Bundeswettbewerb "Lyrix"
And the winner is... Die Preisträger 2015

Zwölf der Monatsgewinner von 2015 fahren diesen Juni mit uns nach Berlin. Sie erleben dort mit uns ein verlängertes Wochenende mit Preisverleihung und der Teilnahme an Schreibwerkstätten mit renommierten Lyrikern.

14.03.2016
    Die Skyline hebt sich in Berlin im Licht der untergehenden Sonne ab. Im Vordergrund die Oberbaumbrücke, dahinter der Fernsehturm.
    Die Skyline hebt sich in Berlin im Licht der untergehenden Sonne ab. Im Vordergrund die Oberbaumbrücke, dahinter der Fernsehturm. (dpa picture alliance/ Paul Zinken)
    Als Gewinner der achten lyrix-Wettbewerbsrunde verbringt ihr einen Tag im Literarischen Colloquium Berlin, wo abends in einer Lesung die Texte aus der Schreibwerkstatt mit Norbert Hummelt und Anja Kampmann präsentiert werden. Weitere literarische Programmpunkte rahmen die Preisverleihung ein, die in der Akademie der Künste am Freitag, 10.Juni um 14 Uhr stattfindet.
    Ausgewählt wurden die Preisträger von unserer »lyrix«-Jury, die sich dieses Mal aus Malte Blümke für den Deutschen Philologenverband, Thorsten Dönges vom Literarischen Colloquium Berlin, Matthias Gierth als Leiter der Hauptabteilung Kultur im Deutschlandfunk, dem Lyriker Norbert Hummelt, Claudius Nießen für das Deutsche Literaturinstitut Leipzig, der Geschäftsführerin des Deutschen Museumsbundes, Anja Schaluschke sowie der Autorin und Verlegerin Daniela Seel zusammensetzt. Wir danken allen Juroren für ihr Engagement!
    Nicht zu vergessen ist das große "Dankeschön" für jedes Gedicht, das bei uns ankommt, auch wenn es nicht als Gewinnergedicht veröffentlicht wird. Wir freuen uns über eure rege Teilnahme an unserem Wettbewerb und über eure kreativen, originellen, schönen, klugen und wahren Texte, mit denen ihr unsere wechselnden Monatsthemen interpretiert.
    Das lyrix-Projekt gibt es seit 2008, initiiert wurde es vom Deutschlandfunk und dem Deutschen Philologenverband, wichtiger Kooperationspartner ist der Deutsche Museumbund. Inzwischen wird es als Bundeswettbewerb vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und ist seit Oktober 2015 offiziell der Verein lyrix e.V.
    Voilà, die diesjährigen Gewinnergedichte:
    chronik unserer Freundschaft
    unterm bett versteckt
    staubflusen im haar
    flausen im kopf
    nachbarn erschreckt
    aus mülltonnen
    flüstern aus schlafsäcken
    dein aquarium summt
    stumm schlummernd nebeneinander
    rücken aneinander
    unsere erste große liebe
    später würden wir ihn beide heiraten
    popcornschlachten
    dachten aneinander entlang
    so lang
    das schweigen in der bahn
    einsteigen aussteigen sitzen bleiben
    stummes leiden
    doch ich hör die tränen in deinem lachen
    vormachen? Kannst du mir nichts
    stiegen um von tee auf bier
    und ich schenk dir reinen wein ein
    während wir unter sternen liegen
    im schlafsack flüstern
    rücken gegeneinander
    "weißt du noch damals?"
    (Laura Bärtle, Jahrgang 1999, Thema: best friends: farbfamilien / merkt man sich)
    Dass ich Apfelsaft mag
    Ich wollte dir nur sagen,
    dass ich Spiegeleier mag
    und Apfelsaft – naturtrüb.
    Und dass ich manchmal nachts aufgestanden bin
    und dann auf dem Dachboden
    Mamas alte Kisten durchsucht habe
    nach irgendetwas, das
    noch nicht kaputt war.
    Ich wollte dir noch sagen,
    dass ich es schön fand wie
    wir beide ganz weit raus fuhren aufs Land,
    wo keiner mehr wohnen will
    wegen der Atomkraftwerke.
    Wie wir in der Sonne saßen
    und die Wolkenberge durchsuchten
    nach irgendetwas, das
    nicht vorbeiziehen wird.
    Ich wollte dir noch sagen,
    dass ich noch oft an diese Tage denke,
    an denen wir versuchten,
    so tief auf den Boden des Teichs zu tauchen,
    dass wir unsere Hände im Schlamm vergraben konnten.
    Wie wir die feuchte Erde untersuchten
    nach irgendetwas, das
    noch nicht verwest war.
    Ich wollte dir noch sagen,
    dass die Wände hier sehr grau sind,
    grauer noch als dein Strickpullover.
    Und dass ich manchmal nachts aufstehe,
    weil das Licht an ist.
    Dass ich nicht mehr weiß,
    ob es Nacht oder Tag ist
    und einsam bin,
    dass niemand mit mir spricht.
    Dass ich manchmal schreie und weine,
    dass ich mir meine Arme aufkratze.
    Dass ich bluten will
    bis ich in meinem eigenen Blut ertrinke.
    Ich wollte dir nur sagen,
    dass ich dein Grab besuchen werde
    wenn ich frei bin, auf der Suche
    nach irgendetwas, das
    von uns geblieben ist.
    (Victoria Helene Bergemann, 1997, Thema: Gefangenschaft – Isolation – Zersetzung)
    mousefalle
    Im Zimmer
    ein Rechner
    immer online
    die Welt steht offen
    der Horizont ist weit
    Erlebnisse frei Haus!
    Viele Stunden
    gefesselt am Stuhl
    starrer Blick
    kaum einen Meter weit
    kleiner Spielraum
    nur das Klicken des Fingers...
    Tausend Freunde
    in meiner Liste
    viele chats
    unbekannte Spielpartner
    aber mein Leben
    einsam und leer.
    Im Zimmer
    ein Rechner
    immer online
    niemals real
    mein Horizont
    nur virtuell
    16 : 9
    (Tom Bussemas, Jahrgang 2002, Thema: Gefangenschaft – Isolation – Zersetzung)
    honigsüß
    meine sonne verdunkelt sich
    der morgen atmet trauer
    meine hände zittern
    ich sing mein lied
    sing es still
    weil keiner
    es hören will
    integration
    inklusion
    große worte
    keine taten
    verschlossene türen
    keine auskünfte
    der wind flüstert
    hoffnung
    verstummt
    honigsüß wird
    hart geurteilt
    ausgegrenzt
    zurückgewiesen
    nicht verstanden
    kämpfen macht so müde
    ein inferno tobt in mir
    ich wünsche mir
    dass
    die die an den schaltstellen sitzen
    "1 jahr in meinen schuhen laufen"
    wer ist gescheitert
    unser system oder ich
    persönliches budget
    sozialstation
    integration
    inklusion
    es tut mir leid
    dafür sind wir nicht zuständig
    meine mutter denkt immer
    ich merke es nicht
    wenn sie wieder einmal
    für mich weint
    über die vielen
    neins
    über den paragraphendschungel
    der so voll wilder tiere ist
    dass man daran
    scheitern muss
    lange hab ich überlegt
    soll ich die welt
    konfrontieren mit mir
    und all denen
    die keine worte finden
    deren hände zittern
    deren sonnen morgens
    schon untergehen
    die das flüstern des windes
    nicht hören können
    die der paragraphendschungel
    erschöpft
    weil zu viel zeit
    zu viel trauer atmet
    dann …
    dachte ich
    was macht die welt mit mir
    mit uns
    die am rande leben
    sie macht die augen zu
    reitet auf schlüpfrigen
    paragraphen
    von amtsstube
    zu amtsstube
    schmettert ab
    honigsüß
    (Marie-Celestine Cronhardt-Lück-Giessen, Jahrgang 2000, Thema: Unpolitische Lieder ?!?)
    Frühlingssymphonie
    Ich fall' auf deine Haut
    und das Nichts fällt herein,
    denn
    gemeinsam vergeht uns der Atem,
    wenn die Zeit uns verhüllt,
    dann erkenne ich dich,
    wenn die Jahre uns finden,
    dann findest du mich,
    mit den Augen
    der Leere,
    die voll ist von mir,
    deine Augen
    der Ferne,
    in denen ich wohne.
    Es klingt wie ein Lied
    aus vergangenen Tagen,
    wenn du deine Worte
    in meinen verschränkst,
    wir wissen zu kennen
    und nennen doch nicht,
    die ferne
    Bekannte,
    die Hände des Nichts,
    wir versuchen
    uns nicht zu erkennen.
    Du fällst aus der Sonne,
    und das Licht fällt mit dir,
    die fremde Vertraute
    sie kennt dich nicht mehr,
    Unendlichkeit tragen wir
    in unsrem Atem,
    und trinken das Nichts
    von den Lippen der Zeit.
    (Julia Fourate, Jahrgang 1994, Thema: Einklang – Zweiklang – Nachklang)
    Unpolitisches Stimmungslied
    I.
    Wir haben unsere Hymne
    Vergessen, können die Melodie gerade so mitsummen im
    Sirren zwischen Bienen und dem Kühlschrank
    Googlen wir den Text, nein, geht
    Auch ohne, denn was geht uns der Staat
    Schon an
    Der macht doch eh was er will und wir
    Vertrauen nicht dem was wir gewählt haben, wir
    Wählen auch nicht, wen auch, es
    Gibt keinen in diesem Land und
    Wahlplakate sind doch eh nur schön
    Gedruckte Seifenblasenversprechen, wir
    Passen lieber auf, nicht
    Auszurutschen auf dem nassen Boden geplatzter Versprechen und
    Sagen erstmal nein, bevor es
    Vielleicht doch schön werden
    Könnte
    Oder auch nicht
    II.
    Wir und der Staat und
    Gesetze und
    Wir nehmen uns Freiheit
    In diesem Land
    Danach strebten wir schon
    Unser ganzes Leben lang
    Du und ich ohne
    Irgendeinen Staat
    (Lena Hinrichs, Jahrgang 2000, Thema: Unpolitische Lieder?!?)
    o.T.
    I
    Ich geh mit meiner Pistole und meine Pistole mit mir
    da oben leuchten die Sterne
    und ich diskutiere nicht gerne
    ich schieße jetzt und hier
    II
    Gun control is Fun control
    every night on my patrol
    I shoot words like bullets
    into other people’s chests
    III
    Wir kämpfen stets den gleichen Krieg
    gut gegen böse gegen allesistrelativ
    traditionell wird er mit Gewalt und Kämpfen ausgetragen
    heute wie damals
    doch nach den Wasserstoffbomben
    und den verletzenden Worten
    erkannten wir die grausamste Waffe
    im Schweigen
    Oh, wie wir uns mit ihm foltern
    gemeinsam am Frühstückstisch
    zwischen Kaffee, Müsli
    und der simplen Brutalität der Stille
    die tausend uns von innen zerfetzenden Gedanken
    erfordern ein Maximum an Selbstbeherrschung
    um nicht ausgesprochen zu werden
    bald sind wir schon taub geworden
    von der Lautlosigkeit
    Mangel an Worten wie fehlende Gliedmaßen
    Kriegsverletzung - invalid
    schwere Blicke ziehen mich hinunter
    ob wir nicht eigentlich für das selbe kämpfen?
    wollten doch beide einst die Welt retten
    aber ohne fehlen mir die Waffen
    und ohne dich fehlt mir die Kraft
    in Wirklichkeit kann ich weder
    Held noch Schurke sein
    noch in einem Krieg kämpfen
    denn ich habe beschlossen
    Pazifist zu sein
    und vegan
    (Patricia Machmutoff, Jahrgang 1996, Thema: Neue Waffen alter Helden)
    Angst/Mut
    (Für meine Eltern)
    Ich tauche ein in leere Weiten,
    sie geben Tiefen, doch nie Gründe auf.
    Muss immer weiter in sie schreiten
    Schaffe ich den Sprung hinaus?
    Ich sinke immer tiefer ein
    in eine Welt, die mich verletzt.
    Ich glaube nur noch meinem Schein,
    der mit mir durch die Stunden hetzt.
    Es scheint mir nämlich jederzeit,
    dass hinter mir ein Dämon steht,
    der nach nur kurzer Ruhezeit,
    beständig meiner Wege geht.
    Der Dämon kann Gedanken leiten,
    und macht so lang schon Gutes schlecht,
    doch ich werd' aus den Fesseln gleiten:
    Ich geb ihm einfach nicht mehr Recht!
    Das Heldentum ist mir nicht eigen,
    doch manchmal packt mich eine Kraft,
    will mir die eine Route zeigen,
    die mich führt zu alter Macht.
    Mit meiner, dieser großen Waffe,
    gelingt, was oft unmöglich ist.
    Ich weiß, dass ich es endlich schaffe
    Dem Leiden nun ein Ende ist!
    Dieses Schwert lebt schon sehr lange
    und umgibt mein ganzes Tun
    Und wenn ich um so vieles bange,
    scheint es gegen Furcht immun.
    Das Seil an dem ich mich festhalte,
    das mich aus tiefer Angst befreit.
    Es hat einen besond'ren Namen:
    Liebe und Beständigkeit
    Liebe kann so vieles geben,
    und gibt manchmal mir Kriegermut,
    Beständigkeit kann Kräfte leiten,
    ich glaube dran: es wird bald gut.
    Ich frag mich, wohin alles führt,
    bewaffnet geh ich in die Kriege.
    Doch eines, was mein Herz berührt:
    Ich weiß, dass ich die Angst besiege!
    (Jürgen Rauscher, Jahrgang 1998, Thema: Neue Waffen alter Helden)
    [auf dem bahndamm]
    auf dem bahndamm hinterm haus ziehen züge überland
    bringen ratternd diesen ort ins wanken lassen einen leichten wind
    zurück der die scheiben klirren lässt. bist du noch da? fragt mutter
    und tastet nach dir. und hier sind die gepackten koffer
    und die fremde hinterm hauptbahnhof. wenn ich bleibe
    kommst du dann zurück? aber du bist längst ein rattern
    hinterm haus als mutter ihre koffer packt und in die andre richtung fährt.
    draußen ziehen die septembervögel knapp der hitze hinterher
    heimwehkrank nach einem heim das niemand kennt.
    (Ansgar Riedißer, Jahrgang 1998, Thema: Vielleicht ist Heimat …)
    Fischer
    Manchmal liebkost dein glattes Leben
    meinen Arm gleich einer Angelschnur
    an ihr baumeln stumm die Schemen
    deines Erfolgs in zartblauer Gravur
    Ich würde sie gerne ein wenig betrachten
    staunen, mich freuen, mit dir genießen
    doch ich erwarte gierig eigne Frachten
    um meinen Ruhm in Form zu gießen
    Darüber entgeht mir das schwache Zittern
    wenn sich bei dir ein Hai verfängt
    wenn du kämpfst, später auch verbitterst
    und mein Autismus das Wir erhenkt
    Verzeih mir doch, ich bin kein Fischer
    bin nur einer, der vom Träumen lebt
    ich fange eine Perle und bin sicher
    das ist deine Träne, die dort klebt
    Meine Netze bleiben knittrig liegen
    die Binsen wachsen schon hindurch
    dann sehe ich eine Möwe fliegen
    und wende mich, doch du bist fort
    Das denke ich zumindest leise
    während wir dort beim Fischen sind
    wir warten auf recht verschiedene Weise
    und dazu weht ein atlantischer Wind
    (Moritz Schlenstedt, Jahrgang 1996, Thema: Kampf um den Ruhm)
    o.T.
    gemeinsam
    sitzen wir
    im waggon
    der u-bahn
    es spielt andere musik in
    jedem kopf
    hörer
    es leuchten andere farben auf
    jedem bild
    schirm
    alle kommunizieren aber
    nicht miteinander
    jeder mit einer anderen
    freundin aber
    nicht hier
    die wohnt doch in amerika
    let's keep in touch
    on the screen
    talk face to face
    book
    abgekapselt
    nicke ich mit dem kopf
    im rhythmus meiner musik
    abgeschirmt
    schreibe ich gefällt mir
    unter ein bild von emely
    ich höre die schreie nicht
    ich sehe nicht was um mich geschieht
    gemein und einsam
    sitzen wir
    abgekoppelt
    im waggon
    der u-bahn
    endstation
    gesellschaftliche isolation.
    (Aaron Schmidt-Riese, Jahrgang 1995, Thema: Gefangenschaft – Isolation – Zersetzung)
    er presse freiheit
    mama, wer ist der mann
    auf dem bild?
    ein fremdes lachen, ein kuss, augenblick-
    lich lichtet sich die wohnung, das grinsen
    beschallt den raum und verhallt. ach der,
    mein kind, ist wen ich im traum
    vor mir stehen sehe.
    mama, wo ist der mann
    in diesem moment?
    er, mein kind
    ist längst nicht mehr hier.
    er sitzt zwischen vier wänden
    aus reißfestem papier –
    der einstige schreiber
    erstickt am eigenen wort.
    mama, was hat der mann
    schlimmes gemacht?
    die wahrheit gesagt und den funken entfacht,
    doch damit, mein kind, hat er eines tages
    ein lügendes system gegen sich aufgebracht.
    mama, wann kommt der mann
    wieder frei?
    dein papa
    ist eingesperrt zu ihrem gefallen,
    doch kommt er wieder, mein kind, wenn die
    anderen fallen.
    ich spüre verschwommene hoffnung
    morgens im licht
    - die presse beugt sich lügen nicht.
    (Jing Wu, Jahrgang 1995, Thema: Unpolitische Lieder?!?)