und Forschung. Wir müssen unseren Kindern Zukunftschancen geben. Und hier möchte ich einfach, dass noch mehr geschieht. Und da werde ich auch nicht locker lassen.

    Jepsen-Föge: Sind Sie denn, und das ist die allerletzte Frage, Herr Bundespräsident, zufrieden mit der bisherigen Reaktion auf das, was Sie ja vor allen Dingen in Reden und in der Öffentlichkeit darstellen?

    Köhler: Na, ich bin meiner Natur nach nie völlig zufrieden. Aber wenn ich meine Begegnungen sehe mit den Menschen im Lande, und ich treffe viele an vielen, vielen Orten, dann kann ich nur sagen, ich gewinne von dem Zuspruch, wenn Sie so wollen, der Menschen zu meiner Amtsführung natürlich auch an Kraft für mich. Die Menschen machen mir Mut, und das freut mich. Und auf dieser Basis glaube ich auch, dass ich mit dazu beitrage, den Menschen wiederum meinerseits Mut zu machen. Und wenn das noch die drei Jahre dann der Fall ist, glaube ich schon, dass wir am Ende ein Stück weiter sind.

    Jepsen-Föge: Vielen Dank, Herr Bundespräsident.