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Entblättertes Fachwissen im politischen Dialog

Sven Christian Kindler gehört zu den jüngsten Abgeordneten des Deutschen Bundestages und ist haushaltspolitischer Sprecher der Grünen. Mit Rousseau und Kant, Horkheimer und Adorno hat er sich auf den argumentativen Schlagabtausch mit den Altvorderen vorbereitet.

Von Alexander Budde |
    Am Anfang standen Thomas Hobbes und John Locke. Auch Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant wurden mit Fleiß studiert. Derzeit diskutiert der kleine Lesekreis um den grünen Bundestagsabgeordneten Sven-Christian Kindler die Thesen von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Die Dialektik der Aufklärung – so schnell wie einen Krimi liest man die nicht:
    "Vielleicht kann man erst mal sagen, wie die Lektüre war. Wie ging´s euch denn mit den Thesen?"
    Christoph Müller, der Gastgeber an diesem Abend. Akademisch vorbelastet durch ein Bachelor in Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt Sozialpsychologie. Müht sich gerade im Masterstudium Sonderpädagogik.
    "Also, ich fand, dass die Lektüre, im Gegensatz zu Sachen, die wir bislang gelesen haben, teilweise echt nicht unkomplex war!"
    Erfahrener WG-Kumpan mit analytischem Feingefühl
    Maxim Bönnemann, auch so ein erfahrener WG-Kumpan mit analytischem Feingefühl. Hat das erste Staatsexamen Jura in der Tasche, demnächst steht die Promotion im Völkerrecht an. Neben ihm sitzt Sven-Christian Kindler und wiegt den Kopf hin und her:
    "Dadurch, dass es sehr gehaltvoll ist und sehr viel drinsteckt, finde ich, macht das den Reiz aus - und hat mir auch noch einmal neue Horizonte eröffnet."
    Sven-Christian Kindler, der Praktiker. 2009 zog der gelernte Betriebswirt erstmals für die Grünen in den Bundestag ein. Welpenschutz genießt der 29-Jährige dort längst nicht mehr. Kindler sitzt für seine Partei im Haushaltsausschuss, quält sich in langen Abendsitzungen durch ebenso lange Zahlenkolonnen. Beruflich muss er sich Gedanken machen - etwa wie der Ausstieg aus der Kernkraft und die Finanzierung der Energiewende konkret gelingen könnten. Auch als Parlamentarier liest Kindler im Kollektiv. Mit seinem Büroleiter und die beiden Referenten für Haushaltsthemen sichtet er abertausende Seiten Gedrucktes. Bei Expertenanhörungen im Ausschuss ginge es zu wie im Hörsaal. Seine Freude am Lernen sei hilfreich, den Stoff zu bewältigen, sagt Kindler. Doch wirklich Zeit, sich in neue Themen einzuarbeiten, die komplizierte Entscheidungen erfordern, bleibt dabei immer weniger. Der grüne Abgeordnete streicht über das dicke Buch, von dem ihm Adorno und Horkeimer mit ihren dicken Brillen ernst entgegenblicken:
    "Ich glaube, das Problem ist, dass Parlamente zu wenig sich selbst ernst nehmen und zu wenig die Machtposition, die sie haben in der Gesellschaft, auch zu nutzen. Und sich auch Raum zur Beratung, zur Kontrolle, zur Reflexion zu nehmen. Und sich nicht treiben zu lassen von der Hetze des politischen Alltags oder der Massenmedien."
    Früchte des Disputs nach Berlin mitnehmen
    Wenn sich Kindler mit seinen Freunden über die Theorien der Altmeister des politischen Denkens austauscht, nimmt er die Früchte des Disputs mit nach Berlin. Etwa die Erkenntnis, dass Politik niemals ohne Macht und Einfluss funktioniert.
    "Weil es darum geht, dass verschiedene Machtinteressen miteinander kämpfen, um Herrschaft. Deswegen gibt es keinen herrschaftsfreien Lern- und Lesediskurs. Und wenn du dir anschaust, was bei Hobbes oder Locke gedacht wurde von der Freiheit des Einzelnen. Und wie das letztendlich heute auch infrage gestellt ist, mit der Totalüberwachung von Gesellschaft. Das sind ganz alte Diskurse, die heute noch hochaktuell sind."
    "Diese aber, die weder ökonomisch noch sexuell auf ihre Kosten kommt, hasst ohne Ende. Sie will keine Entspannung dulden, weil sie keine Erfüllung kennt."
    Zitiert Christoph Müller jetzt allerhand tiefenpsychologische Überlegungen zur Gefolgschaft der Antisemiten und ihrer sogenannten "falschen Projektion". Die "Elemente des Antisemitismus" aus der "Dialektik der Aufklärung" sind keine leichte Kost für den Lesekreis. Um das Denkvermögen zu beflügeln, spendiert der Gastgeber eine Runde Schnaps aus seinem Fundus.
    "Wir haben schon eigentlich eines gemein, nämlich, dass wir uns auch alltägliche Phänomene theoretisch erklären wollen. Und dass wir ganz, ganz viele Fragen haben, die wir uns erst einmal nicht beantworten können. Aber die wir uns deswegen umso mehr stellen: Warum war so etwas wie die Schoah möglich? Warum verhungert alle paar Sekunden ein Mensch? Warum ist es so wichtig für mich, ein Studium zu studieren, mit dem ich einen Job kriege? Warum muss ich überhaupt arbeiten? Und wie kann ich Glück organisieren?"
    "Wenn man heute die Zeitung aufschlägt und gewisse Statements oder überhaupt die politische Kultur in Deutschland und Europa zu verstehen versucht, da wird man gewiss nicht weiterkommen, wenn man ausschließlich bei Tagespresse verweilt. Sondern man muss wie ein Archäologe damit anfangen, Ideengeschichte freizulegen. Stück für Stück."
    Sagt Maxim Bönnemann am Ende des Abends. Und Sven-Christian Kindler nickt. Doch Wissen allein hat für ihn keinen eigentlichen Wert, erzählt er. Er lerne schließlich nicht, um die Gesellschaft zu verwalten, sondern um sie zu verändern.
    "Ich wollte die Welt verbessern, und das will ich noch immer! Mir geht es darum, eine gerechtere, ökologischere, demokratischere Welt zu erstreiten. Und auch dafür zu streiten, dass Menschen die Chance haben, überhaupt in unserer stressigen Welt reflexiv und ja selbstbestimmt zu leben."
    Foucaults Schriften im Gepäck
    Als Lektüre für die Zugfahrt nach Berlin hat sich der Politiker Michel Foucault und dessen Schrift "Überwachen und Strafen" ins Gepäck gelegt. Zumindest der Titel passt schon mal gut in die Zeit, so scheint es. Und er will ja nicht unvorbereitet in den nächsten Lesekreis gehen.