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Bunte Immigrantentruppen

Das Abendland hört nicht auf, seine Verächter hervorzubringen. Und eine der Varianten, in denen sich diese Verachtung auslebt, ist die Sehnsucht nach Fremde. Von der Fremde träumt der Zivilisationsmüde als von einen Ort, in dem man sich neu erfinden könnte, die Identität wechseln. Nicht wenige sind aufgebrochen, um dem Sirenengesang der Fremde zu folgen - und haben manchmal kaum mehr entdeckt als ihre eigene Fremde. Von solchen Leuten handelt das Buch der österreichischen Autorin Doris Byer. Sie ist Kulturanthropolgin, und schon in früheren Büchern hat sie erkundet, was mit dem weißen Mann passiert, wenn er in der Fremde auftaucht. Für ihre jüngste Arbeit hat sie sich einige Jahre in einer marokkanischen Hafenstadt am Atlantik niedergelassen: Essaouira.

Von Walter van Rossum | 03.09.2004
    Essaouira wurde im 18. Jahrhundert gegründet. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war Essaouira eine der wichtigsten Hafenstädte Marokkos. Hier wurden alle Handelswaren aus dem subsaharischen Afrika, von Timbouktou über Marrakesh, nach Europa verschifft. Insofern ist der Stadt der Umgang mit Fremden durchaus vertraut. Seit einigen Jahrzehnten haben sich in
    Essaouira Europäer und sogar einige Amerikaner niedergelassen. Und mit dieser durchaus bunten Spezies von Immigranten hat sich Doris Byer intensiv beschäftigt.

    Nun sollte man allerdings nicht glauben, dass Doris Byer eine wissenschaftliche Monographie über eine winzige Minderheit an einem weithin unbekannten Ort verfasst habe. Die große Leistung dieses Buches besteht darin, dass es am konkreten Beispiel eine Abhandlung über die Wahrnehmung von Fremde schlechthin geworden ist - und über unser Vermögen damit
    umzugehen. Dabei verzichtet Doris Byer völlig auf jeden Wissenschaftsjargon, stattdessen erzählt sie in beseelter und feiner Prosa von den unter-schiedlichen Erfahrungen der Immigranten, mit denen sie sehr ausführliche Gespräche über längere Zeiträume geführt hat.

    Zum Beispiel wären da jene Franzosen zu nennen, die in Essaouira geboren wurden, als Marokko noch französisches Protektorat war, und deren Familien 1956, als Marokko unabhängig wurde, das Land verließen. Das sind die Geschichten der Heimkehrer. Zu denen, die in letzter Zeit
    zurückgekehrt sind, gehören auch viele Juden. Noch Anfang des 20. Jahrhundert bestand fast 50% der Bevölkerung aus Juden. Die seit Jahren bewährte und friedliche Koexistenz von Arabern und Juden wurde erst mit der Gründung des Staates Israel problematischer. Seit den 50er Jahren kam es zu massiven Abwerbeversuchen der marokkanischen Juden durch den israelischen Geheimdienst und durch amerikanische und kanadische Wirtschaftsinteressen. Auch diese jüdische Re-Immigration in eine entrückte Heimat verläuft quer zu den religiösen, ethnischen und politischen Verwerfungen zwischen den Kulturen.

    Seit den 70er Jahren strömen verstärkt Künstler und Sinnsucher in die wunderschöne Stadt. Der Rockmusiker Jimmi Hendrix ist gerne in Essaouira untergetaucht. Das berühmt berüchtigte Living-Theatre aus New York fand hier ein Jahr lang Exil - nachdem die Gruppe aus England und Fankreich buchstäblich rausgeschmissen worden war. Dann kamen die Selbstfindungstruppen mit ihren diversen therapeutischen Gurus, und bald gesellten sich europäische Spekulanten dazu, die erkannten, dass man mit der Schönheit dieser Stadt und ihren billigen Arbeitskräften eine Menge Geld verdienen kann. In der Zwischenzeit ist noch der Sextourismus dazu gekommen, bei dem übrigens der weibliche Anteil eine immer größere Rolle spielt. Wenn man dabei bedenkt, dass es sich immerhin um ein islamisches Land handelt, das wenigstens zu Zeiten des 1999 verstorbenen Königs Hassan II. wenig zimperlich regiert wurde, dann kann man sich leicht das Ausmaß verwirrender Konflikte vorstellen, die in Essaouira an der Tagesordnung waren und sind.

    Doris Byer gelingt es auf wunderbare Weise diesen Tumult der Identitäten, der wechselseitigen Missverständnisse und die Dramen dieser Glückssuche zur Sprache zu bringen. Wie sie selbst schreibt sind die Protagonisten ihrer Geschichte nicht Objekte der Forschung, sondern "siegreiche oder scheiternde Helden eines Romans, in dem auch die Autorin selbst eine Rolle spielt".

    "Essaouira, endlich" ist kein praktischer Ratgeber für Emmigranten und Aussteiger, es ist eine aufregende Erkundung über unsere Träume vom besseren Leben in der Ferne. Doris Byer zieht keine Schlussfolgerungen aus ihren Ermittlungen. Doch wenn man genau liest, deutet sie eine Perspektive an: eine Art Plädoyer für die Brüche. Die "Black-Box der Fremde" funktioniert nicht als eine Phantasie vom Ankommen in der Folklore des vermeintlich heileren Lebens, sondern als Improvisation mit den Brüchen zwischen den Kulturen, Identitäten, Lebensformen. In gewisser Weise steht

    Doris Byer damit in der Tradition des großartigen amerikanischen Schriftstellers Paul Bowles, der nach dem Ende des 2. Weltkriegs eine Art Marokko-Pilgerschaft vieler und nicht nur amerikanischer Künstler ausgelöst hatte. Allerdings hatte Bowles in seinen Romanen und Erzählungen nicht gerade orientalische Märchen verbreitet, sondern ausschließlich den Schrecken und die Dunkelheit der Fremde beschworen: ein extrem heikles Paradies. Doch dem Abendland entkommt man nicht gratis.

    Doris Byer
    Essaouira, endlich
    Droschl Verlag, 312 S., EUR 22,-